Sherlock Holmes: Das Zeichen der Vier

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Ich mache keine Ausnahmen. Eine Ausnahme widerlegt die Regel. Hatten Sie je die Gelegenheit den Charakter eines Menschen aus seiner Handschrift abzulesen? Was halten Sie von dem Gekritzel dieses Burschen?“

„Sie ist leserlich und regelmäßig“, antwortete ich. „Ein Mann von geschäftsmäßigen Gewohnheiten und einem ziemlich starken Charakter.“

Holmes schüttelte den Kopf. „Sehen Sie sich seine hochgezogenen Buchstaben an“, sagte er. „Sie erheben sich kaum über den Rest. Das d könnte auch ein a sein, und das l ein e. Männer von Charakter schreiben die hohen Buchstaben immer ausgeprägt, wie unleserlich ihre Handschrift auch sein mag. In seinen ks ist eine Unschlüssigkeit, und in seinen Großbuchstaben Selbstwertgefühl. Ich gehe jetzt aus. Ich habe ein paar Dinge zu erledigen. Ich möchte Ihnen dieses Buch empfehlen, eines der bemerkenswertesten, die je verfasst wurden. Es ist Winwood Reades ‚Martyrdom of Man[1]‘. Ich werde in einer Stunde zurück sein.“

Ich saß am Fenster mit dem Buch in der Hand, aber meine Gedanken waren weit entfernt von den gewagten Spekulationen des Verfassers. Unser letzter Besuch ging mir durch den Kopf – ihr Lächeln, die tiefen reichen Töne ihrer Stimme, das seltsame Geheimnis, das ihr Leben überschattete. Wenn sie zu der Zeit, als ihr Vater verschwand, siebzehn war, müsste sie jetzt siebenundzwanzig sein, ein süßes Alter, in dem die Jugend ihre Befangenheit verloren hat und ein wenig besonnener durch die Erfahrung geworden war. So saß ich und sann vor mich hin, bis gefährliche Gedanken mir in den Sinn kamen, so dass ich zu meinem Schreibtisch eilte und mich eifrig in die neueste Abhandlung über Pathologie vertiefte. Wer war ich denn, ein Armeearzt mit einem kraftlosen Bein und einem noch armseligeren Bankkonto, dass ich es wagen konnte, an so etwas denken? Sie war eine Größe, ein Faktor – nichts weiter. Wenn meine Zukunftsaussichten düster waren, so wäre es mit Sicherheit besser sich ihr wie ein Mann zu stellen, als zu versuchen, sie durch die Irrlichter der Vorstellungskraft zu erhellen.

KAPITEL III AUF DER SUCHE NACH EINER LÖSUNG

Es war halb sechs als Holmes zurückkehrte. Er war strahlend, aufgeräumt und bester Laune, eine Stimmung, die sich bei ihm mit Anfällen tiefster Depression abwechselte.

„In dieser Sache gibt es kein großes Geheimnis“, sagte er und griff nach der Tasse Tee, die ich ihm eingegossen hatte. „Die Gegebenheiten scheinen nur eine einzige Erklärung zuzulassen.“

„Was! Sie haben es bereits gelöst?“

„Nun, das wäre zu viel gesagt. Ich habe eine andeutungsvolle Tatsache entdeckt. Sie ist jedoch sehr andeutungsvoll. Die Details fehlen jedoch noch. Ich habe herausgefunden, als ich die zurückliegenden Ausgaben der Times durchsah, dass Major Sholto von Upper Norwood, ehemals von der 34. Bombay Infanterie, am 28. April 1882 verstarb.“

„Ich bin vielleicht recht begriffsstutzig, Holmes, aber ich begreife nicht, was dadurch angedeutet wird.“

„Nicht? Sie überraschen mich. Betrachten Sie es einmal auf diese Weise. Captain Morstan verschwindet. Die einzige Person, die er in London aufgesucht haben könnte, war Major Sholto. Major Sholto leugnet, davon gehört zu haben, dass sich Morstan in London aufhielt. Vier Jahre später stirbt Sholto. Innerhalb einer Woche nach seinem Tod erhält Captain Morstans Tochter ein wertvolles Präsent, was sich Jahr für Jahr wiederholt, und nun in einem Brief gipfelt, der sie als eine Frau beschreibt, der Unrecht widerfahren ist. Welches Unrecht kann damit gemeint sein, außer dass sie ihres Vaters beraubt wurde? Und wieso beginnen kurz nach dem Tod von Sholto die Geschenke, außer der Erbe von Sholto weiß etwas von dem Geheimnis und wünscht eine Wiedergutmachung? Haben Sie eine andere Theorie, die zu den Tatsachen passt?

„Aber was für eine seltsame Wiedergutmachung! Und wie merkwürdig sie dargebracht wird! Wieso sollte er jetzt einen Brief schreiben, anstatt vor sechs Jahren? Der Brief wiederum spricht davon, ihr Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen. Welche Gerechtigkeit ist hier gemeint? Es ist doch nicht anzunehmen, dass ihr Vater noch am Leben ist. Eine andere Ungerechtigkeit gibt es in diesem Fall nicht.“

„Es gibt Unverständlichkeiten, gewisse Ungereimtheiten“, sagte Sherlock Holmes nachdenklich. „Aber unsere Unternehmung heute Abend wird alle lösen. Ah, da ist die Droschke mit Miss Morstan. Sind Sie fertig? Dann sollten wir besser hinuntergehen, denn es ist schon spät.“

Ich nahm meinen Hut und schwersten Stock, doch wie ich sah, nahm Holmes einen Revolver aus der Schublade und ließ ihn in seine Tasche gleiten. Es war klar, dass er unsere abendliche Arbeit als etwas Ernsthaftes betrachtete.

Miss Morstan war in einen dunklen Umhang gehüllt, und ihr empfindsames Gesicht war gefasst, aber bleich. Sie wäre keine Frau gewesen, hätte sie sich wegen des bevorstehenden Unternehmens, in das wir uns stürzten, nicht unwohl gefühlt, doch ihre Selbstbeherrschung war perfekt und sie beantwortete bereitwillig ein paar zusätzliche Fragen, die ihr Sherlock Holmes stellte.

„Major Sholto war ein sehr enger Freund meines Vaters“, sagte sie. „Seine Briefe waren voller Anspielungen auf den Major. Er und mein Vater hatten die Befehlsgewalt über die Truppen auf den Andamanen, was sie sehr zusammengeschweißt hat. Ach übrigens, ich habe ein seltsames Dokument in Papas Schreibtisch gefunden, dass keiner bislang verstehen konnte. Ich nehme an, dass es nicht die geringste Bedeutung hat, aber ich dachte, Sie würden es sehen wollen, weshalb ich es mitgebracht habe. Hier ist es.“

Holmes faltete sorgfältig das Dokument auseinander und glättete es auf seinem Knie. Dann untersuchte er es von oben bis unten sehr methodisch mit seiner Doppellinse.

„Dieses Papier stammt aus einer indischen Mühle“, bemerkte er. „Es war einige Zeit an einem Brett angeheftet. Das Diagramm darauf scheint der Plan eines Teils eines großen Gebäudes mit zahlreichen Hallen, Korridoren und Durchgängen zu sein. An einem Punkt ist ein kleines Kreuz mit roter Tinte und darüber steht ‚3,37 von links‘ in verblasster Bleistiftschrift. In der linken Ecke befindet sich eine seltsame Hieroglyphe, die wie vier Kreuze in einer Reihe, deren Enden sich berühren, aussieht. Daneben ist in sehr holprigen und groben Buchstaben ‚Das Zeichen der Vier – Jonathan Small, Mahomet Singh, Abdullah Khan, Dost Akbar‘ geschrieben. Ich muss gestehen, dass ich hier wirklich keinen Zusammenhang mit Ihrem Fall erkennen kann. Dennoch ist es offensichtlich ein Dokument von Bedeutung. Es wurde sorgfältig in einer Brieftasche aufbewahrt, denn eine Seite ist so sauber wie die andere.“

„Wir fanden es in seiner Brieftasche.“

„Heben Sie es sorgfältig auf, Miss Morstan, denn es könnte von Nutzen für uns sein. Ich vermute allmählich, dass sich diese Angelegenheit als wesentlich tiefgründiger und subtiler herausstellt, als ich zuerst annahm. Ich muss meine Überlegungen überdenken.“ Er lehnte sich in der Droschke zurück und ich konnte an seinen zusammengezogenen Brauen und seinem leeren Blick erkennen, dass er angestrengt nachdachte. Miss Morstan und ich plauderten leise über unsere gegenwärtige Unternehmung und deren möglichen Ausgang, doch unser Gefährte behielt seine undurchdringliche Reserviertheit bei, bis wir unsere Fahrt beendet hatten.

Es war ein Septemberabend und noch nicht einmal sieben Uhr, aber der Tag war düster gewesen und ein dichter nieselnder Nebel lag über der großen Stadt. Schmutziggraue Wolken hingen traurig über den schlammigen Straßen. Die Laternen entlang The Strand waren nichts als dunstige Flecken verschwommenen Lichts, das einen schwachen runden Schimmer auf die schmierige Straße warf. Das gelbe grelle Licht aus den Schaufenstern ergoss sich in die dunstige, dampfige Luft und warf einen schmutzigen, wechselnden Glanz auf die überfüllte Verkehrsstraße. In meinen Augen hatte die endlose Prozession von Gesichtern, die durch diese schmalen Lichtstrahlen huschten, etwas Unheimliches und Geisterhaftes, traurige Gesichter und frohe, ausgezehrte und vergnügte. Wie alle menschlichen Wesen huschten sie aus der Dunkelheit ins Licht, und dann wieder zurück in die Finsternis. Ich bin nicht leicht zu beeindrucken, aber der graue bedrückende Abend, noch dazu in Verbindung mit dem seltsamen Vorhaben, auf das wir uns eingelassen hatten, machten mich nervös und niedergeschlagen. Ich konnte an Miss Morstans Verhalten erkennen, dass sie unter den gleichen Empfindungen litt. Nur Holmes konnte sich über solch belanglose Einflüsse erheben. Er hielt sein aufgeschlagenes Notizbuch auf seinen Knien und von Zeit zu Zeit warf er Zahlen und Notizen im Schein seiner Taschenlampe aufs Papier.

Am Lyceum Theatre drängten sich an den Seiteneingängen bereits die Menschenmassen. Vor dem Theater fuhren ratternd in unaufhörlicher Folge Einspänner und Droschken vor, und entluden ihre Fracht an befrackten Männern und Damen mit Stolen und Diamanten. Wir hatten noch kaum die dritte Säule erreicht, an der unser Treffen stattfinden sollte, als ein kleiner dunkler lebhafter Mann im Gewand eines Droschkenkutschers uns ansprach.

„Sind Sie die Begleitung von Miss Morstan?“ fragte er.

„Ich bin Miss Morstan und diese beiden Herren sind meine Freunde“, sagte sie.

Er richtete seine unglaublich durchdringenden und fragenden Augen auf uns. „Sie werden mich entschuldigen, Miss“, sagte er mit einer bestimmten Beharrlichkeit, „aber ich soll Sie bitten mir Ihr Wort darauf zu geben, dass keiner Ihrer Begleiter ein Polizeibeamter ist.“


„Ich gebe Ihnen mein Wort darauf“, antwortete sie.

 

Er stieß einen schrillen Pfiff aus, woraufhin ein Straßenjunge eine Droschke heranführte und die Tür öffnete. Der Mann, der uns angesprochen hatte, stieg auf den Kutschbock und wir nahmen drinnen Platz. Kaum saßen wir, als der Kutscher auf sein Pferd einpeitschte und wir durch die nebligen Straßen in einem Höllentempo davonrasten.

Die Situation war merkwürdig. Wir wurden zu einem unbekannten Ort mit einem unbekannten Auftrag gefahren. Entweder war unsere Einladung ein absoluter Schwindel – was eine unvorstellbare Hypothese war – oder wir hatten guten Grund zu der Annahme, dass wichtige Sachverhalte unsere Fahrt veranlasst hatten. Miss Morstans Verhalten war so resolut und gefasst wie immer. Ich bemühte mich sie mit meinen Erinnerungen an Afghanistan zu unterhalten und aufzuheitern, aber um die Wahrheit zu sagen, war ich selbst durch unsere Lage so aufgeregt und wegen unseres Zieles so neugierig, dass meine Geschichten etwas verdreht wurden. Bis heute behauptet sie, ich hätte ihr eine bewegende Schnurre von einer Flinte erzählt, die mitten in der Nacht in mein Zelt sah, woraufhin ich eine Salve aus einem doppelläufigen Tigerbaby abfeuerte. Zuerst hatte ich noch eine ungefähre Vorstellung von der Richtung, in die wir fuhren, aber bald schon verlor ich aufgrund unseres Tempos, des Nebels und meiner begrenzten Kenntnis Londons die Orientierung und wusste nichts, außer dass wir eine sehr lange Strecke fuhren. Sherlock Holmes war sich jedoch stets sicher und er murmelte die Namen, als die Droschke über die Plätze und durch die gewundenen Nebenstraßen fuhr.

„Rochester Row“, sagte er. „Jetzt Vincent Square. Und jetzt kommen wir zur Vauxhall Bridge Road. Wir sind offensichtlich auf dem Weg nach Surrey. Ja, dachte ich mir. Jetzt sind wir auf der Brücke. Sie können einen Blick auf den Fluss werfen.“

Wir konnten tatsächlich einen flüchtigen Blick auf einen Abschnitt der Themse werfen, auf deren breite stille Wasser die Laternen schienen. Aber unsere Droschke preschte weiter und wir fanden uns alsbald in einem Straßenlabyrinth auf der anderen Seite wieder.

„Wandsworth Road“, sagte mein Gefährte. „Priory Road. Larkhall Lane. Stockwell Place. Robert Street. Coldharbour Lane. Unsere Suche scheint uns nicht gerade durch die feinsten Viertel zu führen.

Wir hatten in der Tat eine sehr fragwürdige und abstoßende Gegend erreicht. Lange Reihen trister Backsteinhäuser wurden nur durch die grellen Lichter und den billigen Glanz der Schankwirtschaften an der Ecke unterbrochen. Dann kamen Reihen zweistöckiger Einfamilienhäuser, jedes mit einem winzigen Vorgarten, und dann wiederum unendliche Reihen neuer starrer Backsteingebäude, Monstertentakel, die die riesige Stadt auf das Land hinauswarf. Schließlich hielt die Droschke vor dem dritten Haus einer neuen Häuserreihe. Keines der anderen Häuser war bewohnt, und das, vor dem wir anhielten, war so dunkel wie die daneben liegenden, mit Ausnahme eines einzigen Schimmers im Küchenfenster. Auf unser Klopfen wurde jedoch die Tür sofort von einem Hindu-Diener geöffnet, der in weiße lockere Gewänder mit einem gelben Turban und einer gelben Schärpe gekleidet war. Seine orientalische Gestalt, die von einem normalen Eingang eines drittklassigen Vorstadthauses gerahmt wurde, hatte etwas seltsam Unvereinbares an sich.

„Der Sahib erwartet Sie“, sagte er und während er sprach, ertönte aus einem der Zimmer eine hohe pfeifende Stimme. „Führe sie zu mir herein, Khitmutgar[2]“ rief die Stimme. „Führe sie direkt zu mir.“

KAPITEL IV DIE GESCHICHTE DES KAHLKÖPFIGEN MANNES

Wir folgten dem Inder einen schäbigen und gewöhnlichen Flur hinunter, schlecht beleuchtet und noch schlechter möbliert, bis er zu einer Tür auf der rechten Seite kam, die er öffnete. Ein leuchtendes gelbes Licht ergoss sich auf uns und inmitten des blendenden Lichts stand ein kleiner Mann mit einem sehr hohen Schädel, von einem Büschel roter Haare umkränzt und mit einer kahlen, glänzenden Kopfhaut, die wie ein Berggipfel aus Fichtenwäldern hervorstach. Er wrang die Hände, wie er so dastand, und seine Züge waren in einer ständigen ruckartigen Bewegung, mal lächelnd, mal mürrisch, doch nicht einen Moment in Ruhe. Die Natur hatte ihn mit einer hängenden Lippe, einer deutlich sichtbaren Reihe gelber und unregelmäßiger Zähne ausgestattet, die er kraftlos zu verdecken suchte, indem er ständig mit seiner Hand über den unteren Teil seines Gesichtes fuhr. Trotz seiner auffälligen Kahlheit vermittelte er den Eindruck von Jugend. Tatsächlich war er gerade mal dreißig.

„Zu Diensten, Miss Morstan“, wiederholte er mit einer dünnen, hohen Stimme. „Zu Diensten, meine Herren. Darf ich Sie in mein kleines Heiligtum bitten. Ein kleiner Ort, Miss, aber nach meinem Geschmack eingerichtet. Eine Oase der Kunst in der heulenden Wüste von Süd-London.“

Wir waren alle über das Erscheinungsbild der Wohnung, in die er uns einlud, erstaunt. In diesem schäbigen Haus war sie wie ein Diamant erster Güte in einer Fassung aus Messing. Die üppigsten und glänzendsten Vorhänge und Tapisserien bedeckten die Wände, hie und da zurückgeschlagen, um den Blick auf ein prächtig gerahmtes Gemälde oder eine orientalische Vase freizugeben. Der Teppich war bernsteinfarben und schwarz, so weich und dick, dass der Fuß so angenehm wie in einem Bett aus Moos versank. Zwei große Tigerfelle, die quer darüber geworfen waren, erhöhten den Eindruck von östlichem Luxus wie auch eine riesige Wasserpfeife, die auf einer Matte in der Ecke stand. Eine silberne Lampe in Form einer Taube hing von einem fast unsichtbaren goldenen Draht in der Mitte des Raums. Da sie angezündet war, füllte sie die Luft mit einem zarten und wohlriechenden Duft.

„Mr. Thaddeus Sholto“, sagte der kleine Mann, immer zuckend und lächelnd. „So heiße ich. Sie sind natürlich Miss Morstan. Und diese beiden Herren…“

„Das ist Mr. Sherlock Holmes und das Dr. Watson.“

„Ein Arzt?“ rief er ganz aufgeregt. „Haben Sie Ihr Stethoskop dabei? Dürfte ich Sie bitten – hätten Sie vielleicht die Güte? Ich mache mir ernsthafte Sorgen um meine Mitralklappe, wenn Sie so gut wären. Auf die Aortenklappe kann ich mich verlassen, doch würde ich Ihre Meinung zu der Mitralklappe schätzen.“

Ich hörte sein Herz wie gebeten ab, konnte aber nichts Anomales finden, außer dass er sich in einem Angstzustand befand, denn er zitterte von Kopf bis Fuß. „Scheint normal zu sein“, sagte ich. „Sie haben keinen Grund zu Beunruhigung.“


„Sie werden meine Besorgnis entschuldigen, Miss Morstan“, bemerkte er leichthin. „Ich bin stark leidend und hatte schon lange diese Herzklappe im Verdacht. Doch ich bin erfreut zu hören, dass er unbegründet war. Hätte Ihr Vater, Miss Morstan, seinem Herzen nicht so viel zugemutet, könnte er heute vielleicht noch leben.“

Am liebsten hätte ich den Mann geohrfeigt, so erzürnt war ich über seine herzlose und unüberlegte Bemerkung in einer so delikaten Angelegenheit. Miss Morstan setzte sich und ihr Gesicht wurde weiß bis in die Lippen. „In meinem Herzen wusste ich, dass er tot ist“, sagte sie.

„Ich kann Ihnen alle Informationen liefern“, sagte er, „und mehr noch, ich kann dafür sorgen, dass Ihnen Gerechtigkeit widerfährt, und das werde ich, ganz gleich, was Bruder Bartholomew sagen wird. Ich bin so froh Ihre Freunde bei mir zu haben, nicht nur als Ihr Geleitschutz, sondern auch als Zeugen dessen, was ich zu tun und zu sagen gedenke. Drei von uns können Bruder Bartholomew die Stirn bieten. Aber wir wollen keine Außenstehenden, keine Polizei oder Beamte. Wir können alles unter uns zufriedenstellend regeln, ohne jegliche Einmischung. Nichts würde Bruder Bartholomew mehr verärgern als irgendeine Öffentlichkeit.“ Er setzte sich auf eine niedrige Polsterbank und blinzelte uns fragend mit seinen schwachen, wasserblauen Augen an.

„Was mich angeht“, sagte Holmes, „ganz gleich, was Sie sagen werden, werde ich nichts weitergeben.“

Ich nickte, um mein Einverständnis anzuzeigen.

„Das ist gut! Das ist gut!“ sagte er. „Darf ich Ihnen ein Glass Chianti anbieten, Miss Morstan? Oder Tokajer? Ich habe keine anderen Weine. Soll ich eine Flasche öffnen? Nein? Nun, ich hoffe, Sie werden nichts gegen Tabakrauch einzuwenden haben, den milden balsamischen Duft östlichen Tabaks. Ich bin ein wenig nervös und finde, dass meine Wasserpfeife ein unschätzbares Beruhigungsmittel ist.“

Er stellte eine dünne Wachskerze in die große Schale und der Rauch blubberte fröhlich durch das Rosenwasser. Wir drei saßen in einem Halbkreis, die Köpfe nach vorn geneigt, das Kinn auf die Hand gestützt, während der seltsame zappelige kleine Kerl mit seinem hohen glänzenden Kopf besorgt in unserer Mitte paffte.

„Als ich mich entschloss, mit Ihnen in Verbindung zu treten“, sagte er, „hätte ich meine Adresse angeben sollen, aber ich fürchtete, Sie könnten meine Bitte missachten und unangenehme Leute mitbringen. Ich nahm mir deshalb die Freiheit eine Verabredung zu treffen, bei der mein Mann Williams Sie zuerst treffen konnte. Ich vertraue seiner Diskretion voll und ganz und er hatte Anweisung, dass, falls er nicht zufrieden sei, in dieser Angelegenheit nicht weiter zu verfahren habe. Sie werden diese Vorsichtsmaßnahmen entschuldigen, aber ich bin ein zurückgezogen lebender Mann mit, man könnte sagen, einem besonderen Geschmack und es gibt nichts Unästhetischeres als einen Polizisten. Ich habe eine natürliche Abneigung gegen jede Form rohen Materialismus. Ich komme selten in Kontakt mit der groben Masse. Wie Sie sehen, umgebe ich mich mit der Atmosphäre einer gewissen Eleganz. Ich selbst würde mich als Kunstmäzen bezeichnen. Das ist meine Schwäche. Das Landschaftsgemälde ist ein echter Corot, und obgleich ein Kunstkenner an diesem Salvator Rosa vielleicht zweifeln mag, steht der Bougereau außer Frage. Ich habe eine Vorliebe für die moderne französische Schule.“

„Sie werden mich entschuldigen, Mr. Sholto“, sagte Miss Morstan, „aber ich bin auf Ihre Bitte hier, um etwas zu erfahren, das Sie mir mitteilen wollten. Es ist schon sehr spät und ich möchte die Unterhaltung so kurz wie möglich halten.“

„Es wird auf jeden Fall einige Zeit in Anspruch nehmen“, erwiderte er, „denn wir müssen sicherlich nach Norwood fahren, um Bruder Bartholomew zu treffen. Wir werden alle gemeinsam fahren und sehen, ob Bruder Bartholomew in guter Laune ist. Er hat sich sehr über mich geärgert, weil ich den Weg eingeschlagen habe, der mir richtig erschien. Ich hatte letzte Nacht einen heftigen Streit mit ihm. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein schrecklicher Kerl er sein kann, wenn er wütend ist.“

„Wenn wir nach Norwood fahren wollen, dann sollten wir am besten gleich aufbrechen“, wagte ich einzuwerfen.

Er lachte, bis seine Ohren ganz rot wurden. „Das wird kaum möglich sein“, rief er. „Ich weiß nicht, was er sagen würde, wenn ich Sie so unerwartet zu ihm bringe. Nein, ich muss Ihnen erst erklären, in welchem Verhältnis wir alle zueinander stehen. Zuerst muss ich Ihnen mitteilen, dass es verschiedene Punkte in der Geschichte gibt, die ich selbst nichts weiß. Ich kann Ihnen nur die Gegebenheiten vorlegen, über die ich selbst Bescheid weiß.

„Mein Vater war, wie Sie schon erraten haben, Major John Sholto, der einst der indischen Armee angehörte. Er schied vor elf Jahren aus dem Dienst aus und ließ sich in Pondicherry Lodge in Upper Norwood nieder. Er hatte in Indien sein Glück gemacht und brachte eine beträchtliche Summe Geldes mit, eine große Sammlung wertvoller Raritäten sowie indisches Personal. Mit diesen Vorzügen ausgestattet, erwarb er ein Haus und lebte in großem Luxus. Mein Zwillingsbruder Bartholomew und ich waren die einzigen Kinder.

„Ich erinnere mich noch gut an die Aufregung, die durch das Verschwinden von Captain Morstan ausgelöst wurde. Wir hatten die Einzelheiten darüber in den Zeitungen gelesen und da wir wussten, dass er ein Freund unseres Vaters war, diesen Fall offen vor ihm erörtert. Er schloss sich unseren Vermutungen an, was den Hergang betraf. Nicht einen Augenblick zweifelten wir daran, dass er das Geheimnis in seinem Herzen trug, dass von allen Menschen nur er das Schicksal von Arthur Morstan kennen konnte.

„Wir wussten jedoch, dass ein Geheimnis, eine bestimmte Gefahr, über unserem Vater schwebte. Er war sehr ängstlich allein auszugehen und verdingte immer zwei Berufsboxer, die als Pförtner in Pondicherry Lodge arbeiteten. Williams, der Sie heute hierher fuhr, war einer von ihnen. Er war einmal Leichtgewichtmeister von England. Unser Vater hätte uns niemals anvertraut, was er fürchtete, aber er hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen Männer mit Holzbeinen. Bei einer Gelegenheit feuerte er seinen Revolver tatsächlich auf einen Mann mit einem Holzbein ab, der sich als harmloser Händler auf Kundensuche herausstellte. Wir mussten eine große Summe bezahlen, um die Sache zu vertuschen. Mein Bruder und ich dachten, dass dies eine bloße Laune unseres Vaters sei, aber die Ereignisse haben uns eines besseren belehrt.

 

„Anfang 1882 erhielt mein Vater einen Brief aus Indien, der für ihn ein großer Schock war. Als er den Brief beim Frühstück öffnete, fiel er beinahe in Ohnmacht und von dem Tage an kränkelte er bis zu seinem Tode. Was in dem Brief stand, konnten wir nie erfahren, aber ich konnte, als er ihn in der Hand hielt, erkennen, dass er kurz und in einer krakeligen Schrift verfasst war. Er hatte jahrelang an einer vergrößerten Milz gelitten, doch dann verschlimmerte sich sein Zustand zusehends und Ende April wurde uns mitgeteilt, dass es keine Hoffnung mehr für ihn gebe, und er eine letzte Unterredung mit uns zu führen wünsche.

„Als wir sein Zimmer betraten, lag er, gestützt von Kissen, in seinem Bett und atmete schwer. Er ersuchte uns die Tür abzuschließen und neben sein Bett zu treten. Dann ergriff er unsere Hände, und mit einer vor Gefühlen und Schmerz gebrochenen Stimme eröffnete er uns ein bemerkenswertes Geständnis. Ich werde versuchen es mit seinen eigenen Worten wiederzugeben.

‚Es gibt nur eine Sache‘, sagte er, ‚die mir in diesem Augenblick noch schwer auf der Seele liegt. Es ist die Art, wie ich Morstans Waise behandelt habe. Die verfluchte Habgier, die mein Leben lang meine Sünde war, hielt mich davon ab ihr den Schatz zu geben, der ihr zumindest zur Hälfte gehören sollte. Und obwohl ich selbst keinen Gebrauch davon gemacht habe – so blind und dumm ist der Geiz. Mir war allein das Gefühl des Besitzes so teuer, dass ich es nicht ertragen konnte, mit jemandem zu teilen. Seht ihr den Perlenkranz neben der Chininflasche. Obwohl ich es nicht ertragen konnte ihn mit ihr zu teilen, hatte ich ihn mitgebracht in der Absicht ihn ihr zu schicken. Ihr, meine Söhne werdet ihr einen angemessenen Anteil am Agra-Schatz geben. Aber schickt ihr nichts, nicht einmal den Perlenkranz, bis ich gegangen bin. Schließlich ging es anderen schon genauso schlecht und sie haben sich wieder erholt.“

‚Ich werde euch erzählen, wie Morstan starb‘, fuhr er fort. ‚Er litt seit Jahren an einem schwachen Herzen, aber er verbarg es vor jedem. Ich allein wusste darum. Als er und ich in Indien waren, kamen wir durch die Verkettung von besonderen Umständen in den Besitz eines ansehnlichen Schatzes. Ich brachte ihn nach England und an dem Abend, an dem Morstan ankam, ging er schnurstracks zu mir, um seinen Anteil zu verlangen. Er kam direkt vom Bahnhof und mein treuer Bursche Lal Chowdar, der jetzt tot ist, ließ ihn ein. Morstan und ich hatten, was die Teilung des Schatzes betraf, unterschiedliche Ansichten und es kam zu hitzigen Worten. Morstan war in einem Wutanfall von seinem Stuhl aufgesprungen, als er sich plötzlich die Hand auf die Seite drückte, sein Gesicht sich dunkel färbte und er rückwärts umfiel, wobei sein Kopf auf die Kante der Schatzkiste aufschlug. Als ich mich über ihn beugte, war er zu meinem Entsetzen tot.

‚Lange Zeit saß ich da, halb verwirrt, halb nachdenklich, was ich tun sollte. Meine erste Eingebung war natürlich um Hilfe nachzusuchen, doch es wurde mir klar, dass man mich wahrscheinlich als seinen Mörder anklagen würde. Sein Tod während eines Streits und die klaffende Wunde an seinem Kopf würden gegen mich sprechen. Eine offizielle Untersuchung hingegen könnte nicht erfolgen, ohne dass Einzelheiten über den Schatz bekannt würden, den ich unter allen Umständen als ein Geheimnis wahren wollte. Er hatte mir gesagt, dass keine Menschenseele wüsste, wohin er gegangen war. Also erschien es auch nicht zwingend notwendig zu sein, dass jemand davon erfahren sollte.

‚Ich grübelte noch immer, und als ich aufsah, erblickte ich meinen eigenen Diener, Lal Chowder im Türrahmen. Er schlich ins Zimmer und verriegelte die Tür hinter sich. „Keine Angst, Sahib“, sagte er. „Niemand braucht zu erfahren, dass Sie ihn getötet haben. Wir werden ihn verstecken und wer sollte davon erfahren?“ „Ich habe ihn nicht getötet“, sagte ich. Lal Chowdar schüttelte den Kopf und lächelte. „Ich habe alles gehört, Sahib“, sagte er. „Ich hörte den Streit und den Schlag. Aber meine Lippen sind versiegelt. Alle im Haus schlafen. Wir wollen ihn gemeinsam wegschaffen.“ Das war für mich ausschlaggebend. Wenn mir mein eigener Diener nicht glaubte, wie sollten dann zwölf törichte Händler auf der Geschworenenbank an meine Unschuld glauben? Lal Chowder und ich schafften die Leiche des Nachts fort und nach wenigen Tagen waren die Londoner Zeitungen voll mit Berichten über das geheimnisvolle Verschwinden von Captain Morstan. Aus dem, was ich sagte, erkennt ihr, dass ich kaum Schuld trage. Mein Fehler war, dass ich nicht nur die Leiche verbarg, sondern mich auch an den Schatz und Morstans Anteil klammerte. Ich möchte deshalb, dass ihr das wiedergutmacht. Legt euer Ohr an meinen Mund. Der Schatz ist verborgen in…‘ In diesem Augenblick überkam eine schreckliche Veränderung seinen Gesichtsausdruck; seine Augen starrten wie wild, sein Unterkiefer fiel herab und er schrie gellend, mit einer Stimme, die ich nie vergessen werden, ‚Haltet ihn fern! Um Himmels willen, haltet ihn fern!‘ Wir starrten beide zum Fenster hinter uns, auf das sein Blick gerichtet war. Ein Gesicht blickte aus der Dunkelheit ins Zimmer. Wir konnten das Weiß der Nase erkennen, wo sie gegen die Scheibe gepresst war. Es war ein bärtiges behaartes Gesicht, mit wilden grausamen Augen und einem Ausdruck geballter Niedertracht. Mein Bruder und ich eilten zum Fenster, aber der Mann war fort. Als wir zu unserem Vater zurückkehrten, war sein Kopf herabgesunken und sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

„Wir suchten in dieser Nacht den Garten ab, fanden aber keinen Hinweis auf den Eindringling, mit Ausnahme eines einzigen Fußabdrucks, der im Blumenbeet, genau unter dem Fenster, zu sehen war. Ohne diese eine Spur hätten wir annehmen können, dass unsere Einbildung dieses wilde, böse Gesicht heraufbeschworen hatte. Wir bekamen doch schon bald einen anderen und schlagkräftigeren Beweis dafür, dass geheime Kräfte um uns am Werk waren. Am Morgen fand man das Fenster von Vaters Zimmer geöffnet vor, die Schränke und Schubladen waren durchwühlt und auf seiner Brust war ein abgerissenes Stück Papier befestigt, auf dem die Worte ‚Das Zeichen der Vier‘ gekritzelt waren. Was die Worte zu bedeuten hatten, noch wer unser geheimnisvoller Besucher war, erfuhren wir nie. Soweit wir es beurteilen konnten, war nichts aus dem Besitz meines Vaters gestohlen worden, auch wenn alles durchwühlt war. Mein Bruder und ich sahen in dem sonderlichen Vorfall eine Verbindung zu der Furcht, die meinen Vater während seines Lebens verfolgt hatte. Aber für uns ist das alles immer noch ein völliges Rätsel.“

Der kleine Mann hielt inne, um seine Wasserpfeife erneut anzuzünden und paffte gedankenverloren einige Minuten lang. Wir alle hatten gebannt dagesessen und seiner ungewöhnlichen Erzählung gelauscht. Bei der kurzen Beschreibung vom Tod ihres Vaters war Miss Morstan leichenblass geworden, und einen Augenblick lang fürchtete ich, sie könnte in Ohnmacht fallen. Sie sammelte sich jedoch wieder, nachdem sie ein Glas Wasser getrunken hatte, das ich ihr vorsichtig aus einer venezianischen Karaffe, die auf einem Beistelltisch stand, eingegossen hatte. Sherlock Holmes lehnte sich in seinem Stuhl mit einem geistesabwesenden Ausdruck und hängenden Lidern über seinen funkelnden Augen zurück. Als ich ihm einen Blick zuwarf, konnte ich mir kaum vorstellen, dass er sich heute bitterlich über das gewöhnliche Leben beklagt hatte. Hier lag zumindest ein Problem vor, das seinen Scharfsinn aufs höchste herausforderte. Mr. Thaddeus Sholto sah von einem zum anderen von uns, offensichtlich stolz auf die Wirkung, die seine Geschichte auf uns ausübte und fuhr dann zwischen zwei Zügen aus seiner übergroßen Pfeife mit der Erzählung fort.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?