Meditieren mit Leib und Seele

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Ich beende dieses Kapitel, indem ich eine verwandte Übung anbiete, die außerhalb der Gebetszeit gemacht werden kann. Wenn du gehst, werde dir eine Zeit lang der Bewegungen deiner Beine bewusst. Das kannst du überall tun, sogar auf einer belebten Straße. Es kommt nicht darauf an, dass du weißt: „Meine Beine bewegen sich“, sondern dass du das Gefühl für die Bewegungen bekommst. Das wird eine beruhigende, besänftigende Wirkung auf dich haben. Du kannst sogar eine Konzentrationsübung daraus machen, doch musst du dann einen einsamen Ort wählen, wo du nicht so leicht von anderen gesehen wirst. Diese Übung sieht so aus:

Wenn du in einem Zimmer oder auf einem Korridor auf und ab gehst, verlangsame deine Schritte so stark, dass du dir jeder Bewegung deiner Beine vollkommen bewusst wirst. Werde dir bewusst: wie du den linken Fuß hebst ... wie du den linken Fuß vorwärtsbewegst ... wie er den Boden berührt ... wie sich dein Körpergewicht auf das linke Bein verlagert ...

Nun, wie du den rechten Fuß hebst ... wie du ihn vorwärtsbewegst ... wie er auf dem Boden vor dir zu stehen kommt ... und so weiter.

Zur Unterstützung deiner Konzentration kannst du, während du den Fuß hebst, sagen: „hoch ... hoch ... hoch“, und während du ihn vorwärtsbewegst: „vorwärts ... vorwärts ... vorwärts“, und während du ihn auf den Boden stellst: „aufsetzen ... aufsetzen ... aufsetzen“.

Auf keinen Fall solltest du diese Übung machen, wenn du in Eile bist! Und du brauchst sie nur einmal zu machen, um zu verstehen, warum ich rate, sie an einem einsamen Ort zu machen, wo dich höchstens sehr wohlmeinende Menschen beobachten können!

Übung 4 Disziplin der Gedanken

Die meisten Menschen werden während der Wahrnehmungsübungen von Zerstreuungen gequält. Hier möchte ich deshalb zeigen, wie man ihnen entgegentreten kann.

Bei Zerstreuungen wirst du es hilfreich finden, wenn du die Augen nicht ganz schließt, sondern leicht geöffnet hältst. Sie sollen so weit offen sein, dass du etwa einen Meter im Blickfeld hast.

Schaue dann einen Punkt oder einen Gegenstand ruhig an. Doch konzentrieren sollst du dich nicht auf diesen Punkt oder Gegenstand, sie sollen nicht deine ausdrückliche Aufmerksamkeit fesseln.

Einige Menschen können sich mit geschlossenen Augen nur schwer konzentrieren. Ihre geschlossenen Augen bilden sozusagen eine leere Wand, worauf das Denken alle möglichen Denkinhalte projizieren kann, die von der Konzentration ablenken. Deshalb mein Vorschlag, die Augen halb geöffnet zu halten und ruhig auf einen Punkt oder Gegenstand in einem Meter Entfernung zu blicken. Du magst mit diesem Vorschlag experimentieren und ihn nur dann annehmen, wenn er dir hilfreich ist. Vielleicht gehörst du zu jenen Menschen, die mit halboffenen Augen ebenso anfällig für Zerstreuungen sind wie mit geschlossenen Augen.

Eine andere Möglichkeit, Zerstreuungen entgegenzutreten, ist, deinen Rücken gerade zu halten. Bisher habe ich keinen wissenschaftlichen Grund dafür entdeckt, doch meine eigene und die Erfahrung anderer haben mich davon überzeugt, dass es tatsächlich hilft. Die ideale Körperhaltung ist der Lotossitz, den die Yogaschüler einnehmen: Die Beine sind übereinander geschlagen und die Füßeruhen jeweils auf dem Oberschenkel des anderen Beins, die Wirbelsäule ist gerade. Menschen, die diese Körperhaltung beherrschen, können sich – so sagt man mir – so gut konzentrieren, dass es ihnen schwerfällt, nach den Übungen ihre Denkprozesse wieder in Gang zu setzen. Diese Körperhaltung ist also ideal für Meditation und Konzentration.

Den meisten von euch wird es an der Geduld und dem Mut fehlen, diese extrem schwierige, aber nützliche Körperhaltung einzuüben. für dich wird es ausreichen müssen, entweder den Rücken gerade gegen eine senkrechte Stuhllehne zu lehnen oder auf dem Rand des Stuhls zu sitzen. Auf diese Weise wirst du den Rücken gerade halten. Das ist weniger unbequem, als es auf den ersten Blick aussieht. Im Gegenteil, nach einiger Zeit wirst du herausfinden, dass eine gekrümmte Wirbelsäule viel unbequemer ist. Und du wirst wahrscheinlich entdecken, dass eine gerade Wirbelsäule deine Konzentration sehr unterstützt. Man hat mir erzählt, die Zen-Meister brauchten nur auf den Rücken eines Meditierenden zu blicken, um festzustellen, ob er zerstreut ist. Mir scheint das ein wenig übertrieben zu sein. Ich erinnere mich an Zeiten, als mein Rücken keineswegs gerade war, und ich war trotzdem nicht zerstreut.

Einige „Befürworter des geraden Rückens“ raten sogar, dass man sich flach auf eine harte Oberfläche, etwa den Fußboden, legen soll, wenn es keine andere bequeme Möglichkeit gibt, den Rücken gerade zu halten. Das ist gewiss ein wertvoller Vorschlag und man sollte damit experimentieren. Mein einziger Vorbehalt ist, dass die Liegeposition die meisten Menschen schläfrig macht. Das beeinträchtigt die Meditation noch mehr als Zerstreuungen.

Auch wenn du dich um eine günstige Körperhaltung und Augeneinstellung bemühst, wirst du möglicherweise noch immer davon gequält, dass deine Gedanken abschweifen und sich zerstreuen. Das ist kein Grund zur Beunruhigung. Immer wieder abschweifende Gedanken sind eine lästige Störung, die den Weg eines jeden ernsthaften Kontemplativen begleitet. Der Kampf um die Disziplin der Gedanken ist lang und hart. Aber er ist es wert, gekämpft zu werden wegen der großen Früchte, die er schließlich schenkt. Und es gibt eigentlich kein anderes Mittel als Geduld und Ausdauer – und die feste Zuversicht, dass du letzten Endes doch Erfolg haben wirst, trotz so vieler Enttäuschungen und Fehler.

Folgender Vorschlag wird auch sehr hilfreich sein. Bisher habe ich kein wirksameres Mittel gegen Zerstreuungen gefunden als dieses. Ich gebe es hier in der Form einer Übung:

Schließe die Augen oder lasse sie halb offen, wenn dir das lieber ist.

Beobachte nun jeden Gedanken, der auftaucht. Man kann Gedanken auf zwei Arten begegnen: Die eine ist, du folgst ihnen wie ein kleiner Hund, der hinter allem herrennt, was in Bewegung ist, gleichgültig, in welche Richtung. Die andere Art ist, du beobachtest sie wie ein Mensch, der am Fenster steht und den Fußgängern auf der Straße zuschaut. Diese zweite Art wollen wir anwenden.

Nachdem du auf diese Weise eine Zeit lang deine Gedanken beobachtet hast, werde dir bewusst, dass du denkst. Du kannst sogar innerlich sagen: „Ich denke ..., ich denke“ oder noch kürzer: „denken ..., denken“, damit dir der Denkprozess, der in dir abläuft, bewusst bleibt.

Wenn du bemerkst, dass du nicht denkst, dann warte, bis der nächste Gedanke auftaucht. Werde dir seiner bewusst oder werde dir der Tatsache bewusst, dass du denkst.

Setze die Übung drei oder vier Minuten lang fort.

Während dieser Übung wirst du vielleicht die erstaunliche Entdeckung machen, dass alles Denken aufhört, wenn du dir der Tatsache bewusst bist, dass du denkst.

Noch ein einfaches Mittel, dass deine hin und her wandernden Gedanken zur Ruhe kommen: Halte ein und werde dir bewusst, dass du denkst. Dann wird das Denken eine Zeit lang aufhören. Wende diese Übung dann an, wenn du zerstreuter bist als gewöhnlich. Es ist fast unmöglich, nicht häufig zerstreut zu sein, wenn du den Weg der Meditation begonnen hast. Aber mit den meisten Zerstreuungen kann man fertig werden – man muss sich einfach ins Gedächtnis zurückrufen, dass man sich konzentrieren will, sobald man sich der Zerstreuung bewusst ist. Diese Übung ist nur notwendig, wenn du stärker als üblich zerstreut bist.

Es gibt eine Art von Zerstreuung, die mit starken Gefühlen aufgeladen ist: mit Liebe, Furcht, Abneigung oder einer anderen Emotion. Zerstreuungen, die ihre Ursache in solch starken emotionalen Ladungen haben, können mit der hier beschriebenen Übung kaum beseitigt werden. Dafür sind andere Methoden notwendig, die ich Später beschreibe. Du brauchst eine lange Erfahrung in der Kunst der Konzentration und der Meditation, willst du Frieden angesichts einer solchen Zerstreutheit bewahren.

Übung 5 Atem-Empfindungen

Beginne diese Übung, indem du dir fünf Minuten lang der Empfindungen in verschiedenen Teilen deines Körpers bewusst wirst ...

Dann werde dir deines Atems bewusst. Werde dir der Luft bewusst, wie sie durch die Nasenlöcher einströmt und ausströmt ...

Konzentriere dich nicht auf die Luft, wie sie in deine Lungen einströmt. Beschränke deine Aufmerksamkeit auf die Luft, wie sie durch die Nasenlöcher strömt ...

Kontrolliere nicht deinen Atem. Versuche nicht, ihn zu vertiefen. Du machst keine Atemübung, sondern eine Wahrnehmungsübung. Wenn also dein Atem flach ist, lass ihn so. Mische dich nicht ein. Beobachte ihn.

Jedes Mal, wenn du zerstreut bist, kehre mit erneuter Energie zu deiner Aufgabe zurück. Es wird dir helfen, wenn du dich zu Anfang fest entschließt, die Empfindung keines einzigen Atemzuges zu verpassen.

Setze diese Übung etwa zehn bis fünfzehn Minuten lang fort.

Die meisten Menschen finden diese Übung schwieriger als die beiden vorherigen. Doch schärft sie die Fähigkeit zur Wahrnehmung noch viel besser als jene. Sie bewirkt auch Ruhe und Entspannung. Verkrampfe nicht deine Muskeln, während du versuchst, dir deines Atems bewusst zu sein. Entschlossenheit darf nicht mit nervöser Anspannung verwechselt werden. Es soll dich nicht verwundern, dass du zu Anfang recht zerstreut bist. Aber wenn du auch noch so zerstreut bist: Die bloße Tatsache, dass du immer wieder zum Bewusstsein deines Atems zurückkehrst – allein schon die Bemühung darum –, wird vorteilhafte Wirkungen haben, die du allmählich bemerken wirst.

Wenn du in dieser Übung etwas erfahren bist, dann wende dich einer schwierigeren und wirksameren Spielart zu:

Werde dir der Empfindung bewusst, wie die Luft durch deine Nasenlöcher strömt. Spüre ihre Berührung. Bemerke, in welchem Teil der Nasenlöcher du die Berührung der Luft spürst, wenn du einatmest ... und in welchem Teil der Nasenlöcher du die Berührung der Luft spürst, wenn du ausatmest ...

 

Werde dir der Wärme oder kühle der Luft bewusst ... ihrer Kühle, wenn sie einströmt, ihrer Wärme, wenn sie ausströmt.

Vielleicht wirst du auch wahrnehmen, ob die Luftmenge, die durch ein Nasenloch strömt, größerist als jene, welche durch das andere strömt ...

Achte auf die leichteste Berührung der Luft in deinen Nasenlöchern, wenn du einatmest und ausatmest ... empfinde sie ...

Führe diese Wahrnehmungsübung zehn bis fünfzehn Minuten lang durch.

Die Zeitspanne, die ich für jede Übung vorschlage, gibt das Minimum der Zeit an, die du brauchen wirst, um eine Vorstellung von dem Wert dieser Übung zu bekommen und um von ihr zu profitieren. Je mehr Zeit du aufbringen kannst, desto fruchtbarer wird jede Übung für dich sein.

Noch ein Hinweis: Mache diese Übung, die Wahrnehmung des Atems betreffend, nicht viele Stunden an zwei oder drei Tagen hintereinander. Möglicherweise wird sie dir großen Frieden und ein Gefühl von Tiefe und Fülle bringen, das du wunderbar findest, und du möchtest sie vielleicht bei stillen Exerzitientagen viele Stunden lang üben. Davon solltest du absehen, es sei denn, du hast einen kompetenten Führer neben dir. Ich sage das deshalb, weil intensive Konzentration auf eine so subtile Verrichtung wie das Atmen wahrscheinlich Halluzinationen bewirkt oder Inhalte aus dem Unbewussten heraufzieht, die du nicht unter Kontrolle halten könntest. Die Gefahr ist allerdings nicht groß und es ist nicht wahrscheinlich, dass jemand diese Art von Übung stundenlang betreibt; aber es ist besser, dass ich dich darauf aufmerksam mache. Ich kann den Wert dieser Übung nicht genug rühmen. Sie ist besonders für jene Menschen geeignet, die Frieden und Selbstbeherrschung und einen tiefen inneren Frieden inmitten von Schwierigkeiten suchen. Ein berühmter orientalischer Meister sagte häufig zu seinen Schülern: „Dein Atem ist dein bester Freund. Kehre zu ihm zurück in allen deinen Schwierigkeiten und du wirst Trost und Führung finden.“ Ein geheimnisvolles Wort – und du wirst ihm wohl zustimmen, nachdem du dich lange genug darum bemüht hast, die schwierige Kunst der Wahrnehmung zu meistern.

Wahrnehmung und Meditation

Vielleicht sollte ich hier auf einen Einwand eingehen, der manchmal in meinen Meditationsgruppen gemacht wird: Diese Wahrnehmungsübungen würden uns zwar helfen, uns zu entspannen, hätten aber nichts mit Meditation (so wie wir Christen das Wort verstünden) zu tun und seien gewiss nicht Gebet.

Ich werde versuchen zu erklären, wie diese einfachen Übungen als Meditation im strengen christlichen Sinn aufgefasst werden können. Wenn dich die Erklärung nicht zufriedenstellt oder nur Probleme schafft, dann schlage ich vor, dass du alles, was ich zu diesem Thema sage, ignorierst und diese Wahrnehmungsübungen nur als eine Vorbereitung für Gebet und Meditation durchführst. Oder lass diese Übungen ganz weg und wende dich anderen in diesem Buch zu, die dir mehr zusagen.

Zuerst möchte ich erklären, was ich mit den Worten „Gebet“ und „Meditation“ meine. „Gebet“ bedeutet für mich Kommunikation mit Gott durch Worte, Bilder und Gedanken. Später werde ich viele Übungen anbieten, die in diese Kategorie des „Gebets“ gehören. Meditation ist Kommunikation mit Gott, eine Kommunikation, die den sparsamsten Gebrauch von Worten, Bildern und Ideen macht oder ganz auf sie verzichtet. Von dieser Meditation sprechen etwa Johannes vom Kreuz in seinem Werk „Die dunkle Nacht der Sinne“ und der Autor der „Wolke des Nichtwissens“. Einige Übungen, die ich im Zusammenhang mit dem Jesusgebet anbiete, kannst du entweder als Gebet oder als Meditation auffassen oder aber als Vereinigung von beiden, je nachdem, wie viel Gewicht du auf Worte und Gedanken legst.

Und nun zum Kern unseres Problems: Ist es Kommunikation mit Gott, wenn ich mich in die bewusste Wahrnehmung meiner Körperempfindungen und meiner Atemvorgӓnge einübe? Die Antwort lautet: Ja. Ich will erlӓutern, was für eine Art Kommunikation mit Gott es ist, die in diesen Wahrnehmungsübungen stattfindet.

Viele Mystiker erklären, dass wir außer Verstand und Herz, mit denen wir gewöhnlich mit Gott in Kommunikation treten, auch einen mystischen Verstand und ein mystisches Herz besitzen: ein Vermögen, das uns unmittelbar mit Gott in Beziehung setzen kann, mit dem wir Gottes eigentliches Wesen fassen und intuitiv erkennen – wenn auch auf „dunkle“ Weise, das heißt, ohne die Hilfe von Gedanken, Ideen und Bildern.

Gewöhnlich sind alle unsere Beziehungen zu Gott mittelbar – gebrochen durch Bilder und Ideen, die notwendigerweise Seine Wirklichkeit verzerren. Es ist das Privileg dieses Vermögens, Gott jenseits von Gedanken und Bildern erfassen zu können. Ich nenne es das mystische Herz (ein Wort, das der Autor der „Wolke des Nichtwissens“ gern benutzt hat); es hat freilich nichts mit unserem Körperlichen Herzen oder unseren Gemütsbewegungen zu tun.1

1 Das englische heart ist als „körperliches Herz„, Heart im englischen Original (mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben) als „mystisches Herz“ wiedergegeben. (Anm. d. übers.)

Dieses mystische Herz bleibt in den meisten von uns untӓtig und unentwickelt. Würde es erweckt, strebte es stӓndig hin zu Gott und würde unser ganzes Wesen zu ihm hintreiben. Doch dafür muss es sich entfalten können; die Schlacke, die es umgibt, muss entfernt werden, damit es vom Ewigen Magneten angezogen werden kann.

Die Schlacke ist die große Anzahl von Gedanken und Worten und Bildern, die wir stӓndig zwischen uns und Gott stellen, wenn wir mit ihm verkehren. Worte hindern manchmal die Kommunikation und Innigkeit des Verhӓltnisses, statt sie zu fürdern. Schweigen – in Worten und Gedanken – kann manchmal die machtvollste Art der Kommunikation und Vereinigung sein, wenn die Herzen voll Liebe sind. Unsere Kommunikation mit Gott ist jedoch nicht ganz so einfach. Ich kann liebevoll in die Augen eines vertrauten Freundes blicken und mit ihm jenseits aller Worte einig sein. Doch wohin soll ich schauen, wenn ich schweigend auf Gott blicke? Auf eine bildlose, gestaltlose Wirklichkeit, in eine Leere!

Gerade das wird von jenen verlangt, die in tiefe Gemeinschaft mit dem Unendlichen, mit Gott, sinken wollen: stundenlang in eine Leere blicken! Einige Mystiker empfehlen, dass wir liebevoll in diese Leere blicken. Und es verlangt sehr viel Glauben, in Liebe und Sehnsucht auf etwas zu blicken, das uns zunächst wie ein Nichts erscheint.

Selbst wenn du ein tiefes Verlangen spürst, stundenlang in diese Leere zu blicken, wirst du im Allgemeinen mit ihr gar nicht erst in Berührung kommen, falls deine Gedanken nicht zur Ruhe gekommen sind. Solange deine Gedankenmaschine Millionen von Gedanken und Worten ausspuckt, werden dein mystischer Verstand und dein mystisches Herz unentwickelt bleiben. Wie scharf sind das Gehör und der Tastsinn eines Blinden! Er hat sein Augenlicht verloren und das hat ihn gezwungen, das Vermögen seiner übrigen Sinne zu entwickeln. Etwas Ähnliches geschieht im mystischen Bereich. Wenn wir sozusagen gedankenblind werden, einen Verband über unseren Verstand legen könnten, während wir mit Gott in Beziehung treten, dann wären wir genötigt, ein anderes Mittel der Kommunikation zu entwickeln – eben jenes Vermögen in uns, das, wie viele Mystiker sagen, ohnehin schon zu Gott hin drӓngt: das mystische Herz.

Wenn unser mystisches Herz seinen ersten unmittelbaren, dunklen Blick auf Gott tut, ist das wie ein Blick in die Leere. Menschen, die diese Stufe erreichen, beklagen sich häufig: Sie könnten nichts beim Gebet tun; sie vergeudeten ihre Zeit; nichts würde geschehen; sie seien in vollkommener Dunkelheit. Um diesem unangenehmen Zustand zu entkommen, kehren sie leider wieder zum Denken zurück, sie nehmen den Verband von ihrem Verstand ab, beginnen, an Gott zu denken und mit ihm zu sprechen – tun gerade das, was sie nicht tun sollten.

Wenn Gott gnӓdig zu ihnen ist – und er ist es sehr häufig –, dann wird er ihnen nicht erlauben, beim Gebet ihre Gedanken zu gebrauchen. Sie werden eine Abneigung gegenüber allen Gedanken empfinden: Gesprochene Gebete werden ihnen unertrӓglich, weil Worte bedeutungslos erscheinen. Sie fühlen eine geistige Trockenheit, sobald sie versuchen, mit Gott auf irgendeine Weise außerhalb des Schweigens in Verbindung zu treten. Und anfangs ist sogar dieses Schweigen schmerzlich und trocken. Dann verfallen sie vielleicht dem größten Übel, das es gibt: Sie geben das Gebet ganz auf, denn sie sehen sich genötigt, zwischen der Frustration, dass sie nicht ihre Gedanken gebrauchen dürfen, zu wählen und dem hohlen Gefühl, Zeit zu vergeuden und nichts zu tun in jener Dunkelheit, die sie umgibt, wenn sie ihre Gedanken beruhigt haben.

Wenn sie dieses Übel vermeiden, in der Einübung des Gebets aushalten und sich in blindem Glauben dieser Leere, der Dunkelheit, der Untӓtigkeit, dem Nichts aussetzen, werden sie allmählich entdecken – zunächst in kurzen Durchblicken, Später auf eine dauerhaftere Weise –, dass im Dunkeln ein Licht glimmt, dass die Leere auf geheimnisvolle Weise ihr Herz erfüllt, die Untӓtigkeit erfüllt ist mit Gottes Taten und dass im Nichts ihr Wesen neu erschaffen und geformt wird ..., und zwar alles auf eine Weise, die sie weder sich selbst erklären noch anderen beschreiben können. Nach jeder Zeit des Gebets oder der Meditation wissen sie nur eines: Etwas Geheimnisvolles ist geschehen, das sie erfrischt und gestärkt hat und ihnen ein besonderes Wohlempfinden bringt. Sie bemerken in sich einen verzehrenden Durst, zu dieser dunklen Meditation zurückzukehren, die sinnlos erscheint und sie trotzdem mit Leben erfüllt, sogar mit einer sanften Berauschung, die sie mit ihren Gedanken schwer verstehen, mit ihren Gefühlen nicht erreichen und die dennoch unabweisbar anwesend ist – und so wirklich und befriedigend, dass sie sie mit keiner Berauschung, welche die Welt der Sinne und Gefühle und Gedanken bietet, vertauschen wollten. Seltsam, dass zu Anfang die Kontemplation so trocken und dunkel und langweilig erschien!

Willst du diesen Zustand erreichen und in das mystische Dunkel tauchen, willst du Gott in diesem mystischen Herzen begegnen, dann musst du zuerst ein Mittel finden, deine Gedanken zur Ruhe zu bringen. Es gibt einige vom Glück begünstigte Menschen, die diesen Zustand spontan erreichen; sie brauchen ihr diskursives Denken und ihre Worte nicht aufzugeben. (Es ist wichtig, dass du das weißt, damit du nicht glaubst, jeder, der sich in der Meditation übt, müsse unbedingt durch dieses Stadium der Dunkelheit gehen.) Sie sind wie Menschen, deren Gehör und deren Tastsinn so scharf ist wie der eines Blinden, die aber trotzdem ein vollkommen gesundes Sehvermögen haben. Sie lieben mündliche Gebete, sie profitieren vom Gebrauch der Fantasie im Gebet, sie lassen ihren Gedanken freien Lauf, wenn sie mit Gott verkehren, und inmitten all dieser Tätigkeit blüht ihr mystisches Herz auf und erkennt intuitiv das Göttliche unmittelbar.

Wenn du nicht zu diesen begünstigten Menschen gehörst, must du dein mystisches Herz selbst gezielt entfalten. Direkt kannst du überhaupt nichts tun. Du kannst nur dein diskursives Denken zum Schweigen bringen: alle Gedanken und Worte abwehren, wenn du betest, und dem mystischen Herzen den Freiraum geben, sich von allein zu entfalten.

Es ist sehr schwierig, die Gedanken zum Schweigen zu bringen. Wie mühsam, den Verstand vom Denken, vom immerwährenden Denken, von der Produktion immer neuer Gedankenketten abzuhalten! Unsere Hindu-Meister kennen ein Sprichwort: Ein Dorn im Fleisch kann mit einem anderen Dorn herausgezogen werden. übertragen heißt das, dass du dich eines Gedankens bedienen kannst, um alle anderen Gedanken, die im Kopf wimmeln, loszuwerden. Ein Gedanke, ein Bild, ein Ausdruck (oder Satz oder Wort), woran sich dein Verstand festhalten kann. Denn es ist nutzlos, bewusst zu versuchen, den Verstand in einem gedankenlosen Zustand zu halten. Der Verstand braucht einen Gegenstand. Nun, so gib ihm etwas, woran er sich halten kann – doch nur eine Sache. Ein Bild des Heilands, worauf du voll Liebe schaust und zu dem du jedes Mal zurückkehrst, wenn du dich zerstreut fühlst; ein Stoßgebet, das du fortwährend wiederholst, um wandernde Gedanken zu unterbinden. Gewiss kommt die Zeit, in der das Bild aus deinem Bewusstsein verschwindet, das Wort aus deinem Mund genommen, dein diskursiver Verstand ganz schweigsam wird und dein mystisches Herz ungehindert und frei in das Dunkel schauen kann.

 

Du musst eigentlich gar nicht bis zu diesem Zustand gelangen, in dem alle Bilder und Worte verschwinden, damit sich dein mystisches Herz entfalten kann. Es ist schon eine große Hilfe, wenn die Tätigkeit des diskursiven Verstandes drastisch verringert wird. Selbst wenn du niemals den bildund wortlosen Zustand erreichst, wird sich wahrscheinlich deine Kontemplation vertiefen.

Du wirst bemerkt haben, dass die beiden Methoden, die ich vorschlage: nämlich auf ein Bild des Heilands blicken und ein Stoßgebet stӓndig wiederholen, offenkundig religiöser Art sind. Vergiss aber nicht, dass diese Übung nicht auf die Betätigung des diskursiven Verstandes hinzielt, sondern auf die Entfaltung des mystischen Herzens. Ist das einmal erreicht, kommt es dann darauf an, ob der Dorn, mit dem du die anderen Dornen entfernt hast, ein „religiöser Dorn“ ist? Wenn du dein Dunkel mit Licht erhellen willst, ist es dann wichtig, ob es eine geweihte oder ungeweihte Kerze ist? Kommt es darauf an, ob du dich auf ein Bild des Heilands oder aber auf ein Buch, ein Blatt oder auf einen Punkt auf dem Fußboden konzentrierst? Ein Jesuitenfreund, der gern mit solchen Dingen experimentiert und allen religiösen Theorien mit einem gesunden Maß an Skepsis begegnet, versichert mir, dass er nur unablässig rhythmisch „eins-zwei-dreivier“hersagt und damit dieselben mystischen Wirkungen erreicht, zu denen seine frömmeren Mitbrüder durch die rhythmische Wiederholung eines Stoßgebets gelangen! Und ich glaube ihm. Zweifellos hat der „religiöse Dorn“ einen sakramentalen Wert. Doch unseren Hauptzweck erfüllt ein Dorn so gut wie jeder andere.

Das bringt uns zu der scheinbar beunruhigenden Schlussfolgerung, dass Konzentration auf deinen Atem und auf deine Körperempfindungen gute und richtige Meditation im strengen Sinn des Wortes ist. Diese meine Theorie wurde mir von einigen Jesuiten bestätigt, die die Dreißigtägigen Exerzitien unter meiner Anleitung machten. Sie hatten sich bereit erklärt, neben den sogenannten Ignatianischen Exerzitien, die fünf Stunden pro Tag in Anspruch nehmen, sich weitere vier oder fünf Stunden ins Bewusstsein des Atems und der Körperempfindungen einzuüben. Ich war nicht erstaunt, als sie mir erzählten, dass die Wahrnehmungsübungen (sobald sie ihnen etwas vertraut waren) dieselbe Wirkung hatten wie die Übungen, die wir Katholiken „Gebet des Glaubens“ und „Gebet der Ruhe“ nennen. Die meisten versicherten mir sogar, dass diese Wahrnehmungsübungen ihre früheren Gebetserfahrungen vertieften, dass sie diesen mehr Kraft und Schärfe gaben.

Nach diesem Kapitel biete ich Übungen an, die eher religiös geprägt sind und die Vorbehalte jener zerstreuen werden, die nicht den größten Teil ihrer Gebetszeit mit Wahrnehmungsübungen verbringen möchten. Diese eher religiös geprägten Übungen haben aber dieselben Wirkungen. Sie beinhalten ein sehr geringes Maß an Gedankentätigkeit; diese fehlt den Wahrnehmungsübungen vollständig. Wenn du dich also bei ihnen wohler fühlst, zögere nicht, ihnen den Vorzug zu geben.

Mit Absicht habe ich im letzten Abschnitt den Ausdruck „den größten Teil deiner Gebetszeit“ gebraucht. Ich rate nämlich nicht dazu, dass du die gesamte Zeit des Gebets – deine Kommunikation mit Gott durch Worte, Bilder und Ideen – zugunsten reiner Meditation aufgibst. Einmal ist die Zeit für das Gebet, ein andermal für die Meditation günstig, genauso wie es eine Zeit gibt für Aktivität und eine für Kontemplation. Alles hat seine Zeit. Achte nur darauf, dass du während der Meditationszeit nicht der Versuchung zu denken nachgibst, und seien deine Gedanken noch so heilig. Genauso wie du während deiner Gebetszeit heilige Gedanken, die deine Arbeit betreffen, abwehren würdest; sie haben ihren Wert zu bestimmten Zeiten, doch zerstreuen sie dein Gebet. Du musst also während der Zeit der Meditation alle Arten von Gedanken entschieden abwehren, weil sie diese besondere Form der Kommunikation mit Gott zerstören. Du musst dich der göttlichen Sonne in Schweigen offen halten, aber du sollst nicht über die Schönheit und die Eigenschaften der Sonnenstrahlen nachdenken. Du musst liebevoll in die Augen deines göttlichen Geliebten blicken, ohne diese Vertrautheit mit Worten und Gedanken über ihn zu stören. Die Kommunikation durch Worte musst du getrennt davon halten. Meditation ist die Zeit wortloser Kommunikation.

In einem wichtigen Punkt kann ich dir leider in diesem Buch keine Anleitung geben. Dafür brauchst du die Führung eines erfahrenen Meisters, der deine spirituellen Bedürfnisse kennt. Es geht darum, wie du deine Zeit zwischen Gebet und Meditation aufteilen sollst. Das wirst du am besten zusammen mit deinem Seelenführer entscheiden. Er wird dir auch in der Entscheidung beistehen, ob du diese Art von Meditation überhaupt üben sollst. Vielleicht bist du einer jener vom Glück begünstigten Menschen, von denen ich vorhin sprach, deren Tastsinn und Gehör sehr fein sind, obwohl sie niemals auf ihr Augenlicht verzichten mussten; deren mystisches Herz den tiefsten Umgang mit Gott pflegt, während sie mit ihm sprechen und an ihn denken; die nicht den Zustand des Schweigens brauchen, um jene Innigkeit mit ihrem Geliebten zu erlangen, die andere nur durch Schweigen finden.

Wenn du keinen Seelenführer finden kannst, bitte Gott, dich zu führen, und beginne damit, jeden Tag ein paar Minuten der Meditation zu widmen. Dabei kannst du die Wahrnehmungsübungen gebrauchen oder andere einfachere Übungen, die ich noch erkläre.Versuche auch in der Zeit, die du dem Gebet widmest, weniger zu denken und bete mehr mit dem Herzen. Die heilige Teresa von Avila hat oft gesagt: „Nicht viel zu denken ist wichtig, sondern viel zu lieben.“ Darum liebe viel in deiner Gebetszeit. Und Gott wird dich führen, sogar durch Zeiten der Versuchungen und Verfehlungen.

Übung 6 Gott in meinem Atem

Im letzten Kapitel hatte ich versprochen, einige Übungen anzubieten, die ausdrücklich religiös sind und dennoch viele der Vorteile von Wahrnehmungsübungen haben. Hier ist eine:

Schließe die Augen und übe dich eine Weile in die Wahrnehmung der Körperempfindungen ein...

Werde dir dann deines Atems bewusst, so wie es in der letzten Übung erklärt wurde, und bleibe einige Minuten lang dabei ...

Bedenke nun, dass die Luft, die du einatmest, mit der Kraft und der Gegenwart Gottes erfüllt ist ... Stelle dir die Luft als ein riesiges Meer vor, das dich umgibt ... ein Meer, ganz gefärbt von Gottes Gegenwart und Sein ... Die Luft, die du einatmest, ist Gott, du atmest Gott ein ...

Sei dir bewusst, dass du die Kraft und die Gegenwart Gottes in dich einziehst, wenn du einatmest, jedes Mal ... Bleibe in dieser Wahrnehmungsübung, solange du kannst ...

Was geht in dir vor, wenn du dir bewusst wirst: „Mit jedem Atemzug ziehe ich Gott in mich hinein“? ...

Eine Variante zu dieser Übung: Wir benutzen einen anderen Gedanken, und zwar einen aus dem Gesichtskreis der Hebräer während der biblischen Zeit. für sie war der Atem das Leben des Menschen. Starb ein Mensch, so hieß es: „Gott hat ihm seinen Atem genommen.“ Deshalb musste er sterben. Solange ein Mensch lebte, bedeutete das, dass Gott ihm immer neu seinen Atem, seinen „Geist“, gab. Diese Anwesenheit von Gottes Geist erhielt den Menschen am Leben.

Während du einatmest, spüre, wie Gottes Geist in dich eintritt ... Fülle deine Lungen mit der göttlichen Energie ...

Während du ausatmest, stelle dir vor, dass du alle deine Unreinheiten ausatmest ... deine Ängste ... deine negativen Gefühle ...

Stelle dir vor, wie dein ganzer Körper leuchtend und lebendig wird, weil du Gottes lebenspendenden Geist einatmest und alle deine Unreinheiten ausatmest ...

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