Buch lesen: «Apokalyptische Variationen», Seite 5

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»Sie können gehen.«

Sie hört es nicht. Er hustet. Er wiederholt den Satz.

Die Frau erhebt sich. Bringt sich in Ordnung. Zieht ihren schmutzigen Regenmantel an. Als sie am Fenster vorübergeht, wird sie von der Abendsonne ganz erleuchtet. Die Flecken auf ihrem Gesicht und der Regenmantel, die abgetragenen Schuhe und ihr reglos herabhängender Arm.

Die Frau bewegt sich aufrecht, sie wankt nicht. Der feine persische Teppich saugt das Geräusch auf, es ist, als würde sie davonschwimmen.

Die Tür schlägt zu.

Zuerst laut, dann immer leiser – ihre Schritte auf der Treppe. Bis sie mit dem Lärm der Straße verschmelzen.

Otto Kranz geht zum Tisch und trinkt den Cognac mit großen Schlucken.

Über die Kronen der Kiefern ziehen eilig fahle Wolken. Die Kronen werden leicht vom Wind gebogen. Die Menschen, die an der rechteckigen Grube stehen, schweigen. Viele Rücken. Schmale, breite, männliche, weibliche. Und kindliche kleine Rücken, an die Beine ihrer Eltern geschmiegt. Die in Lumpen gehüllten Rücken und entblößten Genicke warten.

Hier, auf dem Hügel, wartet eine Gruppe grün Uniformierter auf den Befehl. An ihren Kragen die Zickzacks. Diese Menschen sind bedeutend freier. Sie unterhalten sich halblaut auf Deutsch, rauchen. Sogar kurzes Gelächter ist zu hören. Viele Gesichter sind gerötet. Vom Alkohol.

In den Reihen der Rücken beginnt ein Kind zu schreien. Vor Müdigkeit, Hunger oder unverständlicher Angst – das ist nicht klar. Die Mutter verschließt mit ihrer Hand den kindlichen Mund. Wieder Stille.

Der famose Müller blickt prüfend auf die Uhr. Es wird Zeit. Er ruft die grünen Uniformen. Diese werfen die rauchenden Zigaretten ins Gras und treten an.

Otto Kranz versteht nicht, wozu er hergekommen ist. Er zählt die wartenden Genicke und murmelt nur mit den Lippen. Mann, Frau, Mann, Mann, Kind, Frau …

Natürlich, sein Freund Müller hat ihn hierher geschleppt! Er hat ihm starke Eindrücke versprochen. Doch Otto Kranz ist sogar ein wenig gelangweilt. Er gähnt, schaut zu den hellen Wolken (genau solche wie in Thüringen!) und zählt wieder die Genicke. Mann, Mann, Frau …

Stopp! Der schmutzige Regenmantel, die Flecken, die blauschwarzen Haare kommen ihm bekannt vor … Wo war das nur?

Sonnenstrahlen gegen Abend …

Das Schlagen der Tür …

Schritte auf der Treppe, vom Straßenlärm verschluckt …

Ah! Otto Kranz reckt sich sogar, so sehr wünscht er sich, die Jüdin möge sich zu ihm umdrehen. Er würde gern noch einmal in diese durchdringenden, dunklen Augen sehen. Was ist jetzt in diesen Augen? Vielleicht Schrecken? Es wäre interessant, in diesen dunklen, durchdringenden Augen Schrecken zu sehen.

Er geht ein paar Schritte nach vorn, Müller bemerkt es und ruft von dem Hügel:

»Vorsicht! Wir fangen an!«

Otto Kranz spürt Scham. Er bleibt stehen, dreht sich um, geht zurück. In diesem Augenblick legen die Maschinengewehre los. Als er sich umdreht, sind der fleckige Regenmantel und die blauschwarzen Haare bereits verschwunden. Und überhaupt ist die Zahl der Rücken und Genicke kleiner. Die Gebliebenen fallen in die Grube. Als würden sie von unsichtbaren Händen in die Tiefe gezogen.

Otto Kranz sieht nicht mehr hin. Er legt den Kopf in den Nacken. Beobachtet die hellen Wolken (genau solche wie in Thüringen!). Bis die Maschinengewehre aufgehört haben.

Schluss. Die grünen Uniformen machen sich auf den Heimweg. Einer hebt aus dem Gras eine noch immer rauchende Zigarette auf.

Als das kurvende Auto die beiden in die Stadt zurückbringt, wagt Otto Kranz es. Gleichsam im Scherz:

»Du hast heute meine Geliebte erschossen.«

Der famose Müller lacht:

»Deshalb hast du die beiden sentimentalen Schritte nach vorn gemacht.«

Otto Kranz ist es unangenehm. Er fragt trotzdem:

»Und ihr Mann?«

»Den Mann später. Er ist ein erfahrener Tischler.«

Otto Kranz öffnet die geschwollenen Lider. In der Küche ist es hell und leer. Frau Zerfling ist wohl in die Stadt gegangen. Er kann sich nicht mehr erinnern, wann er vom Tisch auf das enge Sofa umgezogen ist. Er hat die ganze Nacht angezogen geschlafen.

Er erhebt sich. Er öffnet den Hahn der Spüle, das Wasser rinnt in einem kleinen Strahl. Er benetzt seine schmerzenden Schläfen. Dann überlässt er für kurze Zeit seinen geschorenen Kopf dem Wasserstrahl. Ah, wie gut, wie wunderbar Wasser ist. Die ganze kleine Welt der Küche wird heller.

Otto Kranz nimmt das Handtuch vom Haken und wischt sich rasch den Kopf ab. Dabei versucht er, ein Lied aus der Vergangenheit zu pfeifen.

Und da … schneidet sich aus dem Hinterhalt der gestrige Tag in sein Gehirn.

Oh! Er sieht wieder den Juden mit dem reglosen wächsernen Gesicht. Und sogleich drängt sich neben dieses Gesicht der gestrige Gedanke. Ist er bemerkt worden? Nein, es ist eine unverzeihliche Dummheit, sich in den Straßen herumzutreiben. Frische Luft, ha! Es reicht, wenn er das Fenster drei Mal am Tag aufmacht. Es war völlig überflüssig von der Stadtverwaltung, diese verfluchten Laternen aufzuhängen.

Er war schon fast zu Hause gewesen, nur einmal abbiegen und die letzte Laterne lagen noch vor ihm. Aus irgendeinem Grund war er unter ihr stehen geblieben. Einen Aushang oder etwas Ähnliches hatte er lesen wollen. Ja, er hörte die Schritte, aber zu spät. Er konnte sich nirgendwo verstecken. Vielleicht hätte er davonlaufen müssen, doch er verspürte keinerlei Angst. Sein Selbsterhaltungsinstinkt hatte ihn dieses Mal getäuscht.

Und in dem klar umrissenen Lichtkegel sind die beiden sich begegnet.

Und er konnte nicht begreifen, ob ihn der Jude mit dem reglosen, wächsernen Gesicht erkannt hatte. Es geschah in einem einzigen Augenblick. Otto Kranz blieb nicht stehen. Er erkannte diesen Mann nicht einmal gleich. Aber jetzt funktionierte sein Selbsterhaltungsinstinkt. An dieses Gesicht erinnerte er sich, es war gefährlich für ihn.

Otto Kranz beschleunigte die Schritte, bog in eine dunkle Gasse ein und begann zu rennen. Er musste nicht lange rennen. Der Überrest des zweistöckigen Hauses war ganz in der Nähe. Seine Heimstatt.

Jetzt funktionierte sein Gehirn recht gut. Er sah sich um. Die Straße lag leer und dunkel da. Am Himmel hingen einige fahle Sterne. In der Ferne rumpelten Straßenbahnen. Es war still. Er wurde nicht verfolgt.

Trotzdem schlüpfte Otto Kranz nicht gleich durch die Tür. Er ging an ein paar Häusern vorüber, verschwand hinter einem Mauervorsprung. Wartete. Jetzt erinnerte er sich genau an das Gesicht, dem er begegnet war. Auf welche Weise, war schwer zu sagen. Zuerst war wohl das blitzende Lächeln des famosen Müller in ihm aufgestiegen, und dann … Dann war alles klar.

Sekunden, Minuten und Viertelstunden zogen sich in die Länge. Die Straße lag leer und dunkel da, es schienen dieselben wenigen Sterne, es rumpelten die Straßenbahnen. Nein. Er wurde nicht verfolgt. Wirklich nicht.

Nach einer guten Stunde wagte Otto Kranz es, sich durch das Eingangstor seines Hauses zu schleichen …

Es ist möglich, dass er es nicht bemerkt hat, denkt er, während er sich jetzt seinen Kopf langsam abwischt. Natürlich, heute Abend wird er aus der Stadt verschwinden müssen. So schnell wird er sich nicht ergeben. Und Otto Kranz versucht sich auf Adressen zu besinnen, wo er sich eine neue Bleibe suchen könnte.

Zufällig gleitet sein Blick über das Bild an der Wand. Hm! Die Berge … Sie sind nicht schlecht, die Berge. In Tirol gibt es eine bescheidene Berghütte, die ganz in Vergessenheit geraten ist. In dieser Hütte wohnen …

Ich muss mich an den Namen des nächstgelegenen Städtchens erinnern. Ja, ja. Es fängt mit dem Buchstaben D an – De, De, Det…

In diesem Moment schaut er unbewusst zum Fenster. In diesem Moment verspürt er den starken Wunsch, ans Fenster zu gehen und nach unten auf die Straße zu sehen. Doch er zögert, die Beine gehorchen ihm nicht, und plötzlich beginnt sein Herz zu schlagen. Er zögert nicht lang. Er geht vorsichtig hin, schiebt ein kleines bisschen die Vorhänge auseinander und blickt nach unten.

Unten stehen vier Personen und unterhalten sich. Der Jude, zwei Amerikaner und Erna Zerfling. Erna Zerfling gestikuliert wütend mit den Händen.

Otto Kranz zieht die Vorhänge zusammen und spürt, dass sein Herz erstaunlich ruhig schlägt. Er weiß, dass er zwei oder drei Minuten hat. Trotzdem bewegt er sich völlig sinnlos. Er öffnet und schließt die Türen des Lebensmittelschranks. Schaut in den »Sarg« (so heißt das fensterlose Kämmerchen, in dem Ernas Bett kaum Platz hat) und geht auf den Flur hinaus.

Hier ist zwischen dem Wasserkessel und einem Nagel in der Wand die Leine mit Ernas Wäsche gezogen. Otto Kranz zieht mit einer Bewegung die Wäsche herunter, nimmt die Leine ab und versucht, eine Schlinge zu knoten. Dies jedoch gelingt ihm nicht. Seine Hände zittern, und wieder pocht sein Herz wie wild. Er bricht in kalten Schweiß aus, vor seinen Augen drehen sich bunte Kreise. Irgendeine Schlinge bekommt er dann doch zustande, klettert auf die Bank und versucht, die Leine am Wasserkessel anzubinden.

Jetzt hört er bereits Schritte, viele Schritte, er hört Ernas kreischende Stimme.

Zu spät, zu spät, zu spät – pocht es in Herz und Schläfen. Das Seil kommt ihm zu lang vor, es verheddert sich, ihm wird schwindlig. In der Küche ruft heiser der hölzerne Kuckuck.

Kuckuck kuckuck!

Er lässt die Leine aus der Hand gleiten, steigt wieder herunter, bückt sich …

Bei diesem geschäftigen Tun wird Otto Kranz von vier Personen angetroffen. Dem Juden, zwei Amerikanern, und Erna Zerfling.

DAS KLEID
I

Es klingelte lange. Sie wartete ab. Wieder klingelte es. Der Abend warf mit Leuchtreklamen um sich. Strahlende verschiedenfarbige Buchstaben, die plötzlich aufblinkten, einer nach dem anderen, und der bestirnte Markenname eines Kaugummis leckte am blondierten Haar der Frau. Die Frau kauerte in einem Sessel. Direkt neben ihr, an der Wand, war der Lichtschalter. Zum Greifen nahe. Aber die Frau hockte reglos in dem weichen Sessel und versuchte zum ersten Mal in ihrem Leben, sich im Spiel der Schatten zu vergessen. Dämmerung, plötzlich aufscheinende Buchstaben, Leuchtreklame, die in dem Zimmer geometrische Lichter mit Schatten ausstreute, und wieder Dämmerung, die in verschiedenen Tonlagen schrie. Vor dem Fenster heulte die abendliche Stadt. Die Stadt, die den Frieden liebte. Den Lärm. Das Geld. Den plötzlichen Tod.

Genau dieses ungeklärte Problem des Todes versetzte die blondierte Frau in lang anhaltende Erstarrung, diese Frau, die eine Abneigung gegen die Dämmerung hatte. Denn sie liebte das helle Licht, die schnelle Bewegung, rote Lippen, breite männliche Schultern und das garantierte Lächeln von weißen Zähnen. Doch an diesem Abend hockte sie einsam in ihrem Zimmer und knüllte einen Stofffetzen zusammen. Dieser Fetzen hatte sich früher einmal Kleid genannt. Der Künstler, der das Muster auf dem Stoff gemalt hatte, hatte es von tropischen Pflanzen in einer Orangerie abgeschaut. Deshalb wuchsen auf dem gelben Hintergrund des ehemaligen Kleids üppige bronzefarbene Blumen, die ein wenig aussahen wie Sonnenblumen. Vor dem Krieg hatte dieses Muster Erfolg, der Künstler konnte sich einen roten Sportwagen leisten. Dieses Kleid hatte er der blondierten Frau Jack gekauft. Ein breitschultriger, garantiert lächelnder Baseballvirtuose.

»Es steht dir, Darling!« – Der Satz war auf der Straße gefallen und sofort im Lärm der Stadt untergegangen. Doch das letzte Wort, Darling, grub sich in ihr Gedächtnis ein. Jack hatte es zum ersten Mal ausgesprochen. Dann gingen die beiden ins Kino. Auf der Leinwand küssten sich schön gepflegte und frisierte Paare. Jack drückte ihre Hand, und sie spürte, wie seine starken Muskeln bebten. Im Kino haben sich die beiden nicht geküsst. Es geschah später, in einer halbdunklen Gasse, an einem Zigarettenautomaten. Und dann … Dann haben die beiden geheiratet, und einige Zeit später wurden die Straßen von der Kriegserklärung überschwemmt. Jack umarmte sie fest, blitzte mit seinen soliden Zähnen und ging fort. Den Krieg erlernen. Noch ein paar kurze, heiße Wiedersehen, und er flog fort. In den Krieg. Mit einem viermotorigen Bombenflugzeug.

Anfangs war die blonde Frau erschüttert. Tagsüber arbeitete sie in dem immer gleichen Büro einer Fabrik, tagsüber benutzte sie gewissenhaft immer den gleichen Lippenstift von ein und derselben Firma, das immer gleiche, antrainierte Lächeln (traurige Augen, wunderbare Zähne), doch die immer gleichen trüben Abende setzten ihr zu, mit dem ständigen Gedanken, der sich nicht vertreiben ließ:

»Jack ist nicht da, er fliegt, und … wer weiß …«

Später beruhigte sich die blonde Frau, oft konnte man sie im Kreis ihrer Freundinnen fröhlich krakeelen sehen, und die fett gedruckten Nachrichten in den Zeitungen schrien:

»Der Krieg ist bald zu Ende, gleich, gleich ist der lästige Krieg vorbei!«

II

Alle Instrumente des Bombenflugzeugs funktionierten ordnungsgemäß. Diese feindliche Ortschaft musste zerstört werden. Sie waren fast fertig mit dem Abwurf der Bomben. Unten erzeugten sie immer neue Feuerblumen. Jetzt blieb nur noch die allerletzte. Jack drehte sich zu seinen Freunden um. Sie lächelten wie immer:

»Gleich sind wir fertig mit der Arbeit.«

Es war toll, dass sie gleich zurückfliegen würden. Jack wollte sich bewegen. Er lehnte sich ein bisschen zurück in seinem Pilotensitz.

»Meine Frau ist um diese Zeit schon zu Hause«, erinnerte sich Jack und streichelte mit den Fingern die Oberfläche der Uhr des Flugzeugs, und weil er sich für den unerwartet herausgerutschten Satz schämte, lächelte er noch breiter.

»Sie ist blond, ich glaube, Ben, dir gefallen Blondinen?«

Ben war so wunderbar schwarz, wie eine bewölkte Herbstnacht. Ben lachte laut, ein sprudelndes, schwarzes Gelächter:

»Hast du vielleicht ein Foto von ihr?«

Jack trug das Foto in der Brusttasche. Er brauchte nur zwei Sekunden, um es herauszuholen. Jack gab das Foto nicht aus der Hand, er hielt es nur vor Bens glänzendes Gesicht. Dessen breite Lippen öffneten sich:

»Sie ist schön und so blond.«

»Und wenn sie das Kleid trägt, das ich ihr geschenkt habe, oho!«

Jack lächelte und lächelte. Nur seine weißen Zähne leuchteten im Cockpit. Er steckte das kostbare Foto wieder ein und fühlte, dass sein gesundes sportliches Herz schneller schlug, so als hätte er die Ziellinie bei einem Lauf erreicht. Er konnte nicht ruhig auf der Stelle sitzen und drehte sich noch einmal um, er zwinkerte dem begeisterten Ben zu und warf die letzte Bombe ab …

Und sofort leuchtete ein grelles Licht auf, ganz nah – rechts.

Ein Geräusch hörten sie nicht, diese Männer, die vom fernen Amerika träumten. Sie sahen, dass an dem ordentlich glänzenden Innenraum des Cockpits Flammen leckten, und sie spürten, dass sie sanken. Da klammerte Jack sich an den, der ihm am nächsten war – Ben. Das Lächeln erstarrte in seinem Gesicht, er schaffte es nicht mehr, seine Lippenmuskeln zu entspannen.

»Wir wurden angeschossen«, brüllte er, doch Ben konnte es nicht hören. In Bens Augen war nur noch Weiß, seine Pupillen waren hinter den Oberlidern verschwunden. Jetzt begannen sie, einander umklammernd, zu tanzen, mit nach oben ausgestreckten Beinen – die Gruppe der jungen Männer konnte nicht ruhig sterben. Dann fielen sie hin und wälzten sich in den Flammen. Doch diese glühende Ewigkeit endete, als das viermotorige Bombenflugzeug auf der Erde aufschlug.

III

Die letzte Bombe fiel neben ein kleines Hotel. Das kleine Hotel stand am Stadtrand, und wenn der lächelnde Jack sich nicht seine blonde Frau in Erinnerung gerufen hätte, wäre die letzte Bombe wahrscheinlich auf das Stadtzentrum gefallen. Wahrscheinlich wäre dann das zweigeschossige kleine Hotel heil geblieben, und die Familie, die in einem Winkel des engen Kellers kauerte, hätte das Siegel des Todes nicht zu spüren bekommen. Sie saß während des Fliegeralarms immer an den rechten Rand des Raums gedrängt. Hier schien ein vergittertes Lämpchen, und der Mann mit dem kahlen Hinterkopf las dann immer ein Buch. Es war das einzige Buch, das er aus Litauen mitgebracht hatte. Der zweite Band der Weltgeschichte von H. G. Wells. Warum ausgerechnet dieser im Koffer gelandet war, daran konnte sich der Mann nicht mehr erinnern. Tatsache war, dass er ihn besaß und immer im Luftschutzkeller las, weil das Lesen die Angst ein bisschen unterdrückte. Und das Anfluten der Angst hing von den nahenden Einschlägen und von dem zitternden Köpfchen des Kindes ab, das sich an die Schulter seiner Mutter schmiegte. Der emsige Leser der Weltgeschichte verbrachte diese ungemütlichen Stunden mit seiner Frau und seinem neunjährigen Sohn. Ja, das Trio saß immer in dieser Ecke, hier schien das vergitterte Lämpchen und die Gewölbedecke über ihren Köpfen war doppelt gemauert, deshalb war es gleichsam gemütlicher, gleichsam sicherer.

An diesem Abend saßen sie ruhig da. Das Stadtzentrum wurde bombardiert, und von den dumpfen Einschlägen bebten nur die feuchten Wände. Schließlich beruhigten auch sie sich. Es stand zu hoffen, dass bald Entwarnung gegeben würde. Die sechs alten Deutschen, die in der Mitte des kleinen Kellers saßen, unterhielten sich laut. Der Mann mit dem kahlen Hinterkopf löste den Blick vom Buch. Er verspürte den Wunsch, das Köpfchen seines Kindes zu streicheln. Doch das Kind schlief mit geöffnetem Mündchen, an die Brust der Mutter geklammert, und der Blick des Mannes sog das Gesicht seiner Lebensgefährtin ein. Die Lampe von fünfundzwanzig Watt erzeugte wenig Licht, das Gesicht der Frau war mit Schatten bedeckt, aber ihre dunklen Zöpfe krönten wie ein strahlender Kranz das geliebte Gesicht. Der Mann war stolz auf die Zöpfe seiner Frau. Durch sie hatte sie sich von vielen anderen unterschieden, als die beiden sich in Litauen zum ersten Mal begegneten, im bescheidenen Lehrerzimmer eines Gymnasiums in der Provinz, und diese seiner Ansicht nach wunderbare Eigenheit hatte sie bis zum heutigen Tag beibehalten.

»Was siehst du mich so an?«, fragte sie, und der Mann fand nicht gleich eine Antwort. Da lächelte sie mit geschlossenen Lippen:

»Schaust du wieder meine Zöpfe an?«

Jetzt war der Mann endgültig verwirrt. Nach elf Jahren Ehe war es für ihn noch immer wie damals, als er verstohlen ihre glänzenden Zöpfe betrachtet hatte. Deshalb legte er, um Würde zu bewahren, das Gesicht ein bisschen in Falten und steckte seine Nase übertrieben ernsthaft in das Buch. Das Lesen fiel ihm jetzt leichter – es gelang ihm nicht immer in diesem Luftschutzkeller. Und der letzte Satz lautete:

»… Die heidnischen Bulgaren schlugen unter Führung von Khan Krum (802–814) die Armeen von Kaiser Nikephoros …«

Und da fiel die letzte Bombe. Eigentlich fiel sie neben das Hotel, doch das alte Sandsteingebäude stürzte ein und verschüttete den Luftschutzkeller. Die Frau und das Kind blieben am Leben, sie wurden von der Ecke und dem doppelten Gewölbe geschützt. Das herabstürzende Gestein erschlug die drei geschwätzigen Deutschen und den Mann mit dem kahlen Hinterkopf. Er hatte einen unverzeihlichen Fehler gemacht – er war bei dem heftigen Einschlag nach vorn gesprungen, weil er zu sehr in das Buch vertieft war, kam der plötzliche Einschlag sehr unerwartet, er hatte die Gefahr vergessen. Aus seinem gespaltenen Kopf quoll die Hirnmasse und befleckte die Weltgeschichte. Es sah aus wie ein von einem ungezogenen Jungen verschütteter Teller mit Brei.

IV

Es war genau ein Jahr her, dass die Frau mit dem blondierten Haar wie ein sechsjähriges Mädchen in ihr Zimmer gestürzt war. Sie war in den Sessel gehüpft und hatte vergessen, das Licht einzuschalten. Sie hatte mit unruhigen Armen ihre runden Knie umfangen, und ihre hellen, welligen Locken hatten das vor Freude strahlende Gesicht verdeckt. An diesem Tag hatten die Zeitungen in noch fetteren Buchstaben geschrien:

»Wir siegen! Der Krieg geht zu Ende! Wir siegen!«

Sie hatte es nicht lang ausgehalten in dem Sessel. In wenigen Sekunden erledigte sie mehrere Dinge gleichzeitig. Sie machte Licht, rannte zum Kleiderschrank und suchte das Kleid heraus, das Jack ihr geschenkt hatte. Die üppigen bronzefarbenen Blumenranken auf dem gelben Hintergrund schienen ihr so lieb und vertraut. Die Frau zog sich blitzschnell ihr Arbeitskleid aus und das Verlobungskleid an. Sie lief zum Spiegel, drehte sich wie eine Tänzerin, landete am Fenster und rief der bestirnten Kaugummireklame zu:

»Hier müsste geschrieben stehen … Bald sind der Frühling und Jack zurück!«

Wie eine kleine Schlange tänzelte sie vor dem Spiegel einen modischen Swing, bis … ein Klingeln sie unterbrach. Sie hatte es nicht gleich gehört. Sie war überschwänglich fröhlich, die Stadt lärmte, erfüllt vom Swing, und sie wollte ein bisschen weinen. Doch das Klingeln war hartnäckig. Die Frau lächelte dem Spiegel zu und schwebte zur Tür. Vor der Tür stand ein Mann mit einem weißen Briefumschlag in der Hand. Wortlos steckte er ihr den Umschlag zu und verschwand im Fahrstuhl. Sehr still schloss die Frau die Tür und ging sie sehr still zurück ins Zimmer. Sie öffnete vorsichtig mit einem Finger den Umschlag und las die maschinengeschriebenen, nüchternen Wörter. Dann ergriff sie mit beiden Händen hier, am Hals, das Kleid und riss es auseinander. Sie zerriss das Kleid, weil in dem Schreiben stand, dass Jack bei einem Einsatz gegen eine feindliche Stadt umgekommen war. Der breitschultrige, ewig lächelnde Baseballvirtuose.

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