Buch lesen: «Rückkehr der Gerechtigkeit»
Anno Dazumal
Rückkehr der Gerechtigkeit
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die Flucht
Das Spiel
Das Rückspiel
Das neue Leben
Die WM
Impressum neobooks
Die Flucht
Es war sehr heiß draußen und jene Hitze drang natürlich auch in die Gebäude ein. Ein schleierhafter Dunst lag in den Hallen einer großen Fabrik. Man hörte einige Maschinen rattern, aber nicht nur die mußten arbeiten. In der Nähe von Karnal stand jene Fabrik, also mitten in Indien. Eigentlich nichts Besonderes. Oder vielleicht doch? Ein Blick auf die dort arbeitenden Menschen belehrte einen eines Besseren. Hunderte von Kindern und Jugendlichen befanden sich in der Fabrik, um dort von früh morgens bis spät abends zu arbeiten. Kinderarbeit in Indien. Also doch nichts Besonderes. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wurden von Aufsehern bewacht, die dafür Sorge trugen, daß niemand auf die Idee kam, eine Pause zu machen. Die einen Kinder mußten Teppiche knüpfen, andere machten Körbe, wieder andere stellten Hemden her und so weiter. Die dort arbeitenden Kinder und Jugendlichen kamen aus armen Familien und mußten deshalb die Schulden ihrer Eltern in der Fabrik abarbeiten. Es gab nur eine Pause am Tag und die war mittags. Am Morgen begann man bereits um sechs Uhr und am Abend durften sie nie vor zwanzig Uhr aufhören. Dann wurden sie in die Schlafräume gebracht, wo sie bis zum nächsten Tag schlafen sollten. Sklaverei? Auf jeden Fall. Nur selten bekamen die Kinder mal einen freien Tag, an Urlaub war überhaupt nicht zu denken. Sie hatten nichts von ihrer Jugend und das wußten sie ganz genau. Aber was sollten sie dagegen tun? Wenn sie nicht arbeiteten, dann würde ihre Familie verhungern und das konnten sie nicht zulassen. Es war bereits am späten Nachmittag, als Raja für einen Augenblick durchschnaufen wollte. Sofort kam ein Aufseher zu ihm. „Arbeite weiter!“ befahl er. „Ich kann nicht. Ich brauche frische Luft“, entgegnete Raja. „Die kannst du haben“, meinte der Aufseher, holte eine Lederpeitsche hervor und schlug damit auf den Jungen ein. Um nicht noch mehr Schläge zu bekommen, setzte Raja seine Arbeit sofort wieder fort. Nicht einmal auf die Toilette durften die Arbeiter in der Kinderfabrik. Jeder hatte einen Eimer bei sich stehen, in dem er oder sie das eigene Geschäft verrichten mußte. Zweifellos katastrophale Zustände, aber in Indien gehörten sie einfach dazu. Auf einmal hörte man, wie jemand zu Boden fiel. Wieder war sofort ein Aufseher zur Stelle. „Steh auf!“ brüllte er, doch der am Boden Liegende rührte sich nicht. Da schlug der Aufseher auf ihn ein, aber es gab keine Reaktion. Mittlerweile waren einige andere Kinder herbei gekommen um zu sehen, was da los war. Als sie sahen, daß der Aufseher auf den Halbtoten einprügelte, sprangen sie auf ihn und rissen ihm die Peitsche aus der Hand. Auf einmal fielen Schüsse. Der Fabrikchef kam mit einer geladenen Pistole herein und schrie: „Alle auf Eure Plätze sonst seid Ihr tot!“ Ängstlich schlichen die Kinder von dannen. Sie waren traurig und entsetzt über das, was sie gesehen hatten, obwohl es nicht das erste Mal gewesen war. „Bring die Leiche auf den Müll und besorge Ersatz!“ verlangte der Chef vom Aufseher. Jener packte das tote Kind und warf es dann auf eine riesige stinkende Müllhalde, wo schon einige Kinderleichen vor sich hin verwesten. Auch Shankar und Nathu hatten mitbekommen, was da geschehen war. Sie waren Beide 17 Jahre alt und gehörten damit zu den Ältesten in der Fabrik. Shankar arbeitete schon seit zehn, Nathu seit acht Jahren in jener Fabrik und sie wußten ganz genau, daß sie zu jenen Kindern gehörten, denen man die Jugend gestohlen hatte. Doch als sie nun wieder gesehen hatten, wie einer der Aufseher auf ein fast totes Kind eingeprügelt hatte, da hatten sie beschlossen etwas zu tun. Als sie in der Nacht nebeneinander im Schlafraum saßen, begannen sie zu flüstern, damit die Aufseher sie nicht hörten. „Nathu, wir müssen etwas machen. Denn wenn nicht, dann werden wir aus diesem Teufelskreis nie mehr herauskommen“, erklärte Shankar. „Und was hast Du vor?“ wollte der wissen. „Hier können wir nichts erreichen. Wir müssen fliehen.“ „Weißt Du nicht mehr, wie sie uns beide Male erwischt haben, als wir fliehen wollten. Damals habe ich jeden Knochen einzeln gespürt.“ „Bei mir war es auch nicht besser. Aber das hilft nichts. Du weißt ja, wie es abläuft. Wer 18 wird, kommt entweder in eine andere Fabrik mit Erwachsenen, oder wird umgebracht, wenn man keine Arbeiter mehr benötigt.“ „Du hast Recht. Wir müssen es noch einmal versuchen. Aber wann und wie?“ „Morgen Nacht. Wir müssen versuchen, so Viele wie möglich mit uns zu befreien.“ „Vergiß es! Wenn wir das machen, dann jagen sie uns bis an unser Lebensende. Fünf Flüchtige verkraften sie noch, aber bei mehr hört der Spaß auf. Du weißt ja, daß die gute Beziehungen zur Polizei haben und daß die Polizisten sehr bestechlich sind. Mehr als fünf können nicht fliehen. Also, suchen wir uns noch drei mutige Weggefährten aus, bei denen wir absolut sicher sind, daß sie die Strapazen einer Flucht aushalten können.“ Raja hatte mitgehört. „Ich will auch mit“, stellte er klar. „Traust Du Dir das zu?“ forschte Nathu. „Na klar.“ „Also gut. Dann würde ich sagen, wir sollten noch Indira und Daya mitnehmen.“ „Wie kommst Du auf die Beiden?“ „Auch sie werden bald 18 Jahre alt. Und Du weißt, was mit ihnen dann geschieht.“ „Ja, leider. Entweder werden sie an einen reichen Mann verkauft, der sie dann zur Frau nimmt, oder sie werden von Mann zu Mann verliehen und von denen vergewaltigt. Einverstanden, wenn sie mit wollen, dann können sie mit“, bemerkte Shankar. Nathu stand auf und schlich sich zu den beiden Mädchen. „Schlaft Ihr schon?“ flüsterte er. „Nein. Was ist los?“ forschte Daya. „Shankar, Raja und ich werden morgen nacht fliehen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mit“, antwortete er. „Gerne. Ich bin froh, daß endlich jemand den Mut hat. Aber wie?“ fragte Indira. „Das werden wir noch klären. Haltet Euch auf alle Fälle bereit.“ „Wenigstens brauchen wir kein Gepäck mitnehmen, weil wir eh nichts haben“, scherzte Daya, bevor Nathu sie wieder verließ. Er schlich sich zur Tür des Schlafraumes, die, so wie immer, geöffnet war. Dort sah er einen Aufseher schlafen, während er die Anderen aus der Küche hörte. „Die verzocken wohl wieder ihr Geld“, dachte sich Nathu und kehrte dann an seinen Schlafplatz zurück. „Und?“ lautete Shankars Frage. „Sie kommen mit.“ „Sehr schön. Jetzt brauchen wir nur noch einen Fluchtweg.“ „Warte mal! Ich habe da eine Idee.“ Nathu erklärte Shankar seinen Vorschlag flüsternd und der nickte zufrieden. „Jawohl, so machen wir es. Gute Nacht“, hauchte er zum Schluß. Zehn Minuten vor sechs Uhr wurden alle geweckt. Wer nicht sofort aufstand, wurde geschlagen. Das wirkte. Im Nu waren die vielleicht 350 Kinder wieder an der Arbeit. Während die Aufseher nur darüber wachen brauchten, daß die Kinder auch rund um die Uhr arbeiteten, mußten jene ohne Unterbrechung rackern. Wieder war es sehr warm und es stand zu befürchten, daß am Nachmittag ein neuer Hitzerekord aufgestellt werden würde. Die Kinder schwitzten, aber sie bekamen vor dem Mittag kein Wasser. Ein fürchterlicher Gestank durchzog die Fabrik, aber das schien die Aufseher nicht zu stören. Jene waren das schon gewohnt. „Du! Arbeite schneller!“ schrie einer der Aufseher und schaute ein vielleicht fünfjähriges Mädchen an. Jene begann zu weinen. „Heul hier nicht rum, sondern arbeite!“ brüllte der Aufseher und zog seine Peitsche hervor. Nur mit Mühe konnte sich das kleine Mädchen beruhigen und versuchte dann, das ohnehin schon hohe Arbeitstempo noch einmal zu erhöhen. Während er seine Maschine beobachtete, schaute Nathu immer wieder nach draußen. Da war sie also, die große Freiheit. Nur wenige Meter von ihm entfernt und doch so weit weg. „Hey Du! Glotz nicht nach draußen, sondern arbeite! Die Sachen müssen bis heute Abend fertig sein!“ machte ihm ein Aufseher deutlich. Jene Nachricht sorgte in Nathus Innerem für Entzücken. Er wußte nun, daß die Chancen zur Flucht so gut wie nie standen. Es stand nämlich damit fest, daß in der Nacht die Kaufleute kommen würden, um sich die von den Kindern hergestellten Waren zu holen. Und da war es üblich, daß jeder Aufseher sich zu den Kaufleuten begab, um von denen ein paar Rupien für die „Betreuung“ der Arbeiter zu bekommen. Das Tor zur Flucht stand also weit offen. Man mußte nur noch den Mut haben, es auch zu durchschreiten.
Es war mitten in der Nacht, als man draußen Lastwägen herfahren hörte. „Sie kommen!“ zischte Nathu Shankar zu. Es war nun nur noch eine Frage der Zeit, bis alle Aufseher die Fabrik verlassen würden. Auch der Aufseher, der vor den Schlafräumen wachte, hatte die Geräusche der Lastwägen gehört und war darum schnell aufgestanden, um zu überprüfen, ob die Kinder auch alle schliefen. Er stieß einige von ihnen mit einem Stock an und stellte zufrieden fest, daß alle seelenruhig vor sich hin schlummerten. „Kein Wunder, daß die so gut schlafen. Bei der schweren Arbeit, die sie verrichten müssen“, dachte sich der Mann und verschwand dann nach draußen. Es hatte die fünf Fluchtwilligen tatsächlich große Mühe gekostet, um wach zu bleiben. Sie hätten viel lieber geschlafen, aber die Chance zur Flucht wollten sie sich nicht entgehen lassen. Als sie draußen viele Stimmen hörten, standen die Fünf auf und trafen sich vor der Tür des Schlafraumes. „Was jetzt?“ wollte Daya wissen, der man es ansah, daß das Sandmännchen fast gesiegt hätte. „Die sind alle draußen. Wir müssen auf die andere Seite des Gebäudes“, entschied Shankar. So machten sie sich unbemerkt auf den Weg. Plötzlich trat Raja versehentlich auf einen Blechdeckel. „Paß doch auf!“ schimpfte Nathu verärgert ob des Leichtsinns seines Fluchtgenossen. Sie blieben ein paar Sekunden atemlos stehen, um zu lauschen, ob irgend jemand draußen das Geräusch wahrgenommen hatte. Zu ihrem Glück war das nicht der Fall gewesen, weil sich die Aufseher derweil draußen darüber stritten, wie das Geld, das ihnen die Kaufleute gegeben hatten, aufgeteilt werden sollte. Auf einmal blieb Indira stehen. Sie hatte jemanden ihren Namen sagen gehört und wollte deshalb wissen, was über sie gesprochen wurde. Fast zehn Meter von ihr entfernt standen einer der Aufseher und ein Kaufmann, der schon öfter dagewesen war. Nur eine Glasscheibe trennte Indira von den beiden Männern. „Hör mal! Ich hätte da einen Kunden, der eine hübsche junge Frau braucht“, ließ der Kaufmann verlauten. „Oh, da habe ich genau das Richtige für Dich. Sie heißt Indira und wird in drei Wochen 18 Jahre alt. Die ist so schön, daß sie sich von uns nicht mal jemand vergewaltigen getraut hat“, erzählte der Aufseher. „Jawohl, dann komme ich in drei Wochen wieder und nehme sie mit.“ „Und wieviel springt da für mich raus?“ „Kommt ganz drauf an, wie schön sie ist“, entgegnete der Kaufmann. Danach gingen die Beiden wieder zu den Anderen. Während Raja, Nathu und Daya schon längst weiter gegangen waren, war Shankar bei Indira geblieben und hatte alles mitgehört. „Nichts wie weg“, flüsterte sie und er nickte. Wenig später erreichten sie die drei Anderen, die vor einer verschlossenen Tür standen. „Scheiße!“ fluchte Nathu, doch auf einmal fiel ihm etwas ein. Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, daß indische Türen nicht die stabilsten waren. Er holte sein kleines Messer hervor und steckte es zwischen Tür und Angel. Es gab einen lauten Knall, aber die Tür war offen. Da sich die Aufseher und die Kaufleute auf der anderen Seite der Fabrik befanden, hatten sie nichts gehört, so daß Shankar die Tür wieder schloß, als sie alle draußen waren. „Wir sind frei!“ jubelte Raja. „Freu Dich nicht zu früh. Erst wenn wir hier richtig fort sind und sie uns nicht mehr finden können, dann sind wir frei“, erwiderte Nathu, der noch allzu gut wußte, wie leicht man sich täuschen konnte. Bei seiner ersten Flucht mit Shankar waren sie schon 15 Kilometer weit gewesen und trotzdem gefunden worden. Bei der zweiten Flucht waren sie gerade mal sechs Kilometer weit gekommen. Es gab also noch lange keinen Grund zur Euphorie. „Wie spät ist es jetzt?“ erkundigte sich Daya. „Schätzungsweise kurz nach Mitternacht. Wir haben also noch knapp sechs Stunden Zeit. Seid Ihr fit? Wenn wir laufen, dann könnten wir zehn Kilometer in der Stunde schaffen, also bis sie unser Verschwinden bemerken 50 Kilometer“, stellte Shankar fest. „Nein, tut mir leid. Ich bin hundemüde. Laufen ist bei mir nicht drin“, murmelte Indira. „Du hast doch auch gehört, was die mit Dir vorhaben. Na gut, dann trage ich Dich halt“, lenkte Shankar ein und ließ sie auf seinen Schultern aufsitzen. „Wo wollen wir eigentlich hin?“ erkundigte sich Daya. „Nach Neu Delhi. Nur dort haben wir eine Chance, um unterzutauchen“, antwortete Nathu.
Sie waren gut zwei Stunden gelaufen, als sich die ersten körperlichen Entzugserscheinungen bemerkbar machten. „Ich habe Durst“, klagte Raja. „Ich auch“, stimmte ihm Indira zu. „Was soll das? Du wirst hier getragen wie eine Königin und beschwerst Dich? Ich bin der Esel. Wenn hier jemand Wasser bekommen muß, dann bin ich das“, spottete Shankar, dem es gefiel, Indira auf seinen Schultern zu tragen. „Haltet durch, Leute! Wir werden schon noch Wasser finden“, beruhigte Nathu die Anderen. Kurz darauf stellte sich heraus, daß er Recht behalten hatte. Es verlief da ein Fluß in der Nähe von Karnal und genau den erreichten sie. Dort ließen sie sich nieder und konnten zum ersten Mal für einige Augenblicke ihre neu erworbene Freiheit genießen. „Werden die uns suchen?“ forschte Daya, nachdem sie sich erfrischt hatte. „Darauf kannst Du Gift nehmen. Sie werden unsere Spuren suchen und wohl auch finden. Darum wird es das Beste sein, wenn wir jetzt ein paar Kilometer durch den Fluß gehen“, überlegte Shankar. Dagegen hatte niemand etwas, weil man so immer etwas zu trinken in der Nähe hatte. Alle Fünf hatten sich aus der Fabrik nur ein Ding mitgenommen. Nämlich eine Wasserflasche. Die füllten sie, als sie den Fluß nach vielleicht drei Kilometern, die sie gewatet waren, verließen und sich dann wieder mit Laufgeschwindigkeit auf den Weg machten. Die Beine waren erfrischt und auch gegen die Ermüdung war das Wasser gut, so daß es jetzt doch erheblich schneller vorwärts ging als vorher. Indira konnte selber laufen, so daß auch Shankar Kraft sparen konnte. Natürlich suchten sie sich die wenig befahrenen Wege, um nicht von Kinderfängern oder ähnlichem Gesindel erwischt zu werden. Sie sehnten sich danach, in der Hauptstadt untertauchen zu können, doch bis es soweit war, gab es noch einen langen Weg zu meistern. Viele Gedanken schwirrten durch ihre Köpfe, als sie da liefen. Einmal war da die Angst gefaßt zu werden. Alle wußten, daß dies sehr viele Schmerzen nach sich ziehen würde. Außer wahrscheinlich für Indira, die ja schön bleiben sollte. Doch auch sie hatte kein Interesse daran, in die Fabrik zurückzukehren und so liefen sie so schnell sie konnten in Richtung Neu Delhi. Dabei verließen sie sich auf Nathu, der einen erstaunlichen Orientierungssinn besaß. Gerne hätten sie angehalten und sich über die Zukunft unterhalten, aber noch war das nicht möglich. Erst mußten sie in Sicherheit sein, dann konnte man für die Zukunft planen. Vielleicht verwundert es, daß sie nicht nach Hause liefen, doch das hatte seine guten Gründe. Dort hätte man sie sofort wieder in die Fabrik gebracht. Ihren Eltern nämlich kam es nur darauf an, daß ihre Kinder die Schulden abarbeiteten. Sie konnten es sich gar nicht leisten, ihre Kinder bei sich zu behalten, weil sie das eine Menge Geld gekostet hätte, das sie nicht hatten. Zwar wußten sie, daß ihre Kinder dort geschlagen und mißhandelt wurden, aber das konnten sie nicht ändern und darum hatten sie sich damit abgefunden. So war es äußerst verständlich, daß zwischen den fünf Flüchtigen und ihren Eltern keine allzu starke Bindung bestand, weshalb niemand ein Verlangen hatte, nach Hause zurückzukehren. Nathu wählte den Weg so, daß sie immer in der Nähe des Flusses blieben, um Wasser zur Verfügung zu haben. Er wußte von früher her, daß der Fluß an Neu Delhi vorbeilief, so daß man ihm getrost folgen konnte und nur rechtzeitig westlich marschieren mußte. Inzwischen waren sie fast vier Stunden unterwegs. Es war kurz vor halb fünf Uhr morgens und so langsam machte sich der neue Tag daran zu beginnen. Es war ein besonderer Tag für Shankar, Nathu, Indira, Daya und Raja. Der erste Tag in Freiheit. Sie wünschten sich alle von ganzem Herzen, daß es nicht der letzte sein würde, aber sie konnten nicht wissen, was da noch alles auf sie zukommen würde. Erst einmal waren sie froh und glücklich, daß ihnen die Flucht geglückt war. Neu Delhi kamen sie immer näher und so langsam schwand die Angst, doch noch gefaßt zu werden. Aber noch hatten sie es nicht geschafft.
Wieder war es zehn Minuten vor sechs Uhr, als die Kinder, die in der Kinderfabrik arbeiten mußten, geweckt wurden. So wie jedesmal mußten sie sich aufstellen, um gezählt zu werden. Als einer der Aufseher beim ersten Durchzählen feststellte, daß fünf Kinder fehlten, wollte er es nicht glauben. „Ich hätte gestern nicht soviel saufen sollen“, murmelte er und zählte noch einmal. Als er wieder zum selben Ergebnis kam, meinte er zu einem Kollegen: „Ich glaube, ich habe meinen Rausch noch nicht ausgeschlafen. Zähl Du mal!“ Der tat das und erschrak, als er merkte, daß fünf Jugendliche fehlten. Sie gingen zum Fabrikchef und teilten ihm die schlechte Nachricht mit. „Verdammter Mist! Findet heraus wer fehlt und dann macht Euch auf die Suche. Zehn Aufseher bleiben hier und die restlichen 20 machen sich auf den Weg!“ ordnete er an. Recht bald stellte sich heraus wer geflohen war und als das der eine Aufseher mitbekam, der mit einem der Kaufmänner einen Handel abgeschlossen hatte, schrie er wütend: „Warum ich? Ich hätte reich werden können!“ Sofort machte er sich mit 19 seiner Kollegen auf den Weg, um die Flüchtigen zu suchen und einzufangen. „Sie werden geflohen sein, als wir alle draußen waren“, vermutete einer der Aufseher, als sie in einem Lastwagen saßen. „Das denke ich auch. Na ja, dann haben sie einen Vorsprung von vier bis fünf Stunden“, glaubte ein anderer. „Du sagst es. Sie sind zu Fuß, also können sie noch nicht weit sein.“ Ziemlich schnell entdeckten sie die Spuren der Fünf und folgten ihnen, bis sie an den Fluß kamen. Dort endeten die Spuren und das gefiel ihnen überhaupt nicht. Die Männer stiegen aus und gingen den Fluß entlang. Zehn auf der linken und zehn auf der rechten Seite. Erst nach einer guten Stunde fanden sie wieder Spuren. Zu ihrem Glück hatte es nicht geregnet, so daß man sie doch recht gut erkennen konnte. „Die sind den Fluß entlang gelaufen“, erkannte einer der Aufseher. Aber wenig später standen die 20 Männer da und wußten nicht mehr weiter. Vor ihnen lag weites Land, das mit Gras bewachsen war. Es war wirklich unmöglich, darauf Spuren zu finden. Das heißt, es war schier unmöglich, die Spuren der Flüchtigen zu finden, denn andere Spuren gab es genug. „Wir können doch jetzt nicht einfach zurückfahren und sagen, wir hätten nichts gefunden“, bemerkte ein Aufseher. „Natürlich nicht. Wir werden erst morgen früh wieder in die Fabrik gehen. Hier haben wir wenigstens unsere Ruhe. Ich schlage vor, wir fahren jetzt weiter. Vielleicht haben wir ja Glück und sie laufen uns über den Weg“, hoffte einer der Männer und setzte sich ans Steuer. Viel Optimismus war bei den Aufsehern nicht festzustellen. Das lag vor allem daran, daß die Flüchtigen einen großen zeitlichen Vorsprung hatten. Andererseits waren die Aufseher motorisiert, so daß noch nicht alles verloren war. Aber da sie viel zu faul waren, um zu Fuß die Wildnis am Ufer zu durchsuchen, gab es für die Fünf doch gute Chancen, in Freiheit zu bleiben. Mit Tempo 40 fuhr der Lastwagen einen Weg entlang, den man bei Weitem nicht als Straße bezeichnen konnte. „Die brauchen nur in irgend so einem Gebüsch sitzen und schon finden wir sie nicht“, behauptete einer der Aufseher, als er auf das Ufer des Flusses schaute. „Na und? Wir finden schon Ersatz. Nur um die beiden Mädchen ist es schade. Mit denen hätten wir noch eine Menge verdienen können“, erwähnte sein Kollege. „Wißt Ihr was? Wir machen jetzt Pause. Wir setzen uns an den Fluß und lassen es uns gutgehen. Lange hätten die eh nicht mehr bei uns gearbeitet und so können wir wenigstens unseren Sadismus an ihren Familien ausleben“, glaubte ein Aufseher. Der Lastwagen hielt an. Die Männer stiegen aus und trugen ein paar Kisten mit Bier und ein paar Lebensmittel ans Ufer. Dort ließen sie sich nieder und genossen die Sonnenstrahlen. „Von denen lassen wir uns nicht unsere gute Laune verderben. Obwohl ich den Einen oder Anderen von ihnen schon gerne totgeprügelt hätte“, ärgerte sich ein weiterer Aufseher. „Mach Dir keine Sorgen! Die verrecken eh bald. Oder glaubst Du, daß die irgendwo einen Job finden?“ „Niemals. Höchstens in einer Kinderfabrik. Und für etwas Neues sind sie eh schon zu alt. Denen wird es noch leid tun, daß sie abgehauen sind.“
Hätten die 20 Aufseher gewußt, daß sich die fünf Gesuchten in ihrer unmittelbaren Nähe befanden, dann hätten sie sich wohl nicht zum Sonnen an den Fluß gelegt. Zwar waren Shankar, Nathu, Indira, Daya und Raja ziemlich weit gekommen, aber kurz vor Tagesbeginn waren sie so müde geworden, daß sie beschlossen hatten, sich hinzulegen und auszuschlafen. So lagen sie im hohen Schilfgras vielleicht hundert Meter von ihren Jägern entfernt. Shankar wachte auf. Er hatte laute Stimmen aus der Umgebung gehört und wollte nun wissen, woher die kamen. Er fand die Antwort schneller als ihm lieb war und sie gefiel ihm überhaupt nicht. „Leute, wacht auf! Wir müssen fort!“ zischte er. Langsam öffneten die Anderen ihre Augen. „Was ist denn los?“ wunderte sich Daya. „Wir sind in Gefahr“, antwortete Shankar. Da rissen sie ihre Augen auf und starrten ihn an. „Seid leise!“ befahl er und deutete auf den Lastwagen, den alle zu gut kannten. Damit hatten die Aufseher immer die Rohstoffe geholt. „Was jetzt?“ wollte Indira wissen. „Ich weiß es noch nicht. Irgendwie habe ich den Eindruck, als würden die da bester Laune sein. Wir müssen fort, aber wenn sie unsere Spuren sehen, dann werden sie uns folgen und wahrscheinlich auch finden“, befürchtete Shankar. „Sollen wir etwa hier liegen bleiben und warten, bis sie uns entdecken?“ entgegnete Raja „Nein, aber wenn wir jetzt aufstehen und davonlaufen, dann haben sie uns in weniger als zehn Minuten“, befürchtete Nathu, der die Situation begriffen hatte. „Wir sollten uns trennen, oder unser Aussehen verändern“, schlug Daya vor. „Am besten wäre Beides. Wir dürfen jetzt nicht nervös werden. Ich werde mich jetzt mal hin schleichen, um herauszufinden, was sie vorhaben“, entschied Shankar. „Bist Du verrückt? Dann bist Du verloren“, erwiderte Indira. „Quatsch! Wenn ich bis in einer halben Stunde nicht da bin, dann verschwindet so schnell Ihr könnt.“ „Und wer soll mich tragen?“ „Auch Du kannst laufen, Prinzessin.“ Indira strahlte Shankar an. Der lächelte zurück. „Paß auf Dich auf!“ bat sie ihn zum Abschied. Das Schilfgras war über einen Meter hoch, so daß es Shankar genügend Schutz bot. Auf allen Vieren kroch er zu den Aufsehern hin. Wenig später hatte sich seine Aufregung gelegt. Die Jäger befanden sich alle am oder im Wasser, aßen, tranken und machten allerlei Unsinn. Für einen Augenblick überlegte Shankar. Er hatte da einen tollen Einfall. Er zählte die Männer und kam auf 19. Dann schlich er sich zu seinen Freunden zurück. „Die planschen im Wasser wie kleine Kinder“, berichtete er. „Prima! Dann nichts wie weg!“ raunte Raja. „Halt! Nicht so schnell! Nathu, Du hast doch gesagt, daß Du schon mal den Lastwagen gefahren hast.“ „So ist es. Wie kommst Du darauf?“ „Wenn die den Lastwagen nicht mehr haben, dann erwischen sie uns garantiert nicht.“ „Shankar, worauf willst Du hinaus?“ fragte Indira. „Ganz einfach: Wir haun mit dem Lastwagen ab und lassen die zurück. Dann werden sie uns nie mehr finden“, antwortete der grinsend. „Du bist ein Genie! Auf!“ rief Daya, die begeistert von dem Plan war. „Ganz so einfach ist es nicht. Der Lastwagen steht in der Nähe der Aufseher und da würden wir auffallen, wenn wir alle Fünf hin schleichen würden. Ich schlage vor, daß Nathu alleine hin schleicht, wir uns derweil flußabwärts begeben und dann zusteigen, wenn Nathu den Lastwagen soweit gebracht hat, daß uns die Aufseher nicht mehr einholen können“, erläuterte Shankar. „Einverstanden“, stimmten die vier Anderen zu. So machte sich Nathu also auf den Weg zum Lastwagen, während die vier Anderen in Richtung Süden krabbelten. Die ganze Sache war sehr gefährlich, weil zu erwarten war, daß die Aufseher Nathu spätestens dann entdecken würden, wenn er aus dem Schilf auftauchte. Doch das wußte Freund Alkohol zu verhindern. Der floß nämlich in großen Mengen und so waren sowohl das Seh-, als auch das Reaktionsvermögen der Aufseher stark eingeschränkt, was Nathu natürlich sehr zugute kam. Es gelang ihm tatsächlich, unentdeckt bis zum Lastwagen zu kommen. Dort kroch er zur Beifahrertür hin, damit man ihn nicht sehen konnte. Die Tür war offen und er stieg ein. Auf einmal fiel ihm ein, daß er ja ohne Schlüssel nicht fahren konnte. Überglücklich stellte Nathu fest, daß der Schüssel steckte. Er schloß die Tür des Beifahrersitzes noch nicht, weil er befürchtete, durch den Knall die Aufseher auf sich aufmerksam zu machen. Jene vergnügten sich im Wasser und mit alkoholischen Getränken und hatten keine Lust, einen Blick auf den alten Lastwagen zu werfen, weil ja nicht davon auszugehen war, daß aus dem plötzlich eine wunderschöne nackte Frau stieg. Darum gelang es Nathu, auf den Führersitz zu kommen, ohne von den Männern gesehen zu werden. Auf einmal hatte er eine Idee. Er schob den Sitz zurück und setzte sich auf den Boden, so daß man ihn nicht sehen konnte. Dann ließ er den Wagen an, löste die Kupplung und drückte aufs Gas. Das ging alles so schnell vor sich, daß es die Aufseher erst mitbekamen, als der Lastwagen bereits rollte. Natürlich sahen sie nur die rollende Maschine, nicht aber den dafür verantwortlichen Jungen, der laut auflachte, als er sich die dummen Gesichter der Aufseher vorstellte. Als er sich sicher war, daß sie ihn nicht mehr sehen konnten, stand er auf, schob den Sitz nach vorne und setzte sich. In seinem Rückspiegel entdeckte er zwei Männer, die ihm folgten. Sie wurden immer kleiner, so daß sich Nathu nicht weiter aufregte. Plötzlich sah er seine vier Freunde aus dem Gebüsch springen. Sofort drückte er auf die Bremse. Geschwind sprangen die vier auf den rollenden Lastwagen auf und als sich Nathu sicher war, daß alle auf der Ladefläche waren, gab er wieder Gas. Während er überglücklich im Führerhaus saß, hatten die vier Anderen einen großen Schrecken zu verdauen. Da lag ein Aufseher schlafend auf der Ladefläche und begann langsam aufzuwachen. „Schnell! Helft mir! Wir müssen ihn runterschmeißen!“ erkannte Shankar, der die Situation als Erster erfaßte. Aber es war schon zu spät. Der Mann wachte auf und zog eine Pistole. „Sofort stehenbleiben!“ brüllte er nach vorne, aber Nathu dachte gar nicht daran. Inzwischen hatten die anderen Aufseher die Verfolgung aufgegeben. Bei ihnen war die Laune natürlich auf dem Tiefpunkt angelangt. Sofort einigten sie sich darauf, dem Chef auf keinen Fall zu sagen, daß sie übertölpelt worden waren. „Wir erzählen ihm, daß die alte Kiste nicht mehr fährt und daß wir sie deshalb versteckt haben“, stellte ein Aufseher klar und die anderen nickten. Währenddessen hatte Nathu angehalten, weil er seinen Freunden die Chance geben wollte, zu ihm ins Führerhaus zu kommen. „Na, wie habe ich das gemacht?“ begehrte er freudestrahlend zu erfahren, als er plötzlich den bewaffneten Aufseher erblickte und fürchterlich erschrak. „Ganz hervorragend hast Du das gemacht, Freundchen! So und jetzt wirst Du uns alle schön wieder zurückfahren“, befahl der Aufseher mit scharfer Stimme. Schnell erfaßte Nathu die Situation. Er wechselte kurz einen Blick mit Shankar, nickte und lief dann davon. Damit hatte der Aufseher nicht gerechnet. „Hiergeblieben! Sonst schieße ich!“ donnerte er und setzte zum Schuß an. Nathu blieb stehen. Inzwischen waren die vier Anderen im Rücken des Aufsehers. Jener beschäftigte sich für wenige Sekunden nur mit dem fast Geflohenen und das wurde ihm zum Verhängnis. Shankar schlich sich von hinten an ihn heran und schlug ihm mit der Faust auf den Kopf. Der Aufseher ging zu Boden und Raja schnappte sich seine Pistole. Sofort kehrte Nathu zum Lastwagen zurück und ließ ihn an. Doch der Aufseher kam sehr schnell zu sich, schnappte sich Indira und setzte ihr ein Messer an die Kehle. „Her mit der Waffe!“ rief er. Raja zögerte. Auch Shankar hatte nicht mit so einer Wende gerechnet. Sie waren alle schon auf dem Weg in den Lastwagen gewesen und jetzt das! Plötzlich holte Indira mit ihrem Ellbogen aus und rammte ihn dem Mann voll in den Magen. Während sich der vor Schmerzen krümmte, gelang es ihnen allen, in den Lastwagen zu steigen und damit loszufahren. Jetzt waren sie frei. Zumindest für ein paar weitere Stunden. „Du meine Güte! Vor Dir muß man ja richtig Angst haben“, meinte Shankar zu Indira. „Nur meine Feinde“, entgegnete sie lächelnd. Fröhliches Gelächter erscholl. Man hatte die Häscher abschütteln und ihnen auch noch ihre beste Waffe entreißen können. Es sah nun wirklich gut aus und deshalb war die Stimmung hervorragend.
„Nathu, Du bist der Beste“, lobte ihn Daya. „Nicht übertreiben. Das verdanken wir alles nur unseren Sklavenhaltern“, widersprach der. Verwundert schauten ihn die vier Anderen an. „Na ja, wenn die mir nicht gezeigt hätten, wie man den Lastwagen fährt, dann würden wir jetzt immer noch zu Fuß rumgurken.“ Da lachten sie. Aber auf einmal fiel Raja etwas ein. „Leute, das mit dem Lastwagen ist gut und schön, aber das kann uns noch zum Verhängnis werden“, behauptete er. „Was meinst Du damit?“ wunderte sich Indira. „Die wissen die Nummer und wenn sie ihn finden, dann finden sie auch uns.“ „Stimmt. Daran hätte ich jetzt nicht gedacht.“ „Raja hat Recht. Wir müssen den Lastwagen früher oder später stehen lassen“, bemerkte Shankar. „Lieber später“, ließ Daya verlauten, die froh war, nicht mehr laufen zu müssen. „Laßt mich mal kurz zusammenfassen: Wir sind höchstens noch 50 Kilometer von Neu Delhi weg und es wird bis abends dauern, bis die Aufseher in der Fabrik ankommen“, erläuterte Nathu. „Außer wenn sie jemand mitnimmt“, fügte Raja hinzu. „Jetzt hör aber auf. Vor solchen Gestalten laufen die Leute davon. Die nimmt niemand mit“, lästerte Shankar und sorgte damit für Stimmung. Plötzlich sah Nathu einen Schatten, der Sekunden später verschwunden war. Er hielt an. „Was hast Du vor?“ wunderte sich Shankar. „Da ist gerade jemand in die Höhle hinein“, antwortete Nathu. „Na und? Was geht uns das an?“ „Viel. Entweder sind das Freunde oder Feinde.“ „Scheißegal. Fahr weiter!“ „Nein, ich seh mir das jetzt mal genauer an“, gab Nathu von sich, hielt an und stand auf. Er verließ den Wagen und da er der Einzige von ihnen war, der ihn fahren konnte, stiegen auch die anderen Vier aus, um ihm zu folgen. Nathu ging in eine Höhle hinein, in der er das Lebewesen vermutete. „Hab keine Angst! Wir tun Dir nichts!“ rief er in die Dunkelheit. „Verschwindet!“ brüllte jemand aus dem Inneren der Höhle. „Wir sind Freunde!“ „Das sagen sie alle.“ „Wir sind unbewaffnet und kommen in friedlicher Absicht!“ „Dann schafft erst mal Euren Lastwagen weg! Es muß ja nicht sein, daß man uns hier findet“, mahnte die Stimme. Shankar hatte inzwischen gemerkt, daß es sich bei dem Antwortgeber um einen Jungen in ihrem Alter handeln mußte. Darum erteilte er Nathu folgenden Auftrag: „Fahr den Lastwagen ein paar Kilometer weg, verstecke ihn ein wenig und komm dann zurück!“ „Ich komme mit“, stellte Daya klar und dagegen hatte Nathu nun wirklich überhaupt nichts. Während er sich mit Daya daran machte, den Lastwagen in ein sicheres Versteck zu bringen, setzte Shankar die Unterhaltung fort. „Ich bin Shankar und neben mir sind Indira und Raja. Wir sind aus einer Kinderfabrik geflohen.“ Als die „Höhlenbewohner“ jene Worte vernommen hatten, fühlten sie sich sicher. Wenige Augenblicke später standen sechs junge Menschen vor den drei Neuankömmlingen. „Dann seid Ihr so wie wir. Ich bin Bharat, das ist Sardar, das ist Parwez, das ist Tejbin und das sind Hirabai und Sonia“, stellte Bharat sich und seine Leute vor. „Später kommen noch Nathu und Daya. Die bringen nur den Lastwagen weg“, erzählte Shankar. „Wie kommt Ihr eigentlich an einen Lastwagen?“ wollte Tejbin wissen. Da erzählte ihm Shankar die ganze Geschichte und seine Zuhörer begannen zu lachen. „Das ist ja ein starkes Stück. Da seid Ihr ja in kurzer Zeit verdammt weit gekommen“, stellte Sardar fest. „Und was ist mit Euch?“ fragte Indira. „Ja, das ist eine etwas längere Geschichte. Aber ich denke, daß Ihr ein bißchen Zeit habt und darum will ich sie Euch erzählen“, begann Parwez, um dann fortzufahren: „Wir kommen aus einer Kinderfabrik in der Nähe von Moradabad. Dort haben wir es nicht mehr ausgehalten. Die hatten tatsächlich vor uns zu zwingen, von früh sechs Uhr bis zehn Uhr abends zu arbeiten und wollten uns nicht mal mehr zahlen. Wir hatten eh schon lange vor zu fliehen und darum waren wir dann umso entschlossener. Das Problem war, daß man uns in der Nacht immer einsperrte, so daß wir eigentlich keine Fluchtmöglichkeit hatten. Um das zu umgehen, sagten wir sechs, wir wollten gleich mal bis zehn Uhr arbeiten um zu sehen, wie das ist. Der Chef und seine Aufseher hatten natürlich nichts dagegen, so daß wir weitermachen konnten. Zur Belohnung für unseren Fleiß durften wir dann kurz nach zehn Uhr raus und ein bißchen was rauchen. Natürlich waren zwei Aufseher dabei, die uns nicht aus den Augen ließen. Auf einmal fuhren Hirabai und Tejbin wie vom Blitz getroffen zusammen und gingen zu Boden. Das war zwar alles nur gespielt, aber das wußten die Aufseher natürlich nicht. Normalerweise hätten sie ja auf die Beiden eingeprügelt, doch nachdem wir so fleißig gewesen waren, wollten sie uns natürlich am Leben erhalten. Sie beugten sich zu den scheinbar Verletzten hinunter und da bekamen sie von uns ein paar Hiebe, bis sie bewußtlos waren. Na gut, wir haben sie auch ein wenig gewürgt, weil diese Typen ja verdammt zäh sind. Jedenfalls haben wir sie geknebelt und gefesselt und sie an einen Platz gebracht, wo man sie nicht so leicht finden würde. Das ging, weil sie bewußtlos waren. Dann machten wir uns aus dem Staub. Die anderen Aufseher saßen drinnen im Büro vom Chef und forderten derweil höhere Löhne, weil sie uns nach der geplanten Arbeitszeitverlängerung ja länger mißhandeln mußten. Das alles geschah vor fast zwei Wochen. Und jetzt sind wir hier, ganz nahe an unserem Ziel.“ „Sagt mal, wieso habt Ihr so lange gebraucht? Ich meine, Ihr konntet doch den ganzen Tag marschieren“, äußerte sich Raja ein wenig erstaunt. „Hast Du eine Ahnung! Wir sind nur in der Nacht gelaufen und da auch nur ein paar Stunden. Dann haben wir uns einen sicheren Unterschlupf gesucht. Am Tag ist das alles viel zu gefährlich. Da treiben sich so viele fiese Typen herum, daß es besser ist, wenn man sich versteckt hält. Solche Bosse einer Kinderfabrik haben überall ihre Leute. Lieber brauchen wir etwas länger und kommen sicher ans Ziel als umgekehrt“, trug Bharat vor. Seine Mitstreiter nickten. „Was haltet Ihr davon, wenn wir uns zusammenschließen?“ erkundigte sich Shankar, der von der Einstellung seiner neuen Bekannten sehr angetan war. „Nichts dagegen. Je mehr zu uns gehören, desto stärker sind wir“, ließ Tejbin von sich hören.