Das Geheimnis von Cloomber-Hall

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Stumm vor Überraschung starrten wir eine Zeitlang die unerwartete Absage an; dann brachen Esther und ich, als uns die ganze Komik der Situation aufdämmerte, in ein unwiderstehliches Gelächter aus.



Nicht so mein Vater, der die beiden Ponys herumriß und mit zusammengekniffenen Lippen, eine Donnerwolke drohender Entrüstung auf seiner Stirn, nach Hause zurückjagte.



Ich habe den guten Mann nie so außer sich gesehen, bin aber überzeugt, daß sein Ärger nicht durch verletzte Eitelkeit verursacht war, sondern durch den Gedanken, daß in ihm, als dem Repräsentanten des Gutsherrn von Branksome, auch der letztere beleidigt sei.




Viertes Kapitel.



Wenn ich mich überhaupt durch die uns zuteil gewordene wenig formelle Absage beleidigt gefühlt hatte, so hielt diese Stimmung bei mir nicht lange vor. Schon am nächsten Tage hatte ich Gelegenheit, wieder am Schlosse vorbeizugehen, und blieb stehen, um mir das ominöse Schild noch einmal anzusehen.



Als ich noch so dastand und mir über die mutmaßlichen Beweggründe unseres Nachbarn den Kopf zerbrach, bemerkte ich plötzlich, daß zwei hübsche, jugendfrische Mädchenaugen durch das Staket lugten und eine kleine weiße Hand mir eifrig zuwinkte, doch näher zu treten. Als ich mich näherte, sah ich, daß es dieselbe junge Dame war, welche ich zum erstenmal vor einigen Tagen in dem Wagen des Generals gesehen hatte.



»Herr West,« flüsterte sie, sich ängstlich nach allen Seiten hin umblickend, »ich muß bei Ihnen Abbitte für die Ihnen und Ihrer Schwester zugefügte Beleidigung leisten. Mein Bruder war in der Allee und sah alles, fühlte sich aber außerstande, etwas zu tun. Ich kann Ihnen versichern, Herr West, daß, wenn Ihnen das greuliche Brett da ein Dorn im Auge ist, das bei meinem Bruder und mir in noch weit größerem Maße der Fall ist.«



»Aber, Fräulein Heatherstone,« entgegnete ich lachend, um sie zu beruhigen, »England ist ein freies Land, und wenn es einem Manne einfällt, sich von der Außenwelt abzuschließen, so kann ihn niemand daran hindern!«



»Es war einfach brutal!« rief sie jetzt aus, mit ihrem kleinen Fuße aufstampfend. »Und der Gedanke, daß auch Ihre Schwester in so unerhörter Weise mit beleidigt wurde! Ich möchte in den Erdboden sinken vor lauter Scham, wenn ich nur daran denke!«



»Aber ich bitte Sie, die Sache hat ja doch gar nichts weiter zu bedeuten!« sagte ich eindringlich. »Ihr Vater hat sicher seine guten Gründe für diesen Schritt gehabt!«



»Ja, die hat er, das weiß Gott im Himmel!« rief sie niedergeschlagen. »Und doch wäre es mannhafter, denke ich, der Gefahr entgegenzutreten, als davor zu fliehen. Aber das weiß er jedenfalls am besten, und wir können nicht darüber urteilen. – »Wer kommt da?« rief sie ganz plötzlich aus, angstvoll die dunkle Allee hinabblickend. »O, es ist nur mein Bruder Mordaunt,« fügte sie hinzu, als der junge Mann herankam. »Ich habe eben bei Herrn West Abbitte getan, in deinem sowohl wie in meinem Namen, für das, was sich hier gestern zutrug!«



»Es freut mich außerordentlich, daß ich es auch noch persönlich tun kann,« sagte er höflich. »Ich wünsche nur, Ihre Schwester und Ihren Vater ebenfalls sehen zu können, um ihnen zu versichern, wie leid mir die Geschichte tut. Bitte, gehen Sie noch nicht, Herr West, ich habe noch ein Wort mit Ihnen zu reden.«



Fräulein Heatherstone winkte mir freundlich lächelnd zu und eilte davon, während ihr Bruder das Tor öffnete, zu mir herauskam und das Eisengitter sorgfältig wieder von außen verschloß.



»Ich werde ein wenig mit Ihnen spazierengehen, wenn Sie nichts dagegen haben. Rauchen Sie?« Er entnahm seinem Etui zwei Zigarren und reichte mir eine davon. »Sie sind nicht übel,« meinte er, »ich wurde während meines Aufenthalts in Ostindien Tabakkenner. Haben Sie Feuer? Hoffentlich halte ich Sie nicht von Geschäften ab?«



»Durchaus nicht,« antwortete ich, »Ihre Gesellschaft ist mir im Gegenteil sehr willkommen!«



»Ich will Ihnen etwas sagen!« erwiderte mein Begleiter. »Dies ist das erstemal, daß ich über den Schloßpark hinausgekommen bin, solange wir hier sind.«



»Und Ihre Schwester?«



»Die ist auch noch nie draußen gewesen. Ich bin dem Alten heute entschlüpft, obwohl ich weiß, daß es ihm durchaus nicht recht sein würde, wenn er es wüßte. Es ist eine seiner Launen, daß wir hier ganz unter uns bleiben sollen. Wenigstens würden es die meisten Leute eine bloße Laune nennen. Ich selbst habe Ursache zu glauben, daß er für alles, was er tut, seine guten Gründe hat, obgleich er in diesem Fall vielleicht etwas zu streng ist.«



»Sie müssen es hier sehr einsam finden,« sagte ich. »Könnten Sie nicht dann und wann einmal zu uns herüberkommen? Das Haus dort drüben ist Branksome.«



»Sie sind wirklich sehr freundlich,« antwortete er mit leuchtenden Augen. »Ich wünsche nichts sehnlicher. Unseren alten Kutscher und den Gärtner Israel Stakes ausgenommen, gibt es hier keine Seele, mit der man sich unterhalten könnte.«



»Und Ihre Schwester? Für die muß es noch schlimmer sein!« sagte ich. Mir schien es nachgerade, als ob mein neuer Bekannter sich etwas zu viel über seinen eigenen Kummer und zu wenig über den seiner Schwester grämte.



»Freilich,« antwortete er gleichgültig, »die arme Gabriele leidet ja auch darunter, aber es ist doch für einen jungen Mann bei weitem unnatürlicher in dieser Weise eingemauert zu sein, als für ein Mädchen. Bedenken Sie doch! Ich werde im nächsten März dreiundzwanzig Jahre alt und habe nie eine Universität, ja nicht einmal eine Schule besucht. Ich bin gerade so unwissend, wie irgendeiner von diesen Klutentramplern hier herum. Es mag Ihnen sonderbar vorkommen, ist aber trotzdem der Fall. Glauben Sie nicht selbst, daß ich ein besseres Schicksal verdient hätte?«



Er stand still, während er sprach, und sah mir voll ins Gesicht, seine Hände wie flehend erhoben.



Als ich ihn ansah, während er von der Morgensonne beschienen dastand, konnte ich nicht umhin, die Billigkeit seiner Worte anzuerkennen. Muskulös und hochgewachsen, sah er mit seinem strengen, dunklen Gesicht und den fein gemeißelten Zügen fast aus, als sei er aus dem Rahmen eines alten Charaktergemäldes von Murillo oder Velasquez herausgetreten. Sein massives Kinn und die buschigen Augenbrauen, sowie seine ganze elastische, zähe Figur zeugten von schlummernder Energie und Tatkraft.



»Es gibt zweierlei Arten von Weisheit,« bemerkte ich. »Die eine kommt aus Büchern, die andere aus der Erfahrung. Wenn Sie vielleicht um Ihren rechtmäßigen Anteil an der ersteren betrogen sind, so werden Sie durch einen Löwenanteil an der letzteren entschädigt sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie Ihr ganzes Leben in Vergnügungen und Nichtstun vergeudet haben sollten.«



»Vergnügungen!« rief er. »Vergnügungen!« Er riß seinen Hut ab und ich sah, daß sein schwarzes Haar überall mit grauen Fäden durchzogen war. »Meinen Sie vielleicht, daß die von Vergnügungen herrühren?« rief er, bitter auflachend.



»Sie müssen viel durchgemacht haben,« sagte ich überrascht, »vielleicht eine schwere Krankheit in Ihrer Jugend? Oder sollten vielleicht chronische Ursachen zugrunde liegen? Fortwährend peinigende Sorge und Angst? Ich habe schon junge Männer in Ihrem Alter gekannt, deren Haar ebenso grau war.



Wenn es Ihnen möglich sein sollte, von Zeit zu Zeit nach Branksome zu kommen, so könnten Sie am Ende auch Fräulein Heatherstone mitbringen,« versetzte ich. »Meine Schwester und mein Vater würden sich unbedingt sehr freuen, sie zu sehen, und eine wenn auch noch so kurze Abwechslung würde ihr wohltun.«



»Es wird für uns beide ziemlich schwer halten fortzukommen,« antwortete er. »Wenn es jedoch irgendwie möglich ist, werde ich sie mitbringen. Vielleicht läßt es sich einmal am Nachmittag machen, da der Alte dann häufig eine Siesta hält.«



Als wir den schlängelnden Pfad erreichten, der von der Chaussee abzweigend, unserem Hause zuführte, machte mein Begleiter halt.



»Ich muß jetzt zurück,« sagte er, »man wird mich sonst vermissen. Es ist sehr freundlich von Ihnen, West, solches Interesse an uns zu nehmen. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, und Gabriele wird es ebenfalls sein, wenn sie von Ihrer freundlichen Einladung hören wird. Nach dem abscheulichen Schilde meines Vaters sind es wirklich feurige Kohlen, die Sie auf meinem Haupte sammeln.«



Er reichte mir die Hand und wandte sich zum Gehen, kam aber plötzlich zurück.



»Es fiel mir gerade ein,« sagte er, »daß wir in Cloomber Ihnen höchst rätselhaft vorkommen müssen. Sie halten es am Ende gar für eine Privat-Irrenanstalt, und ich kann es Ihnen nicht übelnehmen. Da Sie sich wahrscheinlich dafür interessieren, ist es eigentlich unfreundlich von mir, Sie nicht darüber aufzuklären; aber ich habe meinem Vater das strengste Schweigen darüber geloben müssen. Und wirklich, wenn ich Ihnen auch alles erzählen würde, was ich selbst darüber weiß, so würden Sie doch nicht viel klüger sein als jetzt. Nur eins kann ich Ihnen versichern: mein Vater ist gerade so vernünftig wie Sie oder ich, und hat sehr gute Gründe für alles, was er tut und wenn es auch noch so widersinnig erscheinen mag. Sein einziger Beweggrund für diese eingemauerte Einsamkeit ist der Selbsterhaltungstrieb, nicht etwa unlautere oder unehrenhafte Motive.«



»Er befindet sich also in Gefahr?« rief ich aus.



»Ja, in fortwährender Gefahr!«



»Aber weshalb wendet er sich dann nicht an die Obrigkeit um Schutz?« fragte ich. »Wenn er von irgend jemand bedroht wird, braucht er das ja nur zu sagen, und man wird sofort die nötigen Schritt für seine Sicherheit tun.«



»Mein lieber West,« sagte da der junge Heatherstone, »die Gefahr, von der mein Vater sich bedroht sieht, kann durch keine menschliche Dazwischenkunft abgewandt werden. Sie ist aber nichtsdestoweniger vorhanden, und wir stehen vielleicht jetzt gerade nah vor einer Krisis!« –

 



»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß sie eine übernatürliche ist?« fragte ich ungläubig.



»Kaum,« entgegnete er zögernd. »Aber,« fuhr er fort, »ich habe jetzt schon mehr gesagt, als ich eigentlich darf. Ich weiß jedoch, daß Sie mein Vertrauen nicht mißbrauchen werden. Gott befohlen!«



Er machte sich auf und davon und war meinen Augen bald hinter einer Krümmung der Landstraße verschwunden.



Eine drohende und vielleicht nahe bevorstehende Gefahr, durch keine menschliche Dazwischenkunft abzuhalten und doch wieder kaum übernatürlich zu nennen! Wer löste das Rätsel? –



Ich hatte mich daran gewöhnt, die Heatherstones einfach für exzentrisch zu halten; aber nach dem, was der junge Mordaunt mir erzählt hatte, konnte ich nicht länger zweifeln, daß etwas Dunkles und Unheilvolles alle ihre Handlungen bestimmte. Je mehr ich aber über sie nachdachte, desto unheimlicher wurden sie mir nur, und doch konnte ich mir die Geschichte nicht aus dem Kopfe schlagen.



Das einsame stille Schloß und die furchtbare Katastrophe, die wie ein Damoklesschwert über den Häuptern seiner Bewohner hing, hatten meine Einbildungskraft fieberhaft erregt. Den ganzen Abend und bis tief in die Nacht hinein saß ich am Kamin, in Nachdenken versunken über alles, was ich gehört hatte, aber außerstande, eine Lösung zu finden für das rätseldunkle Geheimnis.




Fünftes Kapitel.



Es ist wohl kein Wunder, daß ich mich mehr und mehr mit General Heatherstone und dem Geheimnis, das ihn umgab, beschäftigte, als Wochen vergingen, ohne daß ich von den Bewohnern von Cloomber-Hall etwas sah oder hörte. Vergebens strebte ich durch Arbeiten aller Art und strenge Hingabe an meine Pflichten als Gutsverwalter meinen Gedanken wieder eine andere Richtung zu geben. Was ich auch tun mochte, zu Wasser oder zu Land, immer und immer wieder grübelte ich über das Rätsel nach, bis es mir endlich klar wurde, daß es vergebens sei, mich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen, solange ich das Problem nicht gelöst haben würde. Nie konnte ich an der langen, düstern, fünf Fuß hohen Umzäunung und dem großen eisernen Tore mit seinem massiven Schlosse vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben und mir über das Geheimnis, das hinter diesem unübersteigbaren Hindernis verborgen sein mußte, den Kopf zu zerbrechen.



Aber mit allen meinen Mutmaßungen konnte ich zu keiner Schlußfolgerung gelangen, die auch nur einen Augenblick als eine Erklärung der Tatsachen hätte gelten können. –



Meine Schwester war eines Abends ausgegangen, um einen kranken Bauern zu besuchen, oder sonst irgendeinen der vielen Liebesdienste zu verrichten, durch welche sie sich weit und breit im Lande bald beliebt gemacht hatte.



»John,« sagte sie, als sie heim kam, »hast du Cloomber-Hall heute abend beobachtet?«



»Nein,« erwiderte ich, das Buch, in welchem ich gerade las, niederlegend, »abends überhaupt nicht seit dem Abend, an welchem der General und Mc. Neil herüberkamen, um sich das Haus anzusehen.«



»Willst du dann, bitte, deinen Hut holen und einen kleinen Spaziergang mit mir machen?« entgegnete Esther.



Ich konnte ihr ansehen, daß sie irgend etwas aufgeregt und nervös gemacht haben mußte.



»Aber, gütiger Himmel,« rief ich, »was ist denn mit dir los? Das alte Schloß brennt doch wohl nicht? Du siehst ja aus, als ob ganz Wigtown in Flammen stände!«



»Ganz so schlimm ist es wohl nicht,« erwiderte sie lächelnd. »Aber, bitte komm, John. Du mußt es dir ansehen.«



Ich hatte, aus Furcht, sie zu beunruhigen, meiner Schwester nie etwas von dem fast krankhaften Interesse, das ich für unsere Nachbarn hatte, gesagt. Auf ihre Bitte nahm ich meinen Hut und folgte ihr in die Dunkelheit hinaus. Sie ging auf einem schmalen Fußpfade durch das Moor voran, bis wir auf eine kleine Anhöhe kamen, von welcher wir über die das Schloß umsäumenden Fichten hinweg auf dieses hinunterblicken konnten.



»Sieh doch nur!« sagte meine Schwester, während sie auf der Spitze des kleinen Hügels stehenblieb.



Cloomber lag wie in einem Lichtmeer gebadet vor uns. In der unteren Etage verdunkelten die Fensterläden den Schein, aber von den breiten Fenstern des zweiten Stockwerkes bis zu den engen Gucklöchern des Turmes war nicht ein Schlitz, nicht eine Spalte, die nicht einen Strom von Licht ausstrahlte.



So blendend war die Wirkung, daß ich zuerst überzeugt war, das Haus brenne; aber die ruhige und klare Helle enthob mich bald dieser Sorge. Es war augenscheinlich das Resultat einer systematischen Aufstellung von Lampen in dem ganzen Gebäude. Was aber die eigentümliche Wirkung noch erhöhte, war, daß alle diese glänzend erleuchteten Zimmer augenscheinlich unbewohnt und einige, soviel ich sehen konnte, nicht einmal möbliert waren. In dem ganzen großen Hause sah man kein Zeichen von Leben, nichts als die klare und stetige Flut gelben Lichtes.



Ich hatte mich von meinem Erstaunen noch nicht erholt, als ich ein kurzes, krampfhaftes Schluchzen neben mir hörte.



»Was fehlt dir denn, liebe Esther?« fragte ich besorgt.



»Ich fürchte mich so! O John, bringe mich nach Hause. Mir ist so bange!« klang die zitternde Antwort.



Sie hing sich an meinen Arm und zog in wahnsinniger Angst an meinem Rocke.



»Es ist ja alles ganz in Ordnung, Liebling,« sagte ich beschwichtigend. »Worüber regst du dich denn nur so auf?«



»Ich fürchte mich vor ihnen, John! Ich fürchte mich vor den Heatherstone! Weshalb ist ihr Haus jeden Abend so erleuchtet? Ich habe von anderen gehört, daß es immer so ist. Und weshalb läuft der Alte davon wie ein erschreckter Hase, wenn ihm unverhofft jemand begegnet? Es ist etwas nicht richtig mit ihnen, John, und das beängstigt mich.«



Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und nahm sie mit nach Hause, wo ich ihr, ehe sie zur Ruhe ging, etwas Glühwein bereitete. Aus Furcht, sie noch mehr aufzuregen, vermied ich es, von den Heatherstones zu sprechen, und sie kam selbst nicht darauf zurück. Ich war jedoch überzeugt, daß sie schon seit einiger Zeit ihre eigenen Beobachtungen angestellt hatte, und daß sie schließlich ängstlich geworden war. Ich konnte wohl sehen, daß die allnächtliche Beleuchtung des Schlosses an und für sich diese außerordentliche Aufregung nicht verschuldet haben konnte, und daß diese in ihren Augen nur dadurch Wichtigkeit erhielt, daß sie ein Glied in einer Kette von Ereignissen bildete, die alle einen mehr oder weniger unheimlichen und ängstlichen Eindruck auf sie gemacht hatten. Zu dieser Schlußfolgerung kam ich schon damals, und ich habe jetzt gute Gründe, zu glauben, daß meine Schwester noch mehr Ursache als ich zu der Annahme hatte, es sei mit den Bewohnern von Cloomber-Hall nicht ganz geheuer.



Unser Interesse mag zuerst bloß Neugierde gewesen sein, aber die jetzt folgenden Ereignisse sollten uns bald enger mit der Familie Heatherstone verbinden.



Mordaunt hatte sich meine Einladung, uns zu besuchen, zunutze gemacht und hatte verschiedene Male auch seine hübsche Schwester mitgebracht. Wir wanderten dann gewöhnlich zu vieren auf der Heide umher oder segelten, wenn das Wetter schön war, in unserem kleinen Boote auf die Irische See hinaus. Auf solchen kleinen Ausflügen waren dann die Geschwister so heiter und fröhlich wie zwei Kinder. Es war ihnen eine Erlösung, einmal aus ihrer langweiligen Festung herauszukommen und sich, wenn auch nur für einige Stunden, von freundlichen und sympathischen Gesichtern umgeben zu sehen.



Aber die Folgen dieses schönen, verbotenen Beisammenseins waren unausbleiblich. Aus der Bekanntschaft wurde Freundschaft, aus der Freundschaft innige Liebe. Gabriele sitzt gerade jetzt neben mir und sieht mir zu, wie ich schreibe, und sie stimmt mir bei, daß die Geschichte unserer Liebe zu persönlicher Natur ist, um in diesen Zeilen mehr als einfach erwähnt zu werden. Ich begnüge mich also mit der Bemerkung, daß einige Wochen nach unserem ersten Zusammentreffen Mordaunt Heatherstone Herz und Hand meiner geliebten Schwester gewonnen und Gabriele mir das Gelübde ewiger Treue gegeben hatte.



Ich habe hier nur kurz auf diese doppelte Verbindung angespielt, weil ich keine Liebesgeschichte schreiben will und auch den Faden meiner Erzählung, die von General Heatherstone, aber nicht von mir handelt, nicht darüber verlieren möchte.



Es versteht sich von selbst, daß wir nach unserer Verlobung noch häufiger als zuvor mit den jungen Heatherstones verkehrten. Zuweilen, wenn der General durch Geschäfte nach Wigtown gerufen oder durch die Gicht an sein Zimmer gefesselt war, brachten sie ganze Tage bei uns zu. Unser guter Vater war immer da, um sie mit seinen kleinen, gut angebrachten Späßen zu begrüßen; wir hatten keine Geheimnisse vor ihm, und er betrachtete sie jetzt schon als seine Kinder.



Es gab aber auch Zeiten, in denen ein besonders aufregender und unheimlicher Anfall des Generals es wochenlang für Gabriele und Mordaunt unmöglich machte, auch nur den Park zu verlassen. Er pflegte dann auf Posten vor dem Tore zu stehen, oder den Fahrweg auf und ab zu marschieren, als ob er fürchtete, daß jemand den Versuch machen könnte, in seine Verborgenheit einzudringen. Als ich eines Abends vorbeiging, konnte ich seine dunkle, drohende Gestalt im Schatten der Bäume umherhuschen sehen, wie er mich mit seinem strengen, viereckigen Gesicht durch das Gitter hindurch beobachtete. Es war ein trauriger Anblick, diese nervösen Bewegungen, die ängstlich spähenden Augen und verstörten Züge. Wer hätte geglaubt, daß dieses gebückte, schleichende Geschöpf einst ein schneidiger Offizier gewesen sei, der sein Leben fürs Vaterland eingesetzt hatte und unter Hunderten von tapferen Männern seines Mutes wegen ausgezeichnet worden war?



Trotz der Wachsamkeit des alten Soldaten brachten wir es doch fertig, uns mit unseren Freunden in Verbindung zu setzen. Gleich hinter dem Schlosse war eine Stelle, wo das Staket so nachlässig errichten worden war, daß zwei der Latten ohne Mühe entfernt werden konnten. Diese breite Lücke gab uns die Gelegenheit für manch ein verstohlenes Stelldichein. Freilich waren diese notwendigerweise sehr kurz, da der General in seinen Wanderungen unberechenbar und keine Stelle des Parkes vor seinem Besuche sicher war.





Wie lebhaft steht die Erinnerung an eines dieser eiligen Rendezvous vor mir! Klar und friedlich hebt es sich von den wilden und geheimnisvollen Ereignissen ab, die schließlich zu einer schrecklichen Katastrophe führten und den Schatten über unser ganzes Leben warfen.



Ich erinnere mich, wie ich eines Morgens durch das Feld ging; das Gras war noch feucht vom Morgentau und die Luft schwer von dem Dufte frischgepflügter Erde. Gabriele wartete auf mich unter dem Hagedorn vor der Lücke, und wir standen bald Hand in Hand, auf das weite Moor sowie auf den breiten, blauen Streifen Wasser hinabblickend, welcher jenes wie mit einem Gürtel von weißem Schaum umspannte. Im fernen Nordwesten erglänzte der Gipfel vom Mount Throoter in den Strahlen der Morgensonne, und von der großen, nach Belfast führenden Wasserstraße her sah man den Rauch von eilenden Dampfern aufsteigen.



»Ist das Bild nicht wundervoll?« fragte Gabriele, mit ihren Händen meinen Arm umfassend. »O John, weshalb können wir nicht frei über die Wellen davonsegeln und alle unsere Sorgen hier am Ufer zurücklassen?«



»Was für Sorgen sind es denn, die du so gern zurücklassen möchtest, mein Lieb?« fragte ich. »Darf ich sie nicht kennen, damit ich dir helfen kann, sie zu tragen?«



»Ich habe keine Geheimnisse vor dir, John,« antwortete sie. »Unsere Hauptsorge ist, wie du dir leicht denken kannst, das sonderbare Wesen meines armen Vaters. Ist es nicht traurig, daß ein Mann, der sich so vor aller Welt ausgezeichnet hat, von einem abgelegenen Winkel des Landes zum anderen fliehen muß wie ein gemeiner Dieb? Und wir sind außerstande, sein Geschick in irgendeiner Weise zu er leichtern!«



»Aber weshalb tut er es denn, Gabriele?« fragte ich.



»O, ich kann es nicht sagen,« antwortete sie freimütig. »Ich weiß nur, daß er irgendeine drohende Gefahr über seinem Haupte schweben fühlt und daß die Ursache hierfür in seinem Aufenthalt in Ostindien zu suchen ist. Aber welcher Art diese Gefahr ist, weiß ich ebensowenig wie du.«



»Dann weiß es aber dein Bruder!« antwortete ich. »Nach der Art wie er sich mir gegenüber ausließ, bin ich überzeugt, daß er weiß, worin die Gefahr besteht, und daß er sie als wirklich vorhanden ansieht.«



»Ja, er weiß es und ebenso auch meine Mutter,« antwortete Esther, »aber sie haben es immer vor mir geheim gehalten. Mein armer Vater ist gerade jetzt wieder furchtbar aufgeregt. Tag und Nacht befindet er sich in der schrecklichsten Angst; aber bald ist ja der fünfte Oktober, und dann wird wieder Frieden herrschen.«

 



»Woher weißt du das?« fragte ich überrascht.



»Aus Erfahrung,« erwiderte sie ernst. Am fünften Oktober kommen alle diese Befürchtungen zu einer Krisis. Jahrelang schon pflegt er Mordaunt und mich an dem Tage in unsere Zimmer einzuschließen, so daß wir keine Ahnung haben von dem, was vorgeht! Nachher aber ist es, als ob ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, und er ist auch verhältnismäßig ruhig, bis der kritische Tag wieder herannaht.«



»Dann habt ihr ja nur noch ungefähr zehn Tage zu warten,« sagte ich, denn es war jetzt Ende September. »Apropos, Liebste, weshalb sind eigentlich alle eure Zimmer des Nachts erleuchtet?«



»Hast du das bemerkt?« entgegnete sie. »Das rührt auch von meines Vaters Befürchtungen her. Er kann keine dunkle Ecke in seinem Hause leiden. Er geht nachts viel im Hause umher und sieht alles nach, von den obersten Dachstübchen bis hinunter zu den Kellern. Er hat in jedem Zimmer und in jedem Korridor, auch in den leerstehenden, große Lampen aufstellen lassen, und die Bedienten müssen sie alle anstecken, sobald es dunkelt.«



»Es nimmt mich wunder, daß ihr eure Bedienten behalten könnt,« sagte ich lachend, »die Mägde in dieser Gegend sind sehr abergläubisch, und alles, was sie nicht verstehen, erregt leicht ihre Einbildungskraft.«



»Die Köchin und beide Hausmägde sind aus London und an unsere Eigentümlichkeiten gewöhnt. Wir bezahlen außerordentlich gut, um sie für alle etwaigen Unannehmlichkeiten zu entschädigen. Israel Stakes, der Kutscher, ist der einzige, der aus dieser Gegend stammt, und er scheint ein phlegmatischer, ehrlicher Kerl zu sein, der sich nicht ins Bockshorn jagen läßt.«



»Armes Mädchen!« rief ich aus, auf die schlanke Gestalt neben mir blickend. »Das ist doch kein Leben für dich! Weshalb erlaubst du mir nicht, dich davon zu erlösen? Soll ich zum General gehen und ihn einfach um deine Hand bitten? Schlimmstenfalls könnte er sie mir doch nur abschlagen!«



Sie erbleichte bei dem bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit.



»Um des Himmels willen, John,« rief sie aus. »Tue das nur nicht! Er würde uns alle sofort bei Nacht fortschleppen, und binnen acht Tagen würden wir uns in irgendeiner Wildnis ansiedeln, wo wir nie wieder Gelegenheit hätten, einander zu sehen oder auch nur voneinander zu hören. Außerdem würde er uns nie verzeihen, daß wir uns aus dem Park hinausgewagt haben.«



»Ich glaube nicht, daß er ein hartherziger Mann ist,« bemerkte ich. »Ich habe wiederholt, trotz seines finsteren Aussehens, einen freundlichen Blick in seinen Augen bemerkt.«



»Er kann der allergütigste Vater sein,« entgegnete sie, »aber er ist schrecklich, wenn man sich ihm widersetzt. Du hast ihn noch nie so gesehen, und hoffentlich wirst du auch nie Gelegenheit dazu haben. Diese eiserne Willenskraft und diese unbeugsame Energie waren es eben, die ihn zu einem schneidigen Offizier machten. Glaube mir, in Ostindien stand er in höchstem Ansehen. Die Soldaten fürchteten ihn. würden ihm aber überallhin gefolgt sein.«



»Und hatte er damals schon diese nervösen Anfälle?«



»Gelegentlich, aber bei weitem nicht so heftig. Er scheint zu glauben, daß die Gefahr – worin sie auch immer bestehen mag – mit jedem Jahre drohender wird. Ach, John, es ist schrecklich, so mit dem Damoklesschwert über unseren Häuptern dahinleben zu müssen – und noch schrecklicher für mich, weil ich keine Ahnung habe, woher der Streich kommen kann!«



Ich ergriff ihre Hand und zog sie an mich.



»Liebe Gabriele,« sagte ich, »sieh dir nur diese reizende Landschaft und das weite, blaue Meer an. Ist nicht alles friedlich und schön? In allen diesen Hütten, die mit ihren roten Ziegeldächern aus dem grauen Moore hervorlugen, leben einfache, gottesfürchtige Menschen, die schwer um ihr tägliches Brot arbeiten und niemand übel wollen. Nur sieben Meilen von hier liegt eine große Stadt, wo alle modernen Schutzmaßregeln für Erhaltung der Ordnung getroffen sind. Zehn Meilen davon ist eine Garnison einquartiert, und ein Telegramm könnte jederzeit eine Kompagnie Soldaten herbeirufen. Jetzt frage ich dich, Schatz, was für eine Gefahr kann euch in dieser Gegend drohen, wo doch Hilfe nahe zur Hand ist? Du sagtest doch, daß die Gefahr in keinem Zusammenhange mit deines Vaters Gesundheit steht?«



»Nein, davon bin ich

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