Buch lesen: «Angela Autsch»
ANGELA AUTSCH
Der Engel von Auschwitz
Eine literarische
Biografie von
ANNEMARIE REGENSBURGER
Inhalt
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Vierter Teil
Anmerkungen
Erster Teil
„Ein Rad, Mariechen, schau ein Rad“, ruft Amalia, als sie ihrer Schwester ein Glas Wasser in den Gemüsegarten bringt. Marie sieht auf, fährt sich mit der Hand über ihre heiße Stirn, stolpert über den Kübel voll Bohnen, den sie soeben gepflückt hat, und läuft, so schnell sie kann, dem jungen Mann, der eben mit seinem Fahrrad vorbeifährt, hinterher. Dieses hat vorne ein großes und hinten ein kleineres Rad. Marie klatscht in die Hände, lacht und ruft dem Mann nach, der sie fröhlich zurückgrüßt. Sie bleibt stehen, streicht sich über die Augen und sieht den Fahrradfahrer um die Ecke verschwinden.
Ein Rad, noch nie hat sie ein Rad gesehen.
Sie kommt in den Garten zurück und sagt zu ihrer Schwester: „Du, Amalia, ich möchte auch einmal so ein Rad haben. Da kommt man viel schneller voran und lustig ist das Radfahren sicher auch noch dazu. Wie schnell sich die Räder drehen! Sobald ich selber ein Geld verdiene, werde ich mir eines kaufen.“
Noch kann sie nicht ahnen, wohin sie einmal die ratternden Räder eines Zuges bringen werden. Ihre kleine Welt ist noch heil.
Die Mama kommt bei der Haustüre heraus und ruft: „Mariechen, was machst du denn, bist du nicht beim Bohnenpflücken?“
„Doch, Mama, entschuldige, ein Mann ist soeben mit einem Fahrrad vorbeigefahren. Mama, ein richtiges Rad, das sich bewegt. So eines möchte ich auch!“
„Ach, Mariechen“, seufzt die Mama, „ein Rad kostet viel Geld. Du weißt, wir müssen sparen, komm jetzt, komm, es ist Mittagszeit.“
Marie läuft mit ihrer Schwester Amalia ins Haus. Ihre Schwester Gertrud kommt aus der Waschküche. Die Mama zerrt die kleineren Brüder Wilhelm und Franz zum Wassertrog. „Wascht euch die Hände, ihr Lausbuben. Wo habt ihr nur wieder gesteckt?“
Maries älteste Geschwister Elisabeth und August sind bereits im Dienst. Auch der Vater kommt nicht zum Mittagessen. Er arbeitet bei den Westfälischen Kalkwerken als Maschinist bei der Werkskleinbahn.
Alle anderen setzen sich jetzt um den Tisch. Marie greift zu einem Gebetbuch in der Ecke, streicht zärtlich über den Umschlag und schlägt ein Gebet auf. Die Mama und die Geschwister falten ihre Hände und hören auf Maries eindringliche Stimme. Danach steht die Mama auf, holt die Schüssel mit dem Essen, schüttelt leicht ihren Kopf und denkt bei sich: „Was wird wohl einmal aus diesem Mädchen werden?“
Doch Marie weiß dies bereits. Vier Monate zuvor, am 14. April 1912, ging sie zur Erstkommunion. Das war ein Fest! Am Vorabend hatte ihr die Mama mit der Brennschere Stopsellocken gemacht, die sie für die Nacht mit einem Haarnetz schützte. Als dann am Morgen der Zug der Erstkommunionkinder von der Schule in die Kirche ging, leuchteten Maries kupferrote Haare besonders schön in der Morgensonne. Die Musikkapelle spielte, Marie klopfte ihr Herz, denn Jesus im Brot zu empfangen, war das bisher größte Geschenk in ihrem Leben.
Als sie von der Kommunion in ihre Bank zurückkommt und die Hände vor das Gesicht schlägt, bittet sie Jesus: „Bitte, bitte, schenk mir die Gnade, dass ich Ordensschwester werden kann.“ Ihr Herz ist so übervoll, dass sie diese Bitte ihrer um sechs Jahre älteren Schwester Elisabeth anvertraut.
Nach dem Essen läuft Marie schnell in die Kammer, die sie mit ihren Schwestern teilt, und kniet sich vor dem kleinen Altar auf ihrer Kommode, den sie seit ihrer Erstkommunion immer mit frischen Blumen schmückt, hin und sagt: „Jesus, ich weiß, dass du immer bei mir bist, ganz gleich was ich mache. Wir sind wie zwei Wassertropfen, die im Meer deiner großen Liebe ineinander aufgehen.“
Schnell wirft sie noch einen Blick auf das Marienbild, das sie bei der letzten Wallfahrt nach Kohlhagen, die sie mit ihrer Familie im Mai gemacht hat, bekommen hat. Maria und Jesus, das sind ihre zwei Verbündeten, von denen sie sich beschützt fühlt.
22 Jahre später möchte Marie ihre Liebe zu Jesus ihrem Lieblingsneffen Werner mit auf seinen Weg geben und schreibt am 3. April 1934 vom Kloster in Mötz ein Gedicht für ihn, in dem es unter anderem heißt:
„Ach könnte doch dein Kinderherz erfassen, das große Glück,
nie würdest deinen Heiland du verlassen!
Nie würdest deinen Heiland du betrüben,
nie deine Seel mit einer Sünd beflecken! (Brief 2)
Und geh mit offnem Herzen deinem Heiland so entgegen,
und bitt ihn recht, er möcht dich ganz sein Eigen nennen!
Schließ auch in dein Gebet all deine Lieben,
flecht auch ein kurz Gedenken meiner mit hinein,
denn Kinderherzchen nie vergebens flehen,
wenn sie vertrauensvoll zum Heiland gehen.“ (Brief 2)
Die Schlussstrophe heißt:
„Fest hab ich’s mir vorgenommen,
in den Himmel muss ich kommen!
Mag es kosten, was es will,
für den Himmel ist mir nichts zu viel!“ (Brief 3)1
Am Abend, als alle Bohnen geputzt und zum Konservieren vorbereitet sind, braut sich ein Gewitter zusammen. Die ersten Regentropfen fallen. Marie sieht ihren Vater in seinem Arbeitsgewand und den kalkigen Schuhen mit schnellen Schritten auf das Haus zukommen. Sie öffnet ihrem Vater die Tür und ruft:
„Papa, ich habe heute einen Mann auf einem Fahrrad gesehen. Wenn ich Geld verdiene, kaufe ich dir eines. Dann kommst du schneller heim und wirst nicht so nass wie heute.“
„Ach Mariechen, du denkst immer zuerst an die anderen. Jetzt werde einmal erwachsen, dann sehen wir weiter.“
Nach einem einfachen Abendessen beten alle gemeinsam den Rosenkranz. Wilhelm und Franz stoßen sich ab und zu gegenseitig, doch niemand weist sie zurecht. Buben sind eben Buben und können noch nicht so lange stillhalten. Vor dem Zubettgehen hört Marie, was der Vater zur Mama sagt:
„Weißt du, Amalia, es geht uns eigentlich recht gut. Ich habe Arbeit. Du hast zwar mit den Kindern sehr viel zu tun, doch die Größeren helfen schon fleißig mit. Besonders Marie ist immer sehr aufmerksam.“
„Ja, August, das stimmt. Manches Mal frage ich mich, was wohl aus ihr werden wird. Sie ist empfindsamer als die anderen, vor allem, wenn es um religiöse Dinge geht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie selbstverständlich sie auf Gott vertraut.“
„Ja, darauf müssen wir auch wieder mehr vertrauen. Ich glaube, dass schwierige Zeiten auf uns zukommen. Wo ich auch hinkomme, höre ich Schlagwörter wie:
‚Kampf um Lebensraum‘, ‚Kampf um eine nationale Existenz‘. Die Deutschen wollen expandieren und unser Kaiser Wilhelm unterstützt dies noch. Wenn das nur nicht zu einem Krieg führt.“
Marie klopft das Herz bis zum Hals. Sie läuft in ihre Kammer, kriecht unter ihre Bettdecke und betet, bis sie einschläft.
„Macht es gut, Kinder“, ruft die Mama ihren fünf Kindern nach, die sich nach dem langen Sommer auf den Schulweg machen. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht sie, als sie sieht, dass Marie den kleinen Franz an der Hand hält. Nun ist auch ihr Jüngster in der Schule. Sie geht zurück ins Haus, das auf einmal so still ist, und räumt den Tisch ab. Plötzlich wird ihr schwindlig. Sie muss sich hinsetzen. Eine Schwäche überkommt sie. Ein paar Tränen rollen ihr über die Wangen. Es ist, als ob sie sich heute zum ersten Mal eingestehen kann, dass sie erschöpft ist. Sieben Kinder in elf Jahren haben an ihrer Substanz gezehrt. Auch wenn sie froh ist, dass nun alle Kinder „aus dem Ärgsten draußen sind“, wie man im Volksmund sagt, überkommt sie heute ein eigenartiger Schmerz. Sie spürt, dass sie die Kinder nicht halten kann, dass sie ihre eigenen Wege finden müssen. Die unruhige politische Lage macht ihr ebenfalls Sorgen. Die Männer diskutieren im nahen Gasthaus viel lauter und aggressiver als noch vor kurzer Zeit. Wenn nur kein Krieg kommt!
Sie gibt sich einen Ruck, steht auf und macht sich an die Arbeit.
Inzwischen haben die Kinder den Schulhof erreicht. Marie übergibt der Lehrerin der ersten Klasse ihren kleinen Bruder Franz, der noch etwas verängstigt in die Klasse hineinschaut.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagt Marie. „Ich hole dich nach der Schule wieder hier ab.“
Die Schülerinnen und Schüler der siebten Schulstufe begrüßen einander lautstark. Marie fragt ein paar Buben: „Hat jemand von euch auch im Sommer den Fahrradfahrer gesehen?“ Ein Bub antwortet lachend: „Ja. Sobald ich selber ein Geld verdiene, kaufe ich mir auch ein Fahrrad.“ Marie lächelt und sagt: „Ich auch!“
Jahre später werden diese zwei öfters miteinander eine Radtour machen und der inzwischen erwachsen gewordene Bub wird Marie den Hof machen.
Der Lehrer macht die Kinder aufmerksam, dass in diesem Schuljahr die Vorbereitung für das Sakrament der Firmung stattfindet. Marie spürt ihr Herz klopfen. Auch wenn sie die anderen Fächer gerne mag, so ist ihr doch Religion am liebsten. Sie sehnt sich danach, durch die Geistkraft Gottes gestärkt zu werden. Für sie ist die Verbindung von oben nach unten und von unten nach oben etwas ganz Natürliches. Heute würde man sagen, oben und unten sind eins. Ein Jahr später, am 12. September 1913, dem Fest Mariä Namen, ist im Hause Autsch schon am frühen Morgen viel los. Marie, Amalia, Gertrud und Wilhelm ziehen sich ihr bestes Gewand an. Die Mama hat am Vorabend den Mädchen wieder Locken mit der Brennschere gemacht. Bei allen fallen die Haare heute wunderschön. Der Vater steht bereits mit dem Pferdefuhrwerk vor dem Haus und ruft: „Kinder, seid ihr endlich fertig? Wir müssen fahren!“
Die vier Firmlinge laufen aus dem Haus, winken der Mama in der Haustüre, steigen in den Wagen und fahren los. Seit ihrer Erstkommunion waren sie nicht mehr in Schönholthausen, der Mutterpfarre der umliegenden kleinen Gemeinden.
Was ist das für sie eine Aufregung, mit den vielen Kindern in der Kirche zu sitzen. Und dann der Höhepunkt! Dem Bischof von Paderborn wird die Bischofsmütze aufgesetzt. Er nimmt den Bischofsstab und spendet dann jedem einzelnen Kind durch eine Berührung seiner Hand an der Wange des Kindes das Sakrament der Firmung. Marie spürt förmlich, wie die Geistkraft sie erfüllt. Als dann anschließend die ganze Gemeinde „Großer Gott, wir loben dich …“ miteinander singt, ist für Augenblicke für alle der Himmel offen.
104 Jahre später, im Oktober 2017, bei der Gedenkmesse für Schwester Angela Autsch, machen die GottesdienstbesucherInnen wieder eine ähnliche Erfahrung.
Langsam füllt sich die Kirche St. Nikolaus in Innsbruck. Eine besondere Spannung liegt in der Luft. Heute wird im Gedenken an Schwester Angela Autsch die „Erdwärtsmesse“ gefeiert. Der Tiroler Komponist Peter Jan Marthé hat diese Messe komponiert. Gefeiert wird mit dem ehemaligen Erzbischof von Salzburg, Alois Kothgasser. Frauen und Männer aus der Diözese Innsbruck tragen mit Texten zum Gelingen dieses Gottesdienstes bei. Ich knie mich neben eine geistliche Schwester und frage sie, wer sie ist.
„Ich bin Schwester Evangelista aus Mödling, auch eine Trinitarierin wie Schwester Angela Autsch.“
Ich lächle und sage ihr, dass ich sie und die anderen Schwestern in Mödling besuchen möchte, weil ich einen Roman über das Leben von Schwester Angela Autsch schreiben werde. Sie nickt, ein Händedruck, die Orgel braust auf. Die Menschen stehen auf, im Mittelschiff kommen von hinten die Ministrantinnen und Ministranten, die Mitzelebranten und zum Schluss der Bischof mit Hirtenstab und Bischofsmütze am Haupt.
Barbara – ihr Name bedeutet „die Fremde“ – begrüßt alle Anwesenden. Sie ist wirklich eine Fremde im noch immer nur von Männern beanspruchten Altarraum. Sie stammt aus Mötz und hat sich ganz besonders für das Wiedererwachen der Erinnerung an Schwester Angela Autsch eingesetzt und mit großem Einsatz diesen Gottesdienst koordiniert.
„Kommt, singt dem Herrn ein neues Lied, preist ihn, der uns geladen …“, beginnt der Chor das erste Lied und mit hundertfachen Kehlen stimmen die Menschen mit ein, lassen den Alltag hinter sich, lassen sich mittragen von den Klängen der Instrumente. Das gesprochene Wort am Altar gibt die nötige Erdung, dass die Menschen nicht mit Flügeln emporgehoben werden. Irgendwann vor der Kommunion, dem Zentrum christlicher Gemeinschaft, während der Chor singt, heißt es: „Wer mich liebt, der bleibt in mir und ich in ihm“, ich dichte noch schnell dazu „und auch in ihr“. In diesem Moment bricht ein Sonnenstrahl in den Kirchenraum. Die Fenster glänzen noch bunter, die Menschen singen noch inbrünstiger. Es ist, als ob Schwester Angela auf diese Weise ihr Lächeln über Raum und Zeit hinweg erdwärts senden würde. Für einen Augenblick ist die Trennlinie zwischen Wissen und Glauben aufgehoben, für kurze Zeit ist alles eins. Am Abend schreibe ich dem Komponisten und dem Chor einen Text zur Erdwärtsmesse:
Erdwärts
strömt die Geistkraft
taucht
in Allem
was lebt
ein –
trifft mitten
in ein Herz
das einfängt
himmlische Klänge
sie umsetzt
bis die Klänge
tausendfach
himmelwärts
klingen –
Für einen
Augenblick
Erde
und Himmel
eins
Das letzte Schuljahr für Marie. Als ob die Geistkraft Gottes die Kinder für den Übergang ins Erwachsenwerden gestärkt hätte, spüren sie, dass sie nicht mehr Kinder sind. Verträumte Blicke wandern von den Mädchen zu den Buben und umgekehrt. Auch Marie wird rot, als sie den Buben, der – so wie sie – einen Fahrradtraum hat, anlächelt. Doch in ihrer tiefsten Seele weiß sie, dass sie ins Kloster gehen will. Sie hatte ja Jesus bei der Erstkommunion um diese Gnade gebeten.
Im Juni 1914 drückt ihr der Lehrer das Abschlusszeugnis in die Hand und sagt:
„Marie, du warst eine besonders begabte und liebenswerte Schülerin. Du hast dich auch immer um Frieden in der Klasse bemüht. Nun hast du die Volksschule mit Auszeichnung abgeschlossen. Bleib dir treu.“
Marie wird wieder rot, denn sie versteht nicht genau, was der Lehrer mit „sich treu bleiben“ meint. Jetzt wird sie, wie ihre älteren Schwestern, daheim mithelfen, denn die Mama ist ab und zu kränklich.
Am Samstag, den 1. August 1914, fällt Bamenohl aus dem friedlichen Alltag. Was viele schon lange geahnt, was Amalia und August hinter vorgehaltener Hand, um die Kinder nicht zu verängstigen, geflüstert haben, ist nun Wirklichkeit geworden.
Marie ist gerade mit zwei Schwestern im großen Gemüsegarten. Sie jäten Unkraut und bereiten einige Beete für die Herbstpflanzung vor. Plötzlich schrecken die Mädchen hoch. Ein Mann, mit einer schrillen Glocke in der Hand, kommt die Straße entlang und schreit: „Die Mobilmachung ist befohlen.“
Die Mädchen laufen ins Haus. Dort erwarten sie bereits Mutter und Vater.
„Papa, musst du auch in den Krieg ziehen?“, fragt Marie ängstlich.
„Ich nicht, aber euer Bruder August, denn er ist bereits 19 Jahre alt.“
Die Mädchen beginnen zu schluchzen:
„Aber warum, warum muss er in den Krieg, warum ist überhaupt jetzt Krieg?“
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortet der Vater. „Setzt euch nieder. Ich erzähle sie euch. Komm, Amalia, setz dich auch zu uns. Heute sind wir nicht mehr zum Arbeiten fähig. Heute hat uns die große Weltgeschichte eingeholt.“
Soeben kommt mit fragendem Blick August bei der Tür herein. Als er erkennt, was los ist, bleibt ihm der Atem stehen:
„Muss ich auch einrücken?“
Alle nicken. August nimmt es gefasst. Unter den jungen Männern wurde ja schon längere Zeit über diese Möglichkeit diskutiert und wie die meisten jungen Leute ließ auch er sich von der allgemeinen Jubelstimmung mitreißen. Viele waren sowieso der Meinung, dass der Krieg in kürzester Zeit vorüber sein und Deutschland als Siegermacht hervorgehen würde.
August tröstet deshalb seine Eltern und Geschwister und sagt:
„Macht euch nicht zu viele Sorgen um mich. Wir werden den Krieg gewinnen. Ich gehe, wenn es möglich ist, zur Marine. Ich möchte nämlich aufs Meer hinausfahren. Ihr betet inzwischen für mich.“ Und mit einem Augenzwinkern zu Marie sagt er noch:
„Vor allem du, Marie, du hast ja einen besonderen Draht nach oben.“
Alle blicken zu Marie, deren Augen voll mit Tränen sind. Doch ein wenig haben sich inzwischen alle beruhigt und der Vater beginnt mit der Geschichte, die den Ersten Weltkrieg innerhalb von sechs Wochen ausgelöst hatte.
„Am 28. Juni 1914 besuchte der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand mit seiner Frau Sophie die bosnische Hauptstadt Sarajevo. Bosnien wurde 1908 von Österreich-Ungarn annektiert, was den Widerstand vor allem nationalistisch eingestellter Serben hervorrief. Ihr müsst euch vorstellen, dass bereits am Morgen, als das Thronfolgerpaar in einem offenen Wagen zum Rathaus gefahren ist, ein Bombenanschlag auf sie verübt wurde. Einige Menschen wurden dabei verletzt. Trotzdem fuhren sie im offenen Wagen weiter. Weder das Thronfolgerpaar noch die Eskorte nahmen die Gefahr ernst. Erzherzog Franz Ferdinand trug einen weißen, kaiserlichen Mantel, schräg über seiner Brust eine rotweißrote Schleife und auf seiner Mütze vermutlich einen grünen Federbusch. Seine Ehefrau Sophie trug ein rohweißes Spitzenkostüm und darüber einen lila Seidenmantel, ebenfalls mit Spitze besetzt. Ihr weitkrempiger Hut war auf ihre Kleidung abgestimmt.“
„Wie schön muss sie gewesen sein!“, rufen die Mädchen wie aus einem Munde.
„Ach ihr Mädchen, ihr seid so romantisch!“, meint August. „Ich muss jetzt zu meinen Kollegen gehen, damit wir ausmachen können, um welche Zeit wir uns morgen stellen sollen.“ Mit diesen Worten verlässt der Bruder die Küche.
Die Mädchen sind wieder mit der Wirklichkeit konfrontiert, denn die bisherige Erzählung des Vaters kam ihnen wie ein Märchen vor.
„Und dann“, sagt der Vater, „ein Schuss aus einer Pistole, dann ein zweiter. Zuerst wird Sophie getroffen. Franz Ferdinand fleht sie noch an, am Leben zu bleiben, da trifft ihn der zweite Schuss in den Hals. Nur wenig später sind der Erzherzog und seine Frau tot. Der Mörder war ein Bosnier mit serbischen Wurzeln, der sich als Kämpfer für die Vereinigung aller Serben sah. Die österreichisch-ungarische Führung unter Kaiser Franz Joseph glaubte nicht an die Tat eines Einzelnen. Sie hegte den Verdacht, dass Serbien dahinterstünde. Darum hat nun Österreich vor vier Tagen, am 28. Juli, Serbien den Krieg erklärt.“
„Aber Papa, was hat das mit uns zu tun?“, fragt Marie. „Wir gehören doch nicht zu Österreich.“
„Wisst ihr, unser Kaiser Wilhelm ist mit dem österreichischen Kaiser verbündet. Das heißt, dass sie beide zusammenhalten. Der russische Zar Nikolaus sieht sich als Schutzherr Serbiens. Frankreich und Großbritannien stehen wiederum auf Russlands Seite. Weil Deutschland zu Österreich hält, hat unser Kaiser Wilhelm heute Russland den Krieg erklärt.
Jetzt ist es aber genug mit meinem Erzählen. Vielleicht könnt ihr nun begreifen, wie schnell Millionen von Menschen, ohne dass sie es wollen, in einen Krieg verwickelt werden.“
Am nächsten Tag, Sonntag, der 2. August, als die Menschen auf dem Weg zur Kirche sind, befestigt der Ortsvorsteher von Bamenohl am schwarzen Brett den Befehl des Kaisers, in dem es heißt, dass alle wehrfähigen Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren einberufen werden.
So viele Tränen sind bei einem Sonntagsgottesdienst schon lange nicht mehr geflossen. Vielerorts herrscht aber auch Begeisterung. Ein nationaler Überschwang, ja ein regelrechtes Glücksgefühl erfasst sehr viele Menschen im August bei Kriegsbeginn in Deutschland. Es wird als August-Erlebnis in die Geschichte eingehen.
Obwohl Deutschland nicht angegriffen wurde, sehen viele Menschen den Krieg als gerecht, als einen Verteidigungskrieg an. Es wehen Fahnen, in den Gottesdiensten wird um den Beistand Gottes gebetet, die Menschen jubeln auf den Straßen ihren Soldaten zu, die lachend und winkend vorbeiziehen und in Bahnwaggons Richtung Front fahren. Auf den Waggons steht mit Kreide „Auf zum Preisschießen nach Paris“. Lange Zeit wurde von der Politik die Überzeugung genährt, dass man den Gegnern überlegen sei. Die Aufrüstung und der Aufbau der Marine erreichten ein gigantisches Ausmaß. Nationalismus und Militarismus werden hochgejubelt. Doch nicht nur Deutschland, auch fast alle anderen Staaten Europas hatten sich schon lange auf einen Krieg vorbereitet. Innerhalb von sechs Wochen ist Europa in einen Weltkrieg gestürzt.
„August, ich habe dir deine Wäsche eingemerkt. Auf den Kleidungsstücken stehen mit rotem Kreuzstich die Anfangsbuchstaben deines Namens drauf.“ Amalia blickt ihren Sohn mit Tränen in den Augen an.
„Mama, sei nicht traurig. Der Krieg ist bis Weihnachten sicher vorbei. Stell dir vor, ich werde bei der Marine genommen. Ich fahre wirklich in das weite Meer hinaus. Danke, dass du mir alles so schön gerichtet hast.“
Schnell drückt August seiner Mutter noch einen Kuss auf die Wange und läuft aus der Küche, damit sie seine Tränen nicht sieht.
„August, komm am Abend pünktlich zurück. Wir kochen dir heute noch dein Lieblingsessen!“, ruft ihm die Mama noch nach.
Gertrud und Amalia sind bereits in der Küche und sprechen über den beginnenden Krieg. Ein bisschen haben sie sich von Augusts hoffnungsvollem Optimismus, dass der Krieg bald vorbei sei, anstecken lassen. Doch die Traurigkeit liegt wie ein Schleier über der Küche.
„Kommt zur Arbeit, Mädchen“, sagt die Mama etwas zu burschikos. Sie will sich ihre Trauer nicht anmerken lassen. Marie jedoch spürt sofort ihren Schmerz und sagt:
„Mama, wir kochen und weinen jetzt zusammen. Dann wird uns allen leichter ums Herz.“
Der Mama huscht ein Lächeln über die Lippen und sie streicht Marie sanft über ihre Haare. Dann geht es an die Arbeit. Heute soll es ein Festessen werden: Grießnockerlsuppe, sauerländischer Sauerbraten, eingebranntes Weißkraut und die typischen Kartoffelklöße aus dieser Gegend. Für den Nachtisch schickt die Mama Amalia und Marie in den Garten, um alle Beeren, die sie finden, zu pflücken. Vor allem die Brombeeren sind nun reif.
Als die Mädchen allein im Garten sind, fragt Amalia ihre Schwester Marie:
„Hast du auch um August Angst?“
„Ich vertraue darauf, dass die Muttergottes ihn beschützt. Weißt du, wir beten einfach jeden Tag vor dem Schlafengehen in unserer Kammer noch einen Rosenkranz für ihn. Gertrude macht sicher auch mit.“
Während sich die Mädchen beim Pflücken auch ab und zu eine süße Beere in den Mund stecken, werden sie ruhiger.
In der Küche dampft es inzwischen aus allen Töpfen. Der Tisch wird gedeckt. Amalia holt noch schnell die ersten blühenden Dahlien vom Garten. Die Mama hat vom Sonntag noch ein wenig Rahm übrig. Marie schlägt nun in einem Kupferkessel den Rahm zu Sahne, füllt neun kleine Schüsseln mit den abgezupften Beeren und gibt einen Löffel geschlagene Sahne darüber. Die Mama spendiert sogar ein wenig Zucker, sodass es ein perfekter Nachtisch wird.
Die älteste Schwester Elisabeth kommt von der Arbeit. Ihr bleibt der Mund offen, als sie den schön gedeckten Tisch sieht, und sagt:
„Ja, was ist denn heute bei uns los?“
„Du weißt doch, heute gibt es das Abschiedsessen für August“, sagt Marie.
„Ach ja“, seufzt Elisabeth, „das habe ich bei der ganzen Arbeit beinahe vergessen.“
Alle hören schwere Schritte und ein Räuspern, mit dem Vater August seine Rührung verbirgt, als er in die Küche kommt. Dann stürmen noch Wilhelm und Franz mit ihrem großen Bruder August herein. Dieser hat noch einmal mit seinen kleinen Brüdern so richtig gerauft und sich dabei auch den Schleier auf seiner Seele vertrieben. Alle setzen sich um den Tisch. Heute beginnt der Vater mit dem Tischgebet: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …“ Beim „dein Reich komme“ kämpft er mit den Tränen, denn Krieg ist immer das Gegenteil von Gottes Reich. Alle stimmen in das Gebet ein und Marie fährt mit dem „Ave Maria“ fort. Alle lächeln, denn sie wissen, was für Marie „die Himmelmama“ bedeutet.
Marie schiebt noch schnell ihre Marienmedaille, die sie zur Erstkommunion erhielt, zu ihrem Bruder hin und sagt:
„Alle Mütter wollen, dass ihre Kinder am Leben bleiben, auch die Muttergottes.“
Verlegen sieht August die Medaille an und kämpft mit den Tränen. Er nickt liebevoll zu Marie hin. Beide wissen auch ohne Worte, dass diese Medaille an seiner Brust Platz haben wird.
Das Essen schmeckt ausgezeichnet. Es wird gelacht und geschwatzt. Wilhelm und Franz sind ganz aufgeregt und fragen:
„August, wirst du wirklich auf ein Schiff kommen? Gegen wen musst du dann kämpfen? Werden dich die Feinde nicht abschießen?!“
„Fragt nicht so viel auf einmal“, sagt die Mama, „und schluckt zuerst euren Bissen hinunter.“
„Vermutlich muss ich gegen England kämpfen, aber seid ohne Sorge. Ich bin in einem Unterseeboot. Das sieht man nicht auf dem Meer.“
„Ja, aber wenn die Feinde auch unter Wasser sind, können die Boote zusammenstoßen“, sagt Wilhelm etwas altklug.
„Das stimmt. Deswegen muss man ganz gut aufpassen und genau die Seekarte lesen können, damit man weiß, wo man sich befindet. Aber wisst ihr, dass ich nur ein ganz einfacher Marinesoldat bin. Der Kommandant, der Kapitän und viele Offiziere kennen sich viel besser aus als ich.“
Die Buben geben sich zufrieden. Sie sind sehr stolz auf ihren großen Bruder.
Nach dem Essen sagt Marie:
„Kommt, wir beten noch einmal gemeinsam den Rosenkranz. Die Küche räumen wir später auf.“
Das gleichmäßige Gebet sinkt in ihre Seelen und beruhigt das Gemüt. Zum Schluss greifen alle in den Weihwasserkessel und segnen August. Dabei stoßen sich Wilhelm und Franz gegenseitig an und sie können das Lachen nicht mehr verbeißen, denn noch nie haben sie ihrem großen Bruder ein Kreuz auf die Stirn gemacht. Die ganze Familie stimmt in ihr Lachen ein und die Traurigkeit ist für kurze Zeit verflogen.
Am nächsten Morgen läutet es schon früh an der Haustüre. Einige Kollegen holen August ab. Es geht alles sehr schnell. So bleibt beim Abschiednehmen keine Zeit für Traurigkeit. Die Eltern und alle sechs Geschwister winken August nach. Bevor der Weg eine Biegung macht, dreht er sich noch einmal um und winkt zurück.
Die Menschen in Bamenohl können noch gar nicht begreifen, was da über sie hereingebrochen ist. Plötzlich sind keine jungen Männer mehr da. Die Schulen werden aus Mangel an Lehrern vorübergehend geschlossen. Sogar die Fabrik im nahen Finnentrop, in der viele Bamenohler Männer Arbeit fanden, wird vorläufig geschlossen. Lebensmittelknappheit und Preissteigerungen sind die Folge. Auch wenn vor dem Krieg viele Menschen einfach lebten, schlittern sie jetzt in die Armut.
„Wie gut, dass du noch Arbeit hast“, sagt Amalia eines Abends zu ihrem Mann.
„Ja, und wir haben eine Kuh, Hühner und ein Schwein“, sagt Marie. „Wir können dem lieben Gott danken.“
„Marie, du bist ein so gutes Mädchen“, sagt der Vater und streicht ihr über die Haare.
„Deswegen können wir ja von unsrem Gemüse und den Kartoffeln etwas hergeben“, wirft Marie noch einmal ein. „Kann ich Frau Luzia ein paar Kartoffeln, Eier und Äpfel bringen? Sie hat keinen Garten und ihr Mann ist im Krieg. Sie hat ein paar kleine Kinder.“
„Wo du nur alles herhast, Marie“, sagt lächelnd die Mama und beginnt einen Korb mit Lebensmitteln zusammenzupacken. Marie zieht sich die Schuhe an und nimmt den Korb.
Draußen ist es noch hell. Es ist ja erst Anfang September. Wie schnell sich doch in einem Monat das Leben in Bamenohl verändert hat, denkt sich Marie und läuft die Straße hinunter.
Die Eltern schauen ihr beim Küchenfenster nach, fassen sich bei den Händen und sagen gleichzeitig: „Unser liebes Mariechen hat ein so weites Herz.“
Diese kleinen Momente des Glücks können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg alles verändert hat. Wie ein dünner Trauerflor liegt die Sorge um August über der Familie. Niemand möchte die anderen mit der eigenen Sorge belasten.
Doch als Marie wieder einmal die Mama weinend beim Herd stehen sieht, sagt sie:
„Mama, machst du dir Sorgen um August?“
Die Mama nickt.
„Weißt du“, sagt Marie, „ich bin auch traurig, aber ich laufe oft in meine Kammer zum Marienbild und bete zu ihr.“
„Wir haben schon einige Wochen nichts von August gehört. Jetzt ist schon November. Weißt du noch, wie er gesagt hat, dass bis Weihnachten der Krieg zu Ende sein wird?“
Es klopft. Marie läuft zur Tür. Der Postbote bringt einen Brief. Marie erkennt gleich das Marinezeichen. Die Mama öffnet den Brief mit zittrigen Fingern. Im Brief schreibt August mit wackeliger Schrift, dass sich die Eltern und Geschwister keine Sorgen um ihn machen müssen. Er sei bei der Dritten Marineflotte eingesetzt, die vor allem das Auskundschaften des Feindes im Westen zum Auftrag hat. Auch hoffe er, dass er zu Weihnachten für ein paar Tage Heimaturlaub bekommen werde. Die Mama und Marie fallen sich um den Hals. Der sauerländische Bohneneintopf, den die Mama und Marie gemeinsam vorbereiten, schmeckt heute der ganzen Familie besonders gut. Für ein paar Tage löst sich der Trauerflor im Haus in Luft auf.
Ein paar Wochen später, am Heiligen Abend, liegt die Traurigkeit nicht nur über der Familie Autsch, sondern über ganz Bamenohl, denn es ist weder der Krieg vorbei, noch kamen die jungen Männer auf Urlaub heim. Die geduckte Haltung, mit der sich viele Menschen zur Mette aufmachen, rührt nicht nur vom kalten Wind. In vielen Fenstern brennt für Familienangehörige an der Front ein Kerzenlicht.
Eines Tages kommt der Vater mit einer guten Nachricht nach Hause: „Ich habe von einem Arbeitskollegen gehört, dass die Familie Brögger für ihre Kinder ein Kindermädchen sucht. Marie, möchtest du diese Arbeit annehmen?“
Marie schaut von ihrer Stickarbeit auf und sagt:
„Papa, das ist ja wunderbar. Da verdiene ich auch Geld und kann euch unterstützen. Irgendwann kaufe ich mir dann ein Fahrrad.“