Buch lesen: «Apokalyptische Variationen», Seite 6

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V

Die von Obstbäumen gesäumte Landstraße lief geradewegs auf die blauen Berge zu. Auf den Gipfeln der Berge dämmerten die ordentliche Überreste von Burgen vor sich hin, über die die frühlingshaften Strahlen der Mittagsonne wanderten. Die dunkelhaarige Frau zog einen Handwagen. In dem Handwagen lagen wackelnd ein zerschlissener Koffer und ein müder kleiner Junge. Lastwagen sausten in beiden Richtungen über die Landstraße, sodass von dem Staub die Zöpfe der Frau die Farbe von Asche angenommen hatten. Während die Frau mit gleichförmigen Schritten vor sich hin schlurfte, kaute sie an ihrer Oberlippe. Diese beständige Grimasse ihrer unteren Gesichtshälfte hatte der Tod im Keller des kleinen Hotels hervorgebracht. Weinen wollte die Frau nicht. Ihre Augen schmerzten vor Trockenheit. Nicht einmal mehr von den Sandkörnern konnten sie gereizt werden, die die Reifen der Lastwagen aufwirbelten. Der Junge hatte Angst vor dem seltsamen Gesicht seiner Mutter.

»Was kaust du so?«, hatte er gefragt, als die beiden das eingestürzte Haus, das Grab seines Vaters, verließen.

»Was?!«, schrie die Mutter auf, und der Junge fragte nicht noch einmal. Die beiden gingen nebeneinander her, und er bemühte sich, nur nach vorn zu schauen. Ihre ständig sich bewegenden Lippen weckten Neugier und Unruhe in ihm.

»Warum tut sie das, und warum ist Vater …«

Nach zwei Wegstunden war er müde, bekam einen Klaps auf den Rücken und wurde in den Handwagen geworfen. Jetzt schlummerte er, so wie jedes schlecht ernährte Kind. Die dunkelhaarige Frau zog den Handwagen auf der von Obstbäumen gesäumten Landstraße, und die ordentlichen Überreste der Burgen auf den Gipfeln kamen langsam näher.

Als die Frühlingssonne deutlich höher stand, kamen die beiden an eine Brücke über einen großen Fluss. Hier, an der massiven steinernen Brüstung, blieb die Frau stehen. Hier ließen sich die beiden in das frische grüne Gras fallen, das nach Jugend duftete, und aßen kümmerliche Brotkanten. Die Lastwagen pfiffen an ihnen vorüber, und unten floss langsam das stählerne Wasser.

Die Frau kaute noch immer an ihren Lippen. Sie wollte sich ein wenig beruhigen, sie biss schmerzhaft mit den Zähnen zu und starrte auf die Welt. Sie konnte deutlich die Sonne sehen, die Lastwagen, die blauen Berge, die Überreste der Burgen, die massive steinerne Brücke. Auf der Brücke schaukelte ein zerstörter kahler Hinterkopf. Der zerschmetterte Kopf kam näher, er verdeckte die Welt. Die blauen Berge, die Überreste der Burgen, die Lastwagen und die Sonne verschwanden. Dieser Kopf war riesig, und neben ihm flatterten die Seiten der Weltgeschichte. Die Buchseiten wirbelten in sich nähernden Kreisen umher, und die dunkelhaarige Frau stand auf und begann über die Brücke zu rennen. Sie rannte schnell, so schnell, dass der Junge »Mama« schrie und sie nicht einholen konnte.

Die Frau und das Kind rannten über die Brücke, und die Lastwagen pfiffen an ihnen vorüber, und hoch oben schien froh die Sonne, und in der Ferne standen verträumt die ordentlichen Überreste der Burgen. »Mama«, hallte es in den Feldern, »Mama, warte!« Seine Beinchen wackelten schnell, sehr schnell …

VI

Genau ein Jahr später saß die Frau mit dem gefärbten Haar in ihrem weichen Sessel, knüllte im Schattenspiel der bestirnten Kaugummireklame den Stofffetzen zusammen, der sich früher einmal Kleid genannt hatte, und dachte über das ungeklärte Problem des Todes nach. Ihr ursprünglicher Schmerz war abgeklungen, und die Gleichgültigkeit, die ihn verdrängt hatte, war bedrückend. Genau ein Jahr – nichts als die Arbeit. Nur manchmal ein belangloses Vergnügen – Kino oder Baden, sonst nichts. Nein, dieser quälende Fetzen, der sich früher einmal …

Es klingelte, lange und hartnäckig, wie vor einem Jahr. Wie vor einem Jahr rappelte sich die Frau aus dem Sessel auf, nur dieses Mal mit ruhigen, bedachten Bewegungen, sie drückte auf den Lichtschalter und betrachtete sich im Spiegel. Ihre schlanke Figur und das gepflegte Gesicht waren schön. Ihre üppigen, verheißungsvollen Lippen waren gerötet, und das gefärbte Haar passte zu dem frisch gepuderten Oval. Die Frau ging mit festen, gleichmäßigen Schritten in den Flur. Das einzige Anzeichen ihrer Geistesabwesenheit war der Stofffetzen in ihrer linken Hand. Vor der Tür, im trüben Licht des Korridors, warfen zwei bebrillte, schmächtige Wesen mit Wörtern um sich. Sie faselten etwas von der Armut im fernen Europa, von Hilfsgütern, von Kleidung. Die Frau mit dem gepflegten Gesicht verstand nicht gleich, was man von ihr wollte. Da zeigte eines der schmächtigen Wesen auf den zerknitterten Stofffetzen in ihrer Hand und erstarrte erwartungsvoll. So standen die drei menschlichen Gestalten eine Weile herum. Dann schleuderte die eine – die mit dem gepflegten Gesicht – das ehemalige Kleid fort. Die Brillenträger fingen es geschickt auf und verschwanden wieder faselnd im Fahrstuhl. Die Zurückgebliebene klammerte sich an die Tür, ihrer Kehle entwich ein seltsames Geräusch. Plötzlich kamen ihr die Tränen, es waren so viele, dass Puder, Creme und Lippenstift zu einer bunten Masse zusammenliefen. Diese menschliche Maske im trüben Licht des Korridors war furchtbar und alt. Vor Tausenden von Jahren haben mit den gleichen furchtbaren Masken im trüben Schein der verlöschenden Feuerstellen die Urfrauen vor Schmerz geschrien, die ihre Männer – die Krieger – verloren hatten.

Und hinter den Wänden brüllte in den verschiedensten Tonlagen die Stadt. Die Stadt, die den Frieden liebte. Den Lärm. Das Geld. Den schnellen Tod.

VII

Eineinhalb Jahre später stand die Frau mit den glänzenden Zöpfen in einer Schlange an. Sie wohnte jetzt mit ihrem Jungen in einer Kaserne, in der Ecke eines riesigen Raums, die sie mit Decken abgetrennt hatte. Sie lebte so wie viele, die ihre Heimat verloren hatten. Ihr ursprünglicher Schmerz war abgeklungen, und die Gleichgültigkeit, die ihn verdrängt hatte, war bedrückend. Heute stand sie Schlange; heute wurden aus dem fernen Amerika geschickte Kleidungsstücke verteilt. Die Schlange wurde allmählich von dem dunklen Korridor der Kaserne geschluckt. Am Ende des Korridors öffnete sich hin und wieder eine Tür, und die Wartenden wurden in ein kleines Zimmer eingelassen. Dort lagen in Haufen Jacken und Kleider durcheinander. Mit einer Losnummer erhielt die dunkelhaarige Frau ein Bündel, das sich früher einmal Kleid genannt hatte.

Sie kehrte in ihre Ecke zurück, legte den geschenkten Schatz auf den Tisch und glättete ihn sorgfältig. Die dicke, schwere Seide gefiel ihr. Nur das Muster schien etwas zu prunkvoll. Und außerdem war das Kleid offenbar beim Versand, wie sie meinte, in der Mitte fast bis zur Taille auseinandergerissen. Gott sei Dank ließ sich dieser Mangel kaschieren. Die Frau suchte schnell aus einer Tabakdose Nadel und Faden heraus. Sie wunderte sich, dass sie sich heute zum ersten Mal geschickt und sorglos bewegen konnte. Das Fenster war geschlossen, sie öffnete plötzlich beide Flügel. Vor dem Fenster stand eine Linde, der würzige Geruch beschleunigte ihren Herzschlag.

Ach, dieser unablässige Wunsch zu leben. Es war Samstagnachmittag, gegen die abblätternden Wände schlug der Lärm des Lagers. Irgendjemand spielte auf dem Akkordeon eine polternde kleine Polka, irgendjemand spielte auf dem Platz mit lautem Geschrei Basketball, dort kreischte wahrscheinlich auch ihr Sohn herum, und an den Mauern der Kaserne rankten bis zum Dach hinauf die blechernen kleinen Ofenrohre der Lagerbewohner. Die Frau nähte schnell, nach nur einer Viertelstunde war von dem Riss nichts mehr zu sehen. Nun zog sie ihr abgetragenes graues Kostüm aus (das noch aus Litauen war) und schlüpfte in das neue Kleid. Am Fenster, neben dem Kruzifix, hing eine Spiegelscherbe. Die Frau drehte sich um sich selbst. Das Kleid war wie für sie genäht.

Ach, dieser unablässige Wunsch zu leben! Wahrscheinlich zum ersten Mal nach eineinhalb Jahren betrachtete sie sich aufmerksam. Das Gesicht der Frau kam ganz nah an die Scherbe heran. Ihre Zöpfe glänzten noch immer, ihre Augen funkelten leidenschaftlich! Nur diese winzigen Fältchen waren neu, aber sie waren im grellen Sonnenlicht nicht allzu sehr zu sehen. Sie versuchte sich selbst zuzulächeln und sah, dass ihre Lippen zittern. Sie sah sich auf die Lippen beißen, und von der Grimasse ihrer unteren Gesichtshälfte kamen ihr die Tränen. Die Frau ließ sich auf das Kasernenbett fallen. Die Tränen kamen ihr plötzlich, es waren viele, ihre Gesichtsmuskeln verkrampften sich zu einem unaufhaltsamen Tanz. Diese menschliche Maske im grellen Sonnenlicht war furchtbar und alt. Vor Tausenden von Jahren haben mit den gleichen furchtbaren Masken vor Schmerz die Urfrauen geschrien, die ihre Männer – die Beschützer – verloren hatten.

Auf dem armseligen Bett wand sich eine von glänzenden Zöpfen gekrönte Frau, und mit ihr wanden sich die üppigen bronzefarbenen Blumen, die ein wenig aussahen wie Sonnenblumen.

IM KRANKENHAUS

Schwester Rosa mit dem schwarzen Nonnengewand stößt den länglichen Spucknapf an:

»Spuck aus, Wolfgang!«

Wolfgang ist drei Jahre alt. Er ist schwach, seine Beinchen zittern, und er schläft nachts schlecht. Ihm fehlt Brot. Wolfgang träumt beim Schlafen oft von Brot. Riesige Brotstücken schweben von unten nach oben und verschwinden direkt vor seiner Nase. Am Anfang greift er mit seinen welken Händchen in die Luft, und wenn er endgültig erwacht ist, steht er auf, klammert sich an die Bettkante und wimmert monoton:

»Brot, Brot, Brot …«

Ungefähr fünfzig Mal. Bis er müde wird und einschläft.

Wolfgang kann nicht essen. In seiner Kehle sind Wunden. Man flößt ihm Milch mit einem kleinen Gummischlauch ein, der in seinen Magen führt. Doch dieses Essen reicht nicht aus, er kann das wunderbare Glück des Kauens nicht vergessen. Wenn zwischen den Zähnen sättigende Stücken zermalmt werden. Deshalb lungert er tagsüber auf seinen dünnen Beinchen im Krankenzimmer herum und wimmert und sucht.

Manchmal schafft er es, einen kleinen Bissen zu stehlen. Im Krankenzimmer sind sechzehn Kinder, und Schwester Rosa ist immer beschäftigt. Wolfgang ist geschickt, denn er hat nur einen Wunsch. Sein kleines Gehirn arbeitet auf Hochtouren in einer einzigen Richtung:

»Kau-en!«

Er ist schmächtig wie ein KZ-Häftling, an der Stelle seines Hinterns hängen zwei schlaffe Säckchen. Er hat noch immer schöne dunkle Augen und, wahrscheinlich von der Auszehrung, dichte Wimpern und flaumbedeckte wächserne Wangen. Seine Lippen sind nach vorn gewölbt, rund wie der Buchstabe O, aus ihnen lugt ständig die blaue Zungenspitze hervor.

Sein kleines Gehirn und die untere Gesichtshälfte arbeiten in derselben Richtung – kauen. Wolfgang lungert im Krankenzimmer herum und verschlingt, was kommt. Vergessene Suppe von einem Teller (mehr als den Löffel vergisst hier eigentlich niemand), einen zertretenen Krümel vom Fußboden und – sein wichtigster Traum – Brot. Wenn er ein Stückchen erblickt, Kinder sind manchmal ungeschickt, bleibt er stehen und versucht sich zu beruhigen. Jawohl, dieser genesende Bengel da schlägt seinen Nachbarn mit dem Löffel auf den Kopf, weil dieser ihm die Suppe weggenommen hat. Genesende Kinder sind gierig, und das Essen im Krankenhaus ist schlecht. Wolfgang steht ruhig da, er zwinkert nicht, seine Pupillen weiten sich, und der Buchstabe O ist noch runder. Neben dem Ellenbogen des Schlägers liegt ein großes Stück Brot. Wolfgang atmet nicht, er wendet den Kopf in Richtung Fenster, als sei es ihm gleichgültig, als würde er dort, vor dem Fenster, die vergilbten Kastanien betrachten. Und er geht langsam und gleichmütig an dem erregten Schläger vorüber, um sich im richtigen Moment schnell umzudrehen und zuzufassen. Er greift sich das wunderbare Stück Brot, stopft es sich in den Mund und verschlingt es gierig, auf dem Fußboden hingekauert, wie ein Verehrer von Buddha. Ihm ist es egal, dass der Schläger nun ihm mit dem Löffel auf den Kopf haut, ihm ist es egal, dass Schwester Rosa angerannt kommt, völlig egal. Er kaut das größte Wunder auf der Welt: deutsches Ersatzbrot.

Doch sein Glück währt nicht lang. Der zerkaute Leckerbissen gelangt nicht in seine Därme, er bleibt ihm in der Kehle stecken. Wolfgangs Gesicht läuft pflaumenfarben an, er krächzt wie eine Krähe, seine Augen sind rasend vor Auflehnung, doch die zerkauten Stücke plumpsen in den von Schwester Rosa rechtzeitig hingehaltenen Spucknapf.

»Spuck aus, Wolfgang!«

Oh, wie sehr er die von ihrer angenehmen Stimme gesprochenen Wörter und die längliche emaillierte Schale hasst!

Manchmal kommt ihm immer wieder aufs Neue der Gedanke: Zwei Dinge auf der Welt sind überflüssig. Schwester Rosa und der Spucknapf. Sie müssen aus dem hellen, blankgeputzten Zimmer entfernt werden. Leider ist Rosa groß gewachsen und stark. Sie kann Wolfgang mit einem Arm anheben. Wenn er mit seinen geballten Fäustchen auf ihre weiche Brust schlägt, erlahmt er sehr schnell, und Schwester Rosa lacht nur, und zusammen mit ihr kreischen alle Kinder. Schwester Rosa kann man nicht beseitigen. Aber der Spucknapf kann sich nicht wehren und er ist klein, ihn kann man aus dem Fenster werfen, wenn es keiner sieht.

Diese Tat vollbringt Wolfgang. Der schwäbische Herbst ist ruhig und warm, die Fenster stehen hier nach deutscher Sitte häufig offen, das Krankenzimmer der kindlichen Heulsusen liegt in der dritten Etage, und davor ist die goldene Krone einer Kastanie zu sehen.

Wolfgang vollbringt die kühne Tat während die genesenden Kinder gierig Mittag essen, eine wässrige Nudelsuppe, und Schwester Rosa die Bettlägerigen füttert. Er nimmt das widerliche Gefäß von dem niedrigen Tischchen und schleicht zum Fenster. Er beobachtet alle und ist für alle Fälle darauf vorbereitet, so zu tun, als müsste er erbrechen. Doch die Kinder schmatzen heftig, und Schwester Rosa hat ihren runden Hintern in die Höhe gestreckt, vornüber gebeugt füttert sie mit einem Fläschchen einen kranken Säugling von einem halben Jahr.

Wolfgang klettert auf einen Stuhl, schleudert den emaillierten Spucknapf aus dem Fenster und beobachtet mit seinem herausgestreckten wächsernen Gesicht den Fall. Das Gefäß fällt sich überschlagend in die Tiefe, schlägt auf dem Asphalt auf und scheppert ergreifend. Wolfgang öffnet zufrieden den Mund, seine Zunge fällt auf die Unterlippe. Jetzt kratzt er mit dem Finger auf dem Fensterbrett. Natürlich bemerkt Rosa den Vorfall und dreht sich zu ihm um. Doch Wolfgang verteidigt sich schon:

»Ich wollte spucken, und da ist er rausgefallen. Dahin. Der Spucknapf ist weg, der Spucknapf ist weg.«

Als Rosa zum Fenster geht, wird es Wolfgang unangenehm. Er sieht, der Spucknapf liegt unversehrt auf der Straße. Wolfgang bettelt:

»Mach das Fenster zu, mach es zu!«

Schwester Rosa schaut nach unten und streichelt sein weiches Haar. Die Schlacht ist verloren, Wolfgang weint ohnmächtig. Er weint und vergisst seine List. Er bittet wie in der Nacht:

»Brot, Brot, Brot …«

Neben Wolfgang liegt Rita, eine Litauerin. Ihre Eltern haben sie von klein auf Smilga genannt. Sie ist schmächtig und zart, und ihre Augen sind von klarem Blau. Smilga ist sechs Jahre alt. Sie kann nicht gehen. Vor zwei Tagen hatte sie eine unglücklich verlaufene Mandeloperation. Die Krankenschwestern kamen im Flüsterton überein: Der neue Chirurg war zu hastig gewesen. Die Kleine hatte starke Blutungen.

Überhaupt war der nicht mehr ganz junge Arzt an diesem Tag zerstreut und unruhig. Er war offenkundig nervös, zum ersten Mal bei einer Operation. An diesem Tag hatte der Chirurg Mahle seine Frau verloren. Frau Traudel Mahle hatte ihre morgendliche Tasse Kaffee nicht ausgetrunken. Ihre dicken, einst eleganten, heute jedoch groben Finger mit den gebrochenen Nägeln hatten gezittert. Frau Traudel hatte mühsam hervorgebracht:

»Ich gehe.«

Der Chirurg hatte seine Frau nicht gleich verstanden. Er hatte seine Pfeife zu Ende gestopft und beunruhigt mit seinem Feuerzeug hantiert. Der Stein hatte keine Funken geschlagen.

»Ich gehe«, hatte sie wederholt und die Worte deutlich und trocken ausgesprochen.

»Wohin?«, hatte er endlich gefragt und von dem plötzlich aufgeflammten Feuerzeug zu seiner Frau aufgeblickt. Erst jetzt hatte er ihre aufgerissenen Augen und ihre unruhigen Hände bemerkt. Die Hände drehten verloren die halbleere Tasse. Mahle war bereits ein bisschen erstaunt gewesen, aber gleich sollte er so sehr erstaunen, dass er sein geschätztes morgendliches Rauchen vergessen würde. Frau Mahle war plötzlich aufgestanden und hatte mit expressiver, etwas melodramatischer Stimme erklärt:

»Ich gehe aus dem Haus. Ich verlasse dich!«

Es hatte sich alles aufgeklärt. Dieser Reiber hatte ein Auto. Dieser Reiber machte dubiose Geschäfte und konnte einer Frau morgens echten Bohnenkaffee anbieten, den gleichen, den früher auch Mahle getrunken hatte. Mahle hatte früher Gamper geheißen und in der Nazizeit hervorragend gelebt. Jetzt versteckte er sich unter anderem Namen hier, wo ihn niemand kannte. Die Zeiten des Bohnenkaffees waren für immer vorbei. Sein Gehalt war niedrig, und seine Traudel wurde nicht mehr von zwei gehorsamen Hausangestellten verwöhnt. Die Haut ihrer wunderbaren Hände, dieser weißen, makellosen Hände, wurde rissig und dunkel, und ihre langen Fingernägel waren nicht mehr verlockend rot lackiert. Das kalte und das warme Wasser bei der Hausarbeit …

Herr Reiber streichelte ihre Hände, ehe er ihren ganzen Körper in den Arm nahm, Herr Reiber versprach ihr, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Auf der Straße wartete sein sauberer Opel und am anderen Ende der Stadt – ein warmes Schlafzimmer und seliger Müßiggang. Ein Liebesakt dauert nur einige Minuten, diese Unannehmlichkeit war geringer als der ständige Wechsel von warmem und kaltem Wasser. Frau Traudel gehörte zu jenen Frauen, die gleichgültig waren gegen die Freuden der Liebe, und hatte aus diesem Grund so pathetisch erklärt:

»Ich gehe aus dem Haus. Ich verlasse dich!«

Der Chirurg Mahle hatte an diesem Morgen, so wie der kleine Wolfgang, eine Schlacht verloren. Zugegeben, er hatte seiner Frau eine Ohrfeige verpasst und eine naive Porzellanfigur (die Umarmung eines Knaben und eines Mädchens in Gewändern des achtzehnten Jahrhunderts mit der Aufschrift »Als ich wiederkam«) zerschlagen, aber auf ihn wartete die Klinik, er war ohnehin schon fünfzehn Minuten zu spät. Fünfzehn Minuten sind kein Scherz in der heutigen Zeit, und der Chirurg Mahle war erbleicht und mit offenem Mantel die Treppe hinunter auf die Straße gepoltert.

In der Klinik hatte er dem von Krätze befallenen Fritz eilig die Mandeln entfernt und verzweifelt Fortsetzung gefordert.

Schwester Rosa brachte Smilga herein. Smilga lächelte freundlich. Ihr langes kleines Gesicht erwartete angenehme Worte. Die Eltern hatten sie daran gewöhnt, das Leben mit leuchtenden Augen zu sehen. Unannehmlichkeiten waren vorübergehend. Wenn man sich am Bein stieß, dann musste man ein bisschen singen und der Schmerz verging, als wäre er nie dagewesen. Weinen lohnte sich eigentlich überhaupt nicht. Es weinten nur Kinder, die nicht gut sind, und davon werden ihre Schmerzen nur noch stärker. Wenn eine Wunde sehr brannte, dann stakste ihr Vater sehr komisch im Zimmer umher, und das sollte Ballett sein. Ihre blauen Augen hatten bis dahin nur wenige Tränen verloren. Und die waren durch Lächeln und lautes Gelächter bald getrocknet. Und überhaupt kannte Smilga nur gute Menschen. Ihre Eltern behüteten sie vor den bösen und wilden Jungen in der Schule, die die kleinen Mädchen gern anrempelten … Das waren doch schließlich keine großen Menschen!

Der Chirurg Mahle drückte kräftig auf Smilgas Kehle.

»Das tut weh, das tut weh!«, schrie Smilga spitz auf. Dieser Herr (sie nannte alle erwachsenen Männer »Herr«) war nicht gut. Er fragte sie nicht nach ihrem Namen, er streichelte ihr nicht das Haar, wie es die guten Herren tun, sondern er packte sie plötzlich mit seinen großen Händen an.

»Das tut weh, das tut weh!«

»Was ist denn das für eine?«, murmelte Mahle. Und als er von Schwester Rosa hörte, »eine Ausländerin, eine Litauerin«, sah er Smilga zum ersten Mal aufmerksam an. Tja, Angst in Kinderaugen ist normal. Sie heulen alle, und alle vergessen es gleich wieder. Mahle stach mit einer scharfen, blitzenden Nadel in ihre zitternde Kehle …

Vom Schreien und von der Anspannung verwandelte sich Smilgas Gesicht in ein rotes Faltenknäuel. Ihr dünner Schrei, der jetzt dem Winseln eines geprügelten Hundes glich, bohrte sich in die Trommelfelle.

Da fiel Herrn Mahle seine Frau ein.

Ja, ja … nach der Ohrfeige hatte sie ähnlich geklungen, ähnlich, ganz ähnlich …

Noch auf der Treppe hatte Herr Mahle im Davonlaufen ihren Schrei gehört, die starke Hand des Chirurgen, Frau Traudel würde noch lange von Blutergüssen gezeichnet sein. Nur ihr Herz würde wahrscheinlich froh schlagen. Niemand würde das zeitweilig verletzte Gesicht sehen. Der saubere Opel würde Traudel ans andere Ende der Stadt fahren, und Reiber, zufrieden mit dem Leben und mit seinem Wert, feierlich das Lenkrad halten.

Der Chirurg Mahle operierte. Der Chirurg Mahle war nass, er war schweißgebadet, und er operierte schlecht, gleichgültig. Selbst die erblasste Nase von Schwester Rosa war mit Schweißperlen bedeckt. Sie hatte zum ersten Mal in ihrer langjährigen Praxis ein derart verzerrtes Chirurgengesicht gesehen.

»Herr Doktor, sie erstickt am Blut«, hatte Schwester Rosa diskret gewarnt.

Am nächsten Tag bekam Smilga Besuch von ihren Eltern. Das Mädchen lag augenscheinlich ruhig und blass da. Nur war in ihren blauen Brunnen die kindliche Naivität ertrunken. Ach, wie hell und fröhlich die Welt war! Nein, sie war nicht mehr fröhlich. Das Krankenzimmer hatte viele Fenster, es glänzte weiß, doch das Licht war wie Eis, die Welt war erstarrt und reglos, und ihre Kehle drückte wie ein gläserner Stein, bis sie es nicht mehr aushielt und salziges Blut herausquoll. Da kommt Schwester Rosa angerannt, die schwarze Hexe aus der Kinderwelt, und sie sticht zu, diesmal in Smilgas Bein, und ihr schwarzes Nonnengewand hüllt wie ein Zauberschleier die saubere eisige Welt ein, und ein heißer, schneidender Schmerz durchzuckt Smilga, und er beunruhigt niemanden. Und die genesenden Kinder singen auf Deutsch, und Wolfgang bettelt:

»Brot, Brot, Brot …«

Ihre Eltern stehen am Bett wie schuldbewusste Verbrecher.

»Du weißt nicht, du weißt nicht, was sie mir angetan haben«, sagt Smilga leise und vorwurfsvoll, und dieser Vorwurf veranlasst ihre Mutter, schnell zu sagen:

»Du wirst wieder gesund, und wir kehren nach Hause zurück. Schau mal, was Vater dir mitgebracht hat.«

Der Vater zieht ungeschickt ein Kinderbuch aus seiner Tasche.

»Sieh mal, so große Buchstaben! Das wirst du selbst lesen können.«

Smilga liest gern. Sie sieht sich das Buch an, aber die Buchstaben wanken. Das große K verschmilzt mit dem A, und ein grün gemalter Schmied fällt mit seinem erhobenen Hammer in die Tiefe.

»Lies du mir vor«, bittet Smilga ihre Mutter, und die Mutter wischt schnell ihre beschlagene Brille ab. Ihre Tränensäcke hängen traurig herab. Sie beginnt im Stehen, obwohl neben ihr ein Stuhl steht. Der schmächtige Vater mit dem Gesicht eines gealterten Papageien zieht sich an den Rand des Betts zurück. Gekrächzte, vereinzelte Wörter, wie wenn man mit einem Messer in einer Pfanne kratzt.

… Der kleine Jonas ging mit dem kleinen Simas in die Schmiede. Dort arbeitet der Schmied: tin tan, tin tan tan. Der kleine Jonas und der kleine Simas möchten schmieden. Der Schmied sagt: Könnt ihr denn schmieden? Nein, wir können nicht schmieden, antwortet Simas …

Schwester Rosa flüstert dem Vater ins Ohr:

»Für das erste Mal ist es genug. Das Mädchen ist schwach. Kommen Sie morgen wieder.«

Der Vater schaut seine Tochter an und sieht plötzlich purpurfarbene Flecke auf ihren eingefallenen Wangen. Er zupft die Mutter am Ärmel.

»Wir gehen«, versteht die Mutter. Smilga reißt die Augen auf. Ihre blutleeren Lippen zittern.

»Wir kommen morgen wieder, heute geht es nicht mehr. Du wirst schneller gesund, wenn du allein bist. Wenn wir nicht gleich gehen, lässt man uns morgen nicht herein. Bleib du nur ruhig liegen, und wenn du etwas essen möchtest … Hast du heute schon gegessen?«

Die Tränensäcke der Mutter zittern wie die blutleeren Lippen ihrer Tochter. Smilga schweigt. Sie weiß: Ihre Eltern werden gleich gehen, und der gläserne Stein wird sie völlig erdrücken. Sie schweigt, als die Mutter sie mit kleinen Küssen überschüttet, als der Vater ihre Wange wie mit dem Kreuzzeichen berührt, sie schweigt, na und – es muss so sein, die Welt ist erstarrt und reglos, und das Licht ist wie Eis, und die Tafel Schokolade auf ihrem Kissen ist völlig unnütz.

»Grüß Gott!«

»Grüß Gott!«*

Die Eltern gehen.

Und aus der Ecke schaut Wolfgang gierig auf die Schokolade. Er weiß nicht, was das für eine Speise ist. Aber man wird sie bestimmt kauen können. Die großen Menschen lassen nur Essen hier. Wolfgang steht da, versucht, sich zu beruhigen und wartet.

Die rote Sonne blickt durchs Fenster. Die Strahlen gleiten suchend umher, werden fündig und fluten die Dinge und die Kinder mit dichtem, schleimigem Licht.

Schwester Rosa hebt den Blick, sieht zur Zimmerdecke und verkündet feierlich:

»Seht ihr, Kinder, wie schön Gottes Erde ist. Seht nur, da geht schon die Sonne unter. Sie segnet uns alle, sie ist das Auge des allmächtigen Herrn und bringt das ewige Licht. Gehen wir auf den Balkon. Dort werden wir ein Abendlied singen.«

Schwester Rosa umarmt die genesenden Kinder und führt sie wie eine Prozession hinaus. Zurück bleiben die schlummernden Bettlägerigen und Wolfgang. Er hatte es geschafft, sich hinter dem Schrank zu verstecken. Er starrt begierig auf die Schokolade, die ganz in der Nähe auf Smilgas Kopfkissen liegt.

Und Smilga versucht sich an das zu erinnern, was ihr ihre Mutter vorgelesen hat.

… Der kleine Simas und der kleine Jonas … In der Schmiede – der Schmied. Tin tan, hämmert der Schmied, tin tan, tin tan tan …

Tin tan, tönt es in ihren Ohren. Tin tan, kitzelt es angenehm in ihrer Kehle. Tin tan, schlägt ihr Herz. Wie schnell! So hat es noch nie geschlagen.

Mein Vater war ein Schmied,

Tik taku, tik taku, war ein Schmied …

Die letzte Erinnerung steigt in ihr auf. Dieses Gedicht brachte ihr bei … Ihre Stirn legt sich in Falten. Und weiter?

Es war einmal ein Schmied … ein Schmied …

Das Krankenzimmer weitet sich, die hellen, blank geputzten Wände stürzen in sich zusammen. Smilga stützt sich mit den Händen auf die Bettkante, sie erhebt sich und fällt. Aus ihrer Kehle dringt dickes Blut. Es ähnelt den Strahlen der Abendsonne. Dann dreht sich Smilga um und bewegt sich nicht mehr.

Wolfgang kommt. Leise, vorsichtig. Er streckt die Hand aus und ergreift blitzschnell die Schokolade. Ratsch … zerreißt das gewachste Papier. Wolfgang kaut. Zum ersten Mal so viel er nur will. Er kaut hastig, er verschluckt sich, seine Augen schließen sich vor heftiger Befriedigung. Er kaut, bis sein Gesicht pflaumenfarben anläuft. Seine Lider öffnen sich, jetzt sind seine Augen rasend vor Auflehnung, doch die zerkauten Bissen quillen auf den Boden. Neben Smilgas Bett.

Auf dem Balkon singen Schwester Rosa und die Kinder das Abendlied.

* deutsch im Original

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