A Beautiful Life

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A Beautiful Life
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A Beautiful Life

Anton Lösche

Roman

Impressum

Text: © Copyright by Anton Lösche

Umschlag: © Copyright by Anton Lösche

Verlag: Anton Lösche, Schlafweg 28, D – 96173 Oberhaid

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-7418-7729-2

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Ein Traum

Der schwarze Tag

Weißer Rauch

Fräulein Erinnerung

Rote Rosen

Eine weiße Rose

Flut

Spiegelbild

Zu zweit kann man besser alleine reden

Scherben

Rote Ozeane

Der Retter wird Jäger

Licht

...und Schatten

Überlegenheit

Fassade

Wie neugeboren

Ein sterbender Traum beginnt sich zu erheben

Schwimmen oder untergehen

Vorahnung

Rettung naht

Monolog

***

Ein Traum

Ich habe Angst.

Alles um mich herum ist schwarz.

Es verfolgt mich. Mein Herz schlägt so laut, dass meine Ohren das Blut durch meinen Körper schießen hören. Es pumpt sich durch meine Oberschenkel in die Waden. Meine Waden brennen. Seit einer halben Stunde fahre ich vollkommen ohne Ziel in die Dunkelheit. Mein Fahrradlicht flackert, die Batterien sind schwach.

Plötzlich strahlt das milchige Licht etwas an, das direkt vor mir auf der Straße sitzt. Ich bremse und versuche auszuweichen. Ich rutsche in den Graben und falle. Irgendwo stoße ich mir den Kopf. Ich stehe sofort auf und schlage um mich. Ich will schreien. Doch meine Kehle schnürt sich zu. Ich renne los. Mitten in den Wald. Den Weg habe ich längst verloren. Panik steigt in mir auf und alles, was kurz vor mir auftaucht, flimmert. Äste peitschen in mein Gesicht. Ich drehe mich um, um vielleicht sehen zu können, wo es ist. Doch da ist nichts. Ich stolpere und falle auf den feuchten Waldboden. Meine Jeans reißt auf und es fühlt sich so an, als würde mein rechtes Knie bluten. Ich springe sofort wieder auf und renne weiter. Diesmal aber in die Richtung rechts von mir. Nachdem ich über drei oder vier Straßen gerannt bin, muss ich mich an einem Baum anlehnen. Meine Kniekehlen brennen. Mir ist heiß und kalt gleichzeitig. Ich kotze. Es brennt in meinem Rachen und ich denke nur noch daran, dass es mich gleich eingeholt haben wird. Meine Augen fallen zu und der Boden schwindet unter meinen Füßen. Ich falle. Alles schwarz.

Ich schrecke hoch.

„Hmmm?“, machst du neben mir.

„Nichts, Schatz“, sage ich. „Alles okay“.

Ich stehe auf und schlurfe durch unser Zimmer in das Bad. Ich trinke ein zwei Schluck Wasser und taste mich durch das Dunkel zurück in unser Zimmer. Ich öffne das Fenster, setze mich auf das Fensterbrett und schau deinen Brüsten zu wie sie sich langsam und gleichmäßig heben und senken. Du bist wunderschön. Ich schaue aus dem Fenster in den Himmel. Keine Wolke. Es ist eine warme Sommernacht. Etwas berührt mich von hinten und ich schrecke zusammen.

„Tut mir leid, Baby“, sagst du. „Hast du wieder von ihm geträumt?“

Ich nicke.

„Du armes Schwein.“

Du küsst mich und ich verliebe mich zum tausendsten Mal in dich. Deine weiche Haut berührt meine und ich spüre genau, dass wieder neue Narben deine Arme bedecken. Ich drücke dich ein Stück weg von mir.

„Du solltest weiterschlafen, morgen ist wieder Schule.“

„Du musst genauso in die Schule wie ich auch!“

Irgendwie hattest du schon recht. Ich muss morgen auch in die Schule, allerdings bin ich sowieso kein guter Schüler und bin unbeliebt bei den Lehrern. Du dagegen bist schlau, witzig und schaffst es, jeden Lehrer um den Finger zu wickeln. Du bist auch erst seit drei Monaten in dem Heim. Nachdem deine Mutter gestorben ist, bist du hergekommen. Du warst allein und ich habe beschlossen, mich um dich zu kümmern. Ich verliebte mich in dich und jetzt sind wir seit fast zwei Monaten das einzige Paar im Heim. Wir haben sogar die Genehmigung bekommen, in einem Raum zu schlafen.

„Wir gehen einfach beide schlafen, okay?“

„Okay, aber weck mich das nächste Mal, wenn er dich wieder besucht, ja?“

„Ja, mach ich, Schatz.“

Das war gelogen und du wusstest das.

Der schwarze Tag

„... und deshalb kann man keinen wirklich Schuldigen für den Beginn des ersten Weltkrieges festlegen“, beendet Frau Hemming ihre drei Minuten andauernde Rede. Sie will gerade wieder loslegen, als ihr der Lautsprecher die Show stiehlt.

„Krck. Das ist eine Warnung. Ein Amokläufer befindet sich im Gebäude. Gerade im Erdgeschoss. Die Polizei ist bereits verständigt worden und wird bald eintreffen. Krck...“

Stille.

Es war die unangenehmste Stille, die ich jemals erlebt hatte. Ein Amokläufer in unserer Schule.

Plötzlich beenden ein entfernter Knall und mehrere Schreie die Stille.

Im Erdgeschoss ist der große Kunstsaal. Du sitzt gerade da unten und vor deinem Zimmer läuft ein Verrückter Amok. Ich stehe auf und renne zur Tür.

„Was glaubst du, was du da tust?! Setz dich wieder auf deinen Platz! Du kannst da jetzt nicht raus.“

Ich drehe mich um.

„Wissen Sie, ich mag Sie und ihren Unterricht. Aber sie konnten sich noch nie durchsetzen, dass werden sie auch jetzt nicht. Bis die Bullen hier sind, hat der Idiot da unten schon die Hälfte unserer Mitschüler umgebracht!“

Ich schlucke meine Angst runter und stoße die Tür auf. Nach rechts den Gang entlang. Dann links die Treppe runter. Noch eine. Die letzten vier Stufen springe ich und knicke um. Interessiert mich nicht. Ich stehe auf und renne weiter den Gang entlang bis zum Kunstsaal. Die Tür wurde aufgebrochen und ich höre Mädchen weinen. Ich reiße die Tür auf. Mir wird augenblicklich schlecht. Leichen liegen in den ersten zwei Reihen und du starrst auf den Lauf der Pistole, welcher direkt zwischen deine Augen zielt. Ich will schreien. Doch wie unter einer Schockstarre stehe ich nur stumm da und tue nichts. Erst mit dem Knall des Schusses erwache ich und renne auf den groß gewachsenen Mörder zu. Er hört mich, dreht sich um und schießt. Ich schreie als die Kugel durch mein rechtes Schulterblatt fetzt. Auf der Stelle breche ich zusammen und sitze an einen Tisch einer Toten gelehnt auf dem Boden.

„Hast du ernsthaft gedacht, du könntest mich aufhalten?“, fragt der Mann. „Du bist vollkommen unbewaffnet. Einen Helden gibt es heute nicht.“

Er zielt genau zwischen meine Augen. Er drückt ab.

„Klick...“

Keine Kugeln mehr. Magazin mit zwölf Schuss. Mit der elften hat er meine Freundin erschossen und die zwölfte Kugel hat mir meine Schulter durchlöchert. Ich grinse mit letzter Kraft.

„Vielleicht keinen Helden, aber eine Zielscheibe, die dich ablenkt, Arschloch.“

Er tritt mir ins Gesicht. Mein Kopf knallt gegen den einen Fuß des Tisches und ich liege auf dem Rücken. Alles dreht sich. Ich sehe noch, wie zwei Polizisten durch die Tür kommen und das Feuer eröffnen. Ich spüre wie das Blut des Amokläufers mir ins Gesicht spritzt, als er vor mir auf den Boden fällt, und ich höre das Wimmern der übrigen Schülerinnen, bevor alles schwarz wird...

Weißer Rauch

Ich sitze auf meinem Fensterbrett und sehe dem Regen zu, wie er auf den Boden prasselt. Ich denke an dich. Seit dem Amoklauf denke ich so oft an dich. Ich vermisse dich. Ein Verband verdeckt die Stelle, an der die Kugel durch meinen Körper gejagt wurde. Du wurdest bereits beerdigt und es waren mittlerweile Pfingstferien.

Es klopft.

„Ja?“

Ramona, das Hausmädchen unseres Heimes, viel mehr unseres Stockwerkes, kommt herein und guckt mich traurig an.

 

„Es ist 03:34 Uhr, leg dich doch bitte hin.“

„Bist du nur wegen mir wach geblieben?“

„Ja. Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt.“

„Woher?“

„Du bist in letzter Zeit so zurückhaltend. Außerdem kann man sich das doch wohl denken, ich meine wegen Jackie...“

Schweigen. Ich drehe mich wieder Richtung Regen und höre, wie Ramona langsam auf mich zukommt.

„Du sollst auch nicht rauchen“, sagt sie und deutet auf die Kippe in meiner Hand.

„Ich weiß.“

„Wieso tust du es dann?“

„Ich mag es, wie es in der Lunge brennt, wenn man den Rauch einatmet.“

„Das ist doch Scheiße.“

„Hm.“

„Gib mir auch eine!“

Ich greife in meine Hosentasche und halte ihr die Schachtel hin.

„Danke.“

„Das ist aber Scheiße.“

Sie grinst und setzt sich auf mein Bett.

„Du kannst nicht im Zimmer rauchen, da geht der Feuermelder an und wir sind beide am Arsch“, sage ich ohne mich umzudrehen.

„Die funktionieren schon seit 10 Jahren nicht mehr. Sie hängen nur da, um euch Dreckskinder vom Rauchen abzuhalten.“

Ich grinse.

„Funktioniert super!“

„Ich merke es.“

Wir lachen.

„Wie war dein Tag, Mona?“

„Ach, wie jeder andere. Hab den anderen beim Aufräumen geholfen und die Kotze von Nick wiedermal aufgewischt. Hoffentlich schafft er es endlich mal mehr Pillen zu nehmen. Ich kenne seine Kotze mittlerweile besser als meine...“

„Sei nicht so, du weißt, dass er neu ist. Ich meine, seine Eltern wurden vor seinen Augen umgebracht und er musste zusehen, wie ihre Leichen vergewaltigt wurden.“

„Hm, er muss sich an das Leben hier gewöhnen.“

Wir schweigen. Es gab zwischen ihr und mir nie viel zu sagen. Ich war schon so lange in diesem Heim. Ich kannte jede Spinne, die hier rumkrabbelte, beim Namen und wusste immer von allem Bescheid.

„Wie geht es dir eigentlich damit?“

„Womit?“

Ich drehe mich um und schau ihr in die Augen.

„Naja, du arbeitest nur mit suizidgefährdeten Kindern?“

„Nicht nur, dich gibt's ja auch noch.“

„Du weißt, was ich meine.“

„Es ist okay. Es kommen immer neue und immer wenn ein Kind es über den Berg schafft, hat man mal ein paar Tage weniger Arbeit. Ich mag euch alle sehr, aber ihr seid mir außer dir nicht besonders wichtig.“

„Wieso alle außer mir?“

„Du hast schon viel gesehen und bist so lange hier, manchmal kommt es mir so vor, als wären wir Geschwister.“

„Na dann.“

Ich drehe mich wieder um und schaue wieder dem Regen zu.

„Träumst du noch so viel von diesem Etwas?“

„Hm.“

„Es macht dich fertig, oder?“

„Hm.“

„Bist du ein Vollidiot?“

„Hm.“

Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu schmunzeln.

„Na gut, ich geh dann mal. Bleib da nicht zu lange sitzen, gute Nacht.“

„Hm, Nacht.“

Ich lehne meinen Kopf an die Wand. Diese Figur, die mich verfolgt, wer ist das? Was ist das? Seit dem Amoklauf träume ich jede zweite Nacht von ihm oder ihr. Ich weiß nicht, woher das kommt. Es ist wie ein Freund, der dich hinter deinem Rücken als Arschloch beschimpft.

Ich stehe auf und gehe zu deinem Schrank. Ich hab alles so gelassen, wie du es verlassen hast. Ich konnte mich nicht dazu überwinden aufzuräumen. Ich öffne den Schrank und ziehe deine Klinge aus dem Pullover, in dem du diese immer versteckt hattest. Dann gehe ich zu meinem Tisch und lege sie auf meinen Laptop. Auf dem Fensterbrett liegt eine dünne Schnur, ich nehme sie und fädele sie durch das ehemalige Schraubenloch der Spitzerklinge. Eine Kette. Ich hänge sie mir um, ziehe alles andere aus, drehe leise Triggerfinger auf, deine Lieblingsband, lege mich ins Bett und schlafe ein.

Traumlos.

Die ganze Nacht über nicht einen Traum. Kein Alptraum, kein Sextraum und auch keine Erinnerungen an dich. Ich sitze auf meinem Bett und starre die Wand an. Wie jeden Morgen warte ich nur darauf, dass Ramona an die Tür klopft und mir sagt, dass das Frühstück fertig ist. Ich habe mich bereits gewaschen und musste feststellen, dass die Klinge von Jackie mir ein Stück meiner Haut an der Brust zerkratzt hat. Es klopft.

„Es gibt Essen!“

„Ich komme gleich!“, rufe ich zurück und richte mich auf. Da ich nur meine Boxershorts anhabe, werfe ich mir noch ein viel zu großes T-Shirt über. Es ist komplett schwarz und in der Mitte ist in Lila ein Tiger aufgedruckt, welcher seelenruhig in die Augen des Betrachters blickt. Ich hab es mir damals ausgesucht, weil ich Tiger so mag, da es so majestätische Tiere sind und dennoch sieht der Tiger auf meinem Shirt so ruhig aus, dass man meinen könnte, es wäre überhaupt kein Raubtier. Ich betrete den Gang und schlurfe langsam in den Essenssaal hinunter.

Es gibt das übliche Müsli mit der üblichen lauwarmen Milch und wie üblich sitze ich gegenüber von Ramona am Esstisch. Nur du fehlst heute unüblicher Weise. Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt und der Fakt, dass du fehlst, macht mich so traurig, dass mir die Lust ein Gespräch zu führen direkt vergeht.

„Wie hast du geschlafen?“, fragt Mona vorsichtig. Sie scheint mir anzusehen, dass etwas nicht stimmt.

„Ganz in Ordnung.“

„Was hast du geträumt?“

„Nichts.“

„Willst du nicht wissen, was ich geträumt habe?“

Das war der Test. Wenn ich jetzt „ja“ sage, dann erzählt sie mir irgendeine frei erfundene Geschichte und testet später, ob ich zugehört habe. Wenn ich aber „nein“ sage, dann kommt sie später wieder auf mein Zimmer und ich muss mit ihr ein Gespräch führen, wie es mir gerade geht.

„Eigentlich ja“, sage ich, „aber ich gehe nach dem Frühstück raus in die Stadt und wollte dich fragen, ob du mitkommst?“

Das war perfekt. Ich wusste sie konnte nicht „ja“ sagen, weil sie arbeiten musste. So konnte ich ihrem Test ausweichen und musste mich auch nicht auf irgendein Gespräch vorbereiten.

„Tut mir leid, ich muss arbeiten.“

„Schade“, sage ich und schaue zu Boden. „Naja, ein Andermal.“

Ich stehe auf, bringe meine Schüssel zurück und gehe auf mein Zimmer. Natürlich wollte ich ursprünglich überhaupt nicht in die Stadt, aber jetzt musste ich wohl doch gehen, sonst kommt sie später in mein Zimmer und muss feststellen, dass ich sie angelogen habe. Also ziehe ich mir eine von meinen schwarzen Jeans an und nehme noch einen Pulli mit. Den Geldbeutel und die Busfahrkarte, die wir vom Heim bekommen haben, stopfe ich in meine Gesäßtasche und mache mich auf den Weg.

Es ist warm, windig und nicht besonders viel los. Es ist Frühling und deswegen fahren schon manche in Urlaub. Alle, die noch da sind, sind allerdings noch zu Hause und somit hatte ich die meisten Geschäfte, durch die ich so trödele, für mich alleine. Als ich dann zwischen dem H&M und einem Süßwarengeschäft stehe, berührt mich zärtlich jemand von hinten. Ich drehe mich um und schaue einem kleinen Mädchen direkt ins Gesicht.

„Hallo!“, sagt das Mädchen glücklich und grinst.

„Äh,... hi“, stottere ich.

„Du bist in meinem Heim. Du und ich haben als Kinder oft miteinander gespielt.“

Ich denke kurz zurück. Ich habe nicht viele Erinnerungen an meine Kindheit, doch in denen, die ich habe, kommt kein kleines Mädchen mit langen dunklen Haaren vor. Ich schaue kurz an ihr herunter und bemerke, wie kurz ihre Beine und wie klein ihre Hände und Füße sind.

„Tut mir leid, kannst du mir kurz auf die Sprünge helfen? Wer du bist? Ich hab dich noch nie im Heim gesehen“, sage ich.

„Ich bin Emily. Wir waren zusammen in der Grundschule und im Kindergarten. Ich werde so oft übersehen. Kein Wunder, dass du mich nicht mehr kennst.“ In ihrem letzten Satz schwingt sehr viel Traurigkeit mit.

„Ach was!“, sage ich und lächle: „Jetzt werde ich dich bestimmt nicht mehr vergessen.“

„Wir werden sehen“, sagt sie, diesmal wieder mit ihrer hellen und glücklichen Stimme.

„Bis später!“

„Okay, bis dann.“

Und schon war sie im H&M verschwunden. Ich stehe noch eine Minute wie angewurzelt da und gucke ins Nichts.

Fräulein Erinnerung

Ich habe das Mittagessen verpasst, weil der Bus zum Heim gefühlte fünfundzwanzig Jahre zu spät kam, also sitze ich nun hungrig in meinem Zimmer und gucke aus dem Fenster. Es klopft, die Tür geht auf und in der Tür steht Ramona.

„Ich habe dir was zu essen aufgehoben, weil du nicht da warst.“

„Boah Danke!“, stoße ich erleichtert heraus. „Du bist ein Engel.“

„Ach Quatsch. Nichts zu danken, wieso warst du nicht da?“

„Mein Bus hatte Verspätung.“

„Ach so.“

„Hm“, brumme ich zufrieden und stopfe mir die lauwarme Lasagne in den Mund.

„Dir scheint es ja zu schmecken“, grinst Mona.

„Ja, wer hat heute gekocht? Du?“

„Ja.“

„Schmeckt man.“

Ramona lacht.

„Danke.“

„Sag mal, kennst du eine Emily in unserem Heim?“, frage ich, nachdem ich meine Lasagne in Rekordtempo aufgegessen hatte.

„Eine Emily? Nein, in meinem Stock gibt es keine Emily. Nur Emma, die Schwarzhaarige, die hier ist, weil ihre Eltern sie geschlagen haben.“

„Nein nein, die meine ich nicht. Eine Kleine mit ganz kindlichem Auftreten.“

„Hm, ... also so auf Anhieb fällt mir da niemand ein, aber ich kenne auch die Kinder aus den anderen Stockwerken nicht.“

„Ah, Okay. Ich halte dann einfach beim Abendessen Ausschau.“

„Mach das. Aber wieso interessierst du dich auf einmal für deine Mitbewohner? Normalerweise weißt du doch immer alles schon vor mir?“

„Ich habe in der Stadt ein Mädchen getroffen, sie meinte, sie wäre in meinem Heim und sie würde mich aus unserer frühen Kindheit kennen.“

„Komisch“, sagt Ramona.

„Hm ja, ...“

„Naja, du wirst es ja sehen. Ich muss mal wieder bei den anderen nach dem Rechten sehen. Bis heute Abend.“

„Tschau.“

Ich bleibe noch ein bisschen an meinem Tisch sitzen und gucke aus dem Fenster. Ich frage mich, ob ich nochmal in die Stadt fahren oder hier bleiben und ein Nickerchen machen soll. Ich entscheide mich für letzteres. Ich liege gefühlte 30 Minuten im Bett, aber einschlafen will mein Körper anscheinend nicht. Also stehe ich wieder auf, setze mich aufs Fensterbrett und zünde mir eine Zigarette an. Ich lasse meinen Blick über die Stadt schweifen, welche man von hier oben ganz gut sehen kann. Mein Zimmer ist im 3. Stock und das Heim steht auf einem Berg. Ich sehe die Vögel am Himmel und muss daran denken, dass ich liebend gerne verreisen würde. Ich hätte auch das Geld von meinen Eltern, um mir diesen Wunsch zu erfüllen, aber ich habe Angst davor. Ich meine, mit dem Zug wäre es schon ganz schön oder mit dem Bus. Es wäre alles OK, solange ich nicht in ein Flugzeug steigen müsste. Flugzeuge. Flugzeuge und das Bedürfnis so fliegen zu können wie die Vögel. Wenn man sich es recht überlegt schon eine hirnrissige Idee, tonnenschwere Dosen aus Metall und Kunststoff fliegen zu lassen, war doch logisch, dass irgendwann mal eine dieser Blechdosen abstürzt. Hört man ja öfters, man macht sich aber nie darüber Gedanken, bis man seine Eltern beim Absturz einer dieser Blechdosen verliert.

„Ähm.“

Ich fahre herum und falle fast aus meinem Fenster.

„Hallo“, sagt eine helle Kinderstimme.

„Oh mein Gott, hast du mich erschreckt.“

„Das tut mir leid, du warst so abwesend und hast nicht gehört, dass ich geklopft habe.“

„Schon gut, war ja nicht dein Fehler.“

Emily grinst und freut sich sichtlich darüber, dass sie nicht daran schuld war, dass ich gerade fast in meinen Tod gestürzt wäre.

„Brauchst du irgendwas?“

„Nein, ich wollte nur Zeit mit dir verbringen. Du hast gesagt, du kannst dich nicht an mich erinnern, aber das heißt ja noch lange nicht, dass wir nicht trotzdem zusammen Sachen unternehmen können.“

„Das stimmt, aber heute können wir glaube ich nichts mehr unternehmen. Es gibt schon bald Abendessen und ich möchte heute auch nicht mehr weggehen.“

„Oh, Okay“, sagt sie und ihre Mine wird ein bisschen traurig. „Aber das macht nichts, morgen ist auch noch ein Tag.“

 

„Ja, morgen gehen wir in die Stadt, Okay?“

„Ja, dann sehen wir uns morgen. Bis dahin!“, sie dreht sich um und hüpft glücklich zur Tür. Ein bisschen so, als wenn sie gerade einen Kuschelbär gewonnen hätte. In der Tür dreht sie sich nochmal um und winkt. Sie ist schon sehr süß.

„Tschau!“, rufe ich ihr noch hinterher, aber das hört sie wohl nicht mehr.

Beim Abendessen sitze ich an meinem Tisch und glotze meinen leeren Teller an.

„Ist irgendwas?“, fragt Ramona.

„Hm...“

„Ach komm schon, du kannst mir ruhig sagen, was dich fertig macht.“

„Und was bringt das?“

Sie stockt kurz.

„Ich könnte dir vielleicht helfen.“

„Ja, vielleicht. Wenn nicht, dann habe ich die Scheiße in meinem Kopf wieder vollkommen umsonst aufgerollt.“

„Vielleicht auch nicht.“

„Das stimmt wohl.“

Schweigen.

„Später in meinem Zimmer, Okay?“

„Okay.“

Ich stehe auf und wortlos lasse ich Ramona am Tisch sitzen. Was los war, wusste ich ehrlich gesagt nicht mal selbst. Ich hatte Angst. Angst davor schlafen zu gehen, er würde wieder auf mich warten und er würde mich wieder verfolgen. Außerdem fehlst du mir so unfassbar. Es hat sich alles geändert. Mit einem Tag. Nur eine Viertelstunde hat mein Leben dazu gebracht, zum zweiten Mal eine scharfe Kurve zu machen und genau wie beim letzten Mal, so scheint es, wurde mir in der Kurve schlecht.

Ein Gespräch mit viel Zigarettenrauch und wenigen Worten später saß ich allein auf dem Boden in meinem Zimmer und halte die selbstgemachte Kette in meiner Hand. Triggerfinger läuft im Hintergrund und ich habe Tränen in den Augen. Ich hab nie verstanden, wieso du dir das angetan hast. Wieso fügt man sich selbst Schmerzen zu? Macht es das Leben ertragbarer? Wolltest du testen, ob du noch Gefühle in dir trugst, außer der Sehnsucht nach Liebe? Oder war es nur jugendliche Naivität?

Ich setze die Klinge an meinen Arm an. Ein Schnitt. Es brennt und es bilden sich kleine Punkte aus Blut, die sich schnell zu einem längeren Strom verbinden. Es hat wehgetan, aber es gefiel mir. Noch ein Schnitt und noch einer. Es brennt von Wunde zu Wunde weniger. Es tut gut. Wieso tut es gut? Ich schrecke auf und schmeiße die Kette Richtung Tür. Wieso habe ich das gemacht? Ich springe auf und schmeiße mich ins Bett und drücke mein Gesicht in mein Kissen, damit niemand mein Schluchzen hört.

„Jackie...“, presse ich in mein Kissen.

Ich bekomme kaum noch Luft und ich spüre, wie mein Blut meinen Arm entlang läuft und auf das Laken tropft. Meine Augen brennen und mein Hals tut weh. Ich zwinge mich ruhig zu atmen. Alles tut weh. Dieser enge Schmerz in der Brust. Es fühlt sich an, als würde mein Herz sich zusammenziehen und sich nie wieder entspannen wollen. Ich schlage um mich. Wie in Trance falle ich von meinem Bett und sitze auf dem Boden. Ich weine. Meine Tränen sind heiß, laufen mein Gesicht entlang und tropfen auf den Boden, wo sie sich mit meinem Blut mischen. Ich lehne meinen Kopf an der Bettkante an und schließe meine Augen. Ich will schlafen. Für immer. Einfach nur schlafen.