Maiglöckchen sind …. giftig

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Maiglöckchen sind …. giftig
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Anne-Kathrin Wagner

Maiglöckchen sind …. giftig

Familiensaga

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Tränen

Das Drama unserer Familie,

Köln

Beginn einer Liebe

Chaos beginnt

Ende einer Ehe, Liebschaften…?!

Erpressung, Betrug, Hörigkeit

Mord oder Selbstmord

Lauras Hoffnungen

Geschäftsidee und Zuversicht an das Leben

Enttäuschung und Resignation

Impressum neobooks

Tränen

stürzten aus meinem Kopf

versiegt die Quelle in meinem

Kopf

getrocknet der Schmerz

verschorft

die Wunden

besiegt

die Tränen

sie fließen nicht mehr aus meinem

Kopf

Das Drama unserer Familie,

der Familie Hofreiter, beginnt mit kontaminierten Frikadellen anno 1890 – damals Fleischklopse genannt, heute Gammelfleisch – und einer Schuhfabrik mittlerer Größe im tiefsten Sauerland, fast Niemandsland, Bauernland, Anarchistenland, und dennoch waren wir eine angesehene Familie im gehobenen Mittelstand, arbeitsam und kirchentreu, Mutter, Vater, sechs Kinder.

Der Tod kam überraschend. Großvater starb tobend, immerzu schreiend:

»Nein, nein, ich will nicht sterben!« meterhoch im Bett springend, verzweifelt. Das Bett zerbrach unter seinen Krämpfen und Tobsuchtsanfällen. Er hat sich gewehrt, der tapfere Vater, der Fabrikbesitzer mittlerer Größe. Er hat geschrien und geweint, drei Tage lang.

Dann war er tot, der Kirchentreue. Er wurde gerade mal neun-unddreißig Jahre alt.

Meine Großmutter Jedda stand, saß und lag die ganzen drei Tage neben dem Bett, wie auch die vier Ältesten, starr vor Entsetzen. Die zwei Kleinsten lagen im Delirium. Einen Tag später waren auch sie tot.

Ewald und Erwin.

Und was tat meine Großmutter? Völlig erstarrt brachte sie alle auf einmal unter die geweihte Erde, das war billiger und das Loch war größer. Es konnte auf einmal ausgehoben werden, das sparte viel Geld. Was sollte sie tun, die Kirchentreue, allein mit sich und den übrig gebliebenen vier kleinen Kindern? Sie war unfähig weiterzudenken, war gelähmt. Verwandte gaben gute Ratschläge und den Kindern Essen. Dann zog sie wieder ab, die Verwandtschaft, man hatte schließlich seine eigenen Sorgen.

Nein, unvermögend war sie nicht, meine Großmutter Jedda, neununddreißig Jahre alt, aber unfähig. Erzogen, um Kinder zu gebären, viele Kinder, jedes Jahr eins, so stand es in der Bibel. Nur zum Zeugen war diese Sache gedacht. Sie war gottesfürchtig erzogen, und jetzt? Außer Gottesfurcht und verzweifelte Gebete nichts, nichts.

Jetzt trat der schlaue Geselle ohne Gottesfurcht auf den Plan. Hach, wäre doch gelacht! So’n kleines Frauchen mit so einem Vermögen kann man nicht aussparen. Heute würde man sagen: »Ran an die Mutter!», in diesem Falle im wahrsten Sinne des Wortes.

Es wurde geheiratet, sechs Wochen nach dem großen Loch in der Erde. Die Fabrik musste schließlich weiterlaufen.

Er schlug sie, meine Großmutter Jedda, vergewaltigte sie, soff, schlug auch die Kinder. Ein Jahr lang, dann hängte sich Jedda im Keller auf. Ihr Körper war übersät mit Hämatomen, einige waren geplatzt. Es blutete.

Sie wurde vierzig Jahre alt.

Robert, der Kleinste, vier Jahre alt, fand seine Mama, schrie, schrie das ganze Haus zusammen und verstummte.

Dieser Freitod sollte das Leben unserer Familie entscheidend beeinflussen. Hier liegt der Ursprung der traumatischen, tragischen Ereignisse, noch viele Jahrzehnte lang. Oder war es doch genetisch bedingt oder waren wir gar verflucht? Wer weiß das schon.

Die Verwandtschaft rückte wieder an. So ein Schwein aber auch. Er wird zum Teufel gejagt, der schlaue Geselle. Man teilte die vier Kinder unter der Verwandtschaft auf. Niemand wollte sie eigentlich, notgedrungen nahm man sie. Man hatte sich beratschlagt. Waisenhaus wäre doch zu arg und was sagen die Leute? Na ja, bringt schließlich Geld in die Kasse, so kleine Würmer fressen ja nicht so viel, sollen sie gesagt haben. Vermögen war da. Prima. Schade nur, dass es ein Vormundschaftsgericht gab, auch damals schon. Also ein Selbstbedienungsladen war es nicht, aber immerhin, auch Kleinvieh macht Mist.

Nur so’n Pech, dass Robert, der blöde Bengel, vier Jahre alt, der einmal mein Vater werden sollte, verstummte, einfach nicht mehr sprechen wollte.

Tun wir ihn in den Stall zu den Ziegen. Ein Strohsack reicht, eine Pferdedecke zum Zudecken. Essen kann er mit den Knechten. Das war praktisch, hat eigentlich nicht viel Arbeit gemacht, der Kleine, und monatlich die Summe vom Vormund. Hat der ihn jemals besucht, der Herr Vormund? Nee, warum denn auch? Er war doch bei der lieben Verwandtschaft.

Schwierig wurde es erst, als er in die Schule kam. Das kostete ein paar Hosen und ein Hemd im Sommer und verdammt noch mal dasselbe für den Winter und dann wahrhaftig auch noch teure Schuhe. Meine Güte, wer sollte das alles bezahlen? Da hatte man doch jetzt tatsächlich in den Kleinen, sich immer noch kaum artikulierenden Robert Geld zu investieren.

Die ältere Schwester besuchte ihn, schenkte ihm eine Tube Zahnpasta zum ersten Schultag. Robert, hocherfreut über die erste Süßigkeit in seinem Leben, versteckte sie unter seinem Strohsack und aß die ganze Tube heimlich auf einmal auf. Schlimme Krämpfe überfielen ihn. Aus dem Strohsack kroch er zu Onkel und Tante auf allen Vieren in die gute Stube, die er noch selten zu sehen bekommen hatte.

»Raus hier, du bist schmutzig! Du hast gekotzt, du widerlicher Bengel! Du stinkst!», und sie beförderten ihn mit einem Fußtritt vor die Tür.

Er dachte, jetzt muss ich sterben wie Papa. Er hat es überlebt.

Das war der Wendepunkt in seinem Leben.

Reich will ich werden und dann, wenn ich groß bin, schlage ich sie und sie kommen in den Schweinestall.

Und er ist reich, sehr reich geworden. Das mit dem Schweinestall hat nicht geklappt, da waren sie schon tot. »Schade«, sagte er immer, »sehr schade. Vielleicht wäre mir noch etwas Besseres eingefallen.»

Seine Geschwister und er konnten nie mehr ein besonders gutes Verhältnis untereinander aufbauen. Ihre Kindheit und Jugend war ebenso von Gewalt und Vernachlässigung geprägt wie die meines Vaters.

Um die Geschichte fließend weitererzählen zu können, macht es wohl Sinn, zunächst die Namen von Roberts Geschwistern hier anzuführen, dem Alter nach, wie schon gesagt, immer nur ein Jahr auseinander. Absteigend waren da der älteste Bruder Paul, dann Robert und die Schwestern Irene und Josefine.

Robert kam mit vierzehn Jahren zu den Jesuiten. Das war die billigste Möglichkeit, an eine gute Schulausbildung zu kommen. Auch dort ging’s nicht zimperlich zu. Sein Körper war gestählt, seine Seele jedoch nicht. Er war dennoch hart im Nehmen.

Robert war nicht dumm. Zahlen waren sein Metier. Er bestand die Matura mit eins, dann ging er nach Berlin und nahm sich mit Paul ein möbliertes Zimmer. Die Jungs durften studieren, so viel war gerade noch da von dem Vermögen der Eltern.

Irene suchte sich Arbeit in einem Kinderheim, wo sie auch ein Zimmer hatte, was in dem Fall praktisch war.

Josefine dachte nicht über Arbeit nach. Sie war schön und was lag da am Nächsten? Sie suchte sich einen Mann. Einer, der sie versorgen konnte, sollte es sein. Sie fand ihn schnell auf dem Feuerwehrball. Auch der Förster des kleinen Ortes hatte einen Blick auf die zierliche, achtzehnjährige Schönheit geworfen. Sie wurde sehr schnell Frau Försterin. Allerdings nur kurz, da diese Aufgabe mit Arbeit verbunden war. Das war aber zu der Zeit nicht so das Richtige für Josefine. Im Garten unter den Bäumen im Liegestuhl faulenzen, das wäre was gewesen, für den Rest ihres Lebens, so dachte sie damals. Leider war der Herr Förster anderer Ansicht. Schnell kam es zu Auseinandersetzungen, auch handgreiflicher Art. Sie lief weg, nach Berlin zu ihren Brüdern.

Robert und Paul waren alles andere als begeistert, dennoch halfen sie ihrer Schwester, ein Zimmer zu finden. Josi, wie sie sich jetzt nannte, fing in einer Nachtbar von zweifelhaftem Ruf an. Von ihren Brüdern ließ sie sich nichts sagen, verdiente gut, rauchte, soff alle unter den Tisch und wartete auf den Einen, eben einen aus den besseren Kreisen. Und ließ auch sonst nichts anbrennen. Aber sie konnte auch sparen, was niemand ahnte. Bald hatte sie ein kleines Sümmchen zusammen, im Strumpf unter der Matratze. Sie aß nicht viel, die Figur blieb atemberaubend, ihr Ausschnitt auch. Erst waren die Brüder empört, aber bald gewöhnten auch sie sich an das lockere Leben, denn Josi saß an der Quelle des Vergnügens und ließ die beiden daran teilhaben.

 

Berlin war in den Jahren ein Eldorado der Lebenslust, so zwischen zwei Kriegen.

Robert und Paul versuchten, ihr Studium der Volkswirtschaft an der Uni Berlin erfolgreich zu beenden. Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Ende der Vorstellung. Die Brüder wurden eingezogen, mit fast abgeschlossenem Studium, und auch bald zu Offizieren ernannt.

Robert wurde Versorgungsoffizier, sehr zum Vorteil von Familie und Freunden. Er war urplötzlich sehr beliebt, was ihm, dem verwahrlosten Kind, das er immer noch war und den Rest seines Lebens bleiben sollte, gefiel. Er war sich bewusst, dass Geld Macht bedeutete, und er maggelte, wo es nur ging, in ganz großem Stil, mit Alkohol und Zigaretten. Er hatte Geschäftssinn und Glück, ebenso bei den Frauen. Er war vierundzwanzig und ein hübscher Kerl, aber was er suchte, fand er nirgendwo, die Geborgenheit einer Familie.

Da trat meine Mutter auf den Plan, gut aussehend, zerbrechliche, zarte Figur, gute Familie. Ihr Vater hatte in der Uckermark in der Nähe von Berlin einen florierenden Getreidehandel aufgebaut. Einen Haken hatte die Sache aber, sie war verlobt mit einem Arzt.

Bekanntlich reizen ja die Kirschen in Nachbars Garten besonders und so warf unser Robert sich und seinen ganzen Charme ins Zeug. Eine echte Chance hatte meine Mutter nicht, ihm zu widerstehen, denn er war ein beredter, gut aussehender Typ, zumal alle Frauen damals auf Uniformen standen und dann noch die diversen Schulterabzeichen, was auch immer die bedeuteten. Ich habe keine Ahnung davon, die Mädels von gestern schon. Und dann der gute, rar organisierte Bohnenkaffee, der tat auch bei der Mutter meiner Mutter, bei Oma Frieda, sein Übriges. Nur Fritz, Oma Friedas angetrauter Ehemann, mein Opa Fritz, blieb vorsichtig. Er traute dem leichtsinnigen Rheinländer nicht. Rheinländer war jeder für ihn, der nicht in oder um Berlin geboren wurde. Es nützte ihm nicht viel, seine einzige Tochter war unsterblich verliebt in diesen Hallodri und Kriegsgewinnler. Sie ließ ihren Arzt sausen, der prompt an die Front verschwand und wie man hörte, hat er sich dort mit den Panzern angelegt.

Er kam nicht mehr zurück.

Robert war nicht unverliebt in seine kleine, zukünftige Frau, dennoch schienen ihm auch die vielen kleinen, goldenen Getreideperlchen in den Lagerhäusern zu gefallen.

Trotz Krieg wurde es eine große Hochzeit mit Riesenauto, so ein ganz langes schwarzes, für mich ein Doppelauto. Da passten vierzehn Mann rein, es war aber kein Bus, sondern ein richtiges, langes Auto, echt, ich habe das Foto noch. Oma Frieda mit Riesenhut und Feder, ganz elegant, das Autodach offen. Es war zusammenfaltbar, also ein übergroßes Cabriolet. Ein sensationelles Gefährt zur damaligen Zeit und heute wohl erst recht. Würde mir stehen, so ein Teil, glaube ich. Ich würd’s fahren.

Opa Fritz war der reichste Mann im Ort und der einzige weit und breit, der so ein Ding besaß. Sein ganzer Stolz, fast, sein Töchterchen ein bisschen mehr, sein Augapfel. Und der war nun weg, der verwöhnte Augapfel, so, so, so weit weg, wie eben eine Villa zwei Straßen weiter weg sein kann, ein Hochzeitsgeschenk von Opa Fritz.

Ich habe sie gesehen, die Villa, nach der Wende. Schön groß und schön grau wie alles in der ehemaligen DDR. Der Putz bröckelte ab, aber meine Vorstellungskraft genügte, um sie mir in vollem Glanze vorzustellen. Sie war leider nicht mehr mein, da sich Fritz und Frieda, wie man so sagte, bei Nacht und Nebel ab in den Westen machten, aber das später.

Zum Glück musste der ungeliebte Schwiegersohn wieder in den Krieg ziehen und das Töchterchen wohnte mehr bei Papa und Mama, denn Haushaltsführung und solche Dinge lagen ihr nicht. Sie war mehr fürs Schöne und Dekorative.

Anne hieß sie, meine Mutter, wäre mir fast entfallen, die Gute. Ich habe sie gehasst, solange ich denken kann. Sie war nicht gut zu mir. Mein Vater hat einmal gesagt:

»Du bist ein Kind der Liebe.» Schmeichelhaft, aber lässt man ein Kind der Liebe derart verkommen und macht es seelisch zum Krüppel? Nein, ich bin ein Kind der wilden Vögelei in Kriegszeiten, könnte ja das letzte Mal sein.

Ich hatte einen Bruder, sechs Jahre jünger. Er hat es nicht mehr ertragen, das Leben. Robert junior, lange »Bübchen« genannt, ein zartes, hübsches Kerlchen. Ich habe ihn sehr gern gehabt. Dennoch, er hat die seelischen Grausamkeiten nicht überlebt. Mit fünfzehn Jahren hat er sich erschossen, direkt ins Herz. Er war sofort tot. Robert junior war sehr gewissenhaft, hatte sich ein Buch besorgt, wie man sicher stirbt mit einem Schuss. Es lag neben seiner Leiche. Zwei Finger breit unter dem Herzen.

Dieses Thema kommt später noch einmal. In der Zwischenzeit ist noch sehr viel passiert, ehe es dazu kommen konnte.

Ich war also ein Kriegskind. Meinen Vater habe ich selten gesehen, nur im Fronturlaub. An eine Uniform kann ich mich erinnern und an runde, orangefarbene Bälle. Apfelsinen nannte mein Vater sie und schwenkte mich durch die Luft. Er schien durchaus angetan von dem, was er produziert hatte. Ich war ein niedliches, kleines, strohblondes Etwas.

Als ich zwei Jahre alt war, war der Krieg zu Ende. Vater kam von der Front zurück, unversehrt und recht guter Laune. Seine Nachschubversorgung der Soldaten an der Front hatte ihm ein nettes Sümmchen nebenher eingebracht. Dennoch, was tun? Opa Fritz und Robert versuchten, miteinander auszukommen, was hieß, Robert trat in das Meer der Getreidekörner ein, die jedoch jetzt von Staats wegen rationiert wurden. Die Russen hatten sich die Kornkammer des Ostens unter den Nagel gerissen. Jetzt hieß es Vorsicht. Man musste sich mit den Besatzern gut stellen, Diplomatie war gefragt. Robert hatte darin Übung, sich zu verstellen und die diversen Bärte in Honig zu tauchen. Fritz weniger. Es kam zu Auseinandersetzungen mit dem zugereisten Rheinländer und dem sturen Fritz aus der Uckermark.

An ein für mich erschreckendes Erlebnis kann ich mich noch gut erinnern. Ich spielte sehr gern bei den Lagerhäusern mit Steinen, Wasser und Getreide. Spielzeug hatte ich nicht viel und noch dazu war ich immer allein. Ich war ein einsames Kind und sollte es immer bleiben. Später empfand man mich als irgendwie anders als andere Kinder, definiert hat es keiner.

Geräusche störten plötzlich mein Spiel. Geschrei und Getöse, ein Fenster krachte und Opa Fritz flog im hohen Bogen durch das geschlossene Fenster aus dem Lagerhaus mitten in einen riesigen Getreidehaufen. Es war Erntezeit und er verschwand buchstäblich in dem Haufen, rappelte sich auf und kroch durch das Getreide auf seinen Schwiegersohn zu, was an sich schon mühselig und demütigend war. Robert stand seelenruhig mit verschränkten Armen am Rand des großen Haufens und ließ seinen Schwiegervater krabbeln. Fritz stürzte sich auf Robert und eine wilde Prügelei begann. Das Fazit war, Robert hatte eine blutige Lippe und Fritz einen gebrochenen Arm. Dieses Ereignis beendete den Kampf, jedoch nur für einige Zeit. Die ohnehin angeknackste, nicht vorhandene Zuneigung der beiden war endgültig im Eimer. Frieda und Anne waren verzweifelt. Wochenlang wurde kein Wort mehr gewechselt zwischen den beiden Männern und keiner wusste, worum es eigentlich ging.

Es wurde immer schwieriger mit den sowjetischen Besatzern auszukommen, als etwas Entsetzliches passierte. Meine Großmutter war allein zu Hause und arbeitete im Garten. Acht Soldaten patrouillierten am Gartenzaun auf und ab. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Sie sahen meine Großmutter, lachten, machten obszöne Bewegungen und Frieda bekam Angst. Sie rannte, so schnell sie konnte, zum Haus, aber zu spät. Es blieb ihr nur noch das geöffnete Kellerfenster zum Kohlenkeller. Sie rutschte in Panik dort runter. Die Soldaten taten das Gleiche und alle acht vergewaltigten sie mehrmals. Niemand hörte sie schreien. Es war ein Herrschaftshaus mit viel Grund und Bäumen. Hauspersonal gab es nicht mehr und ihre Peiniger konnten unerkannt entkommen.

Meine Großmutter fiel ins Koma, aus dem sie tagelang nicht mehr erwachte. Sie war schwer verletzt. Fritz bangte um ihr Leben. Er liebte seine Frieda, sie hatten sich schon als Kinder gekannt. Sie kam durch und wurde nie mehr die Alte. Schwermütig wurde sie, war traumatisiert, schwer depressiv würde man heute sagen. Ich finde das Wort »Schwermut« passender, denn sie trug schwer an dieser Last, das ganze Leben lang.

Ihr Fritz versuchte, sie weiter auf Händen zu tragen, vergebens. Auch er sollte später daran und an anderem zerbrechen. Woher ich das alles weiß? Ich habe es lange nicht einmal geahnt, niemand hat auch nur eine Andeutung gemacht, vielleicht wusste nur Fritz davon. Jedenfalls hat Frieda es eines Tages viele, viele Jahre später meinem Mann erzählt. Mir unverständlich, warum gerade ihm? Aber sie hatte ihn nun mal auserwählt, ihr Geheimnis mit ihm zu teilen. Mein Mann war erschüttert und hat sie von da an natürlich mit ganz anderen Augen gesehen. Sie war nämlich seit damals zu einer ungepflegten, um nicht zu sagen unangenehm riechenden Frau geworden. Sie besaß immer nur zwei Kleider, eins für den Winter und eins für den Sommer. Keine Ahnung, aber ich denke, sie wurden nur einmal im Jahr gewaschen. Niemals mehr ging sie vor die Tür, auch nicht, um einzukaufen. Alles mussten Anne oder Fritz erledigen. Ich habe sie trotzdem sehr gern gehabt, die Oma mit dem besonderen Geruch. Sie war immer gut zu mir.

Das war dann auch das Ende in der Uckermark für die ganze Familie, nicht Hals über Kopf, sondern sorgfältig geplant. Es sollte nicht auffallen. Zuerst gingen Robert und Anne über die »grüne Grenze«, was immer das auch war. Legal konnte man nicht raus aus der sowjetischen Besatzungszone. Heimlich wurden bewegliche und unbewegliche Güter und so weiter verscherbelt. Ein großes Vermögen brachte es nicht ein, man musste es praktisch verschenken und dabei sehr trickreich vorgehen. Selbst für den Käufer barg es Risiken, falls die Sowjets dahintergekommen wären. Viele wurden damals wegen kleinerer Vergehen nach Sibirien verschleppt. Aber immerhin kam doch ein beachtenswertes, kleines Sümmchen zusammen, wohlgemerkt Opa Fritzens Vermögen. Das muss festgehalten werden, denn es spielt noch eine große Rolle.

Anne und Robert wurden mit Geld und Schmuck bestückt und auf eine ungewisse Reise ins Rheinland geschickt zu einem alten Onkel von Robert, der in Köln ein schönes, leicht heruntergekommenes Hotel besaß. Auf vielen abenteuerlichen Umwegen kamen sie schließlich dort an, nach vierzehn Tagen. Frieda, Fritz und ich, ihr Enkelkind Laura, mussten abwarten.

Es war eine schreckliche Zeit der Ungewissheit für meine Großeltern, schließlich hätten sie samt ihrem Enkelkind auch in Sibirien landen können, doch dank Roberts guten Beziehungen erreichten auch wir später in einem Kohlewagen, begraben unter Decken und Planen, ich vollgestopft mit Schlaftabletten, unversehrt unser neues Zuhause in Köln.

Die ganze Familie war vereint und Robert war recht zufrieden, war es doch seine Heimat. Fritz und Frieda waren kreuzunglücklich. Das war nicht ihre Welt. Sie sollten niemals mehr irgendwo Wurzeln schlagen.

Keine Villa, keine Arbeit für Fritz. Er, der erfolgreiche Getreidehändler, war zu einem Nichts geschrumpft. Stattdessen ein kleines Zimmer in einem Hotel bei einem Menschen, den sie nicht kannten, der Josef hieß, Jupp genannt wurde und der ganz allgemein nicht besonders angetan war von der Mischpoke aus dem Osten. Na ja, da war immerhin sein Neffe Robert. Und die kleine Laura war ein sehr liebes, braves, stilles Kind. Und es sollte ja nicht für immer sein, nur irrte er sich da ganz und gar.

Robert und Anne machten sich nützlich im sogenannten Waldhotel. Zum ersten Mal musste meine Mutter arbeiten, sehr ungewohnt das Ganze, aber irgendwie bekam sie es doch hin, wenn sie auch nicht gerade die Fixeste war. Doch ihr gutes Aussehen machte einiges wett bei den Gästen. Unter anderem gab es natürlich eine Hausbar, gut bestückt. Ab und zu waren die Gäste recht spendabel der kleinen Frau gegenüber.

Vermuten wir mal, da fing das Elend an. Die Flaschen konnte sie sich ja auch mal kurz an den Hals setzen, wenn keiner hinsah und ihr alles zu viel wurde. Niemand bemerkte etwas und Robert war begeistert von seinem gut gelaunten Frauchen, meistens.

Laura war viel bei Oma und Opa im Zimmer oder im Garten. Es war ein schönes Hotel, das Waldhotel. Es lag direkt am allseits beliebten Königsforst, an der Endhaltestelle der Linie K, also für die Sonntagsausflügler gut zu erreichen, denn kaum jemand hatte so kurz nach dem Krieg ein Auto. Es lief hervorragend. Es gab eine große Sommerterrasse mit wunderschönen Bäumen. Ein Schild hing an der Wand: »Hier können Familien Kaffee kochen!»

 

Herrlich der Gedanke, dass es so etwas einmal gab. Gegen eine kleine Gebühr konnte man also dort Kaffee kochen und seine Butterbrote auspacken und essen.

Man stelle sich das heute mal vor.

So waren an den Wochenenden Himmel und Menschen dort, ein Gewusel von Kindern, Eltern, Opas und Omas. In der Straßenbahn hing übrigens viele Jahre das Schild auf Kölsch: »Mach nit vel Gedöns, fahr mit Frau und Pute sonntags in et Gröns«, heißt: »Mach nicht viel Theater, fahr mit Frau und Kindern sonntags ins Grüne«.

Ich liebte die Sommerwochenenden. Noch ging ich nicht zur Schule und auch nicht in den Kindergarten, den gab es nicht. Frieda backte diverse Kuchen, wenn sie nicht im Bett lag und an die Decke starrte, und diese konnte man gut verkaufen. Aber alles war noch rationiert. Butter, Mehl und Zucker waren nicht so einfach zu bekommen, doch Robert, das Maggeltalent, hatte so seine Quellen, die er keinem verriet. Alles in allem lief es doch nicht schlecht, so kurz nach dem Krieg. Wir haben nie gehungert wie viele andere.

Robert aber wollte mehr, wollte seinen Schwur »Ich will reich werden« wahr machen, und zwar schnell. Er kannte da keine Skrupel. Anne wurde seine Gehilfin. Eine andere Wahl hatte sie ja auch nicht, sie betete ihren Mann an. Es war nämlich so: Onkel Jupp war Witwer. Ein Jahr zuvor war seine getreue, arbeitsame Gattin gestorben. Mit anderen Worten, er schaffte es nicht allein und Robert und Anne waren sehr liebenswürdig zu Juppchen. Juppchen hier, Juppchen da, er war geschmeichelt und ein bisschen blöd. Jeder konnte sehen, worauf es hinauslaufen sollte, nur er nicht. Er war übrigens kein angenehmer Zeitgenosse. Launisch, cholerisch, nicht der gepflegteste und trank gerne, (im Rahmen noch), aber immerhin schlief er nachts gut von dem Fusel.

Es kam, wie es kommen musste. Mit ein wenig Überredungskunst von Robert – »Onkelchen, ich werde immer für dich sorgen«, und so weiter, »du bist doch der Beste«, bla, bla, bla. Onkel Jupp fuhr im Suff mit Robert zum Notar und ein Testament wurde aufgesetzt zugunsten von Robert. Kinder hatte unser Juppchen keine, Pech für ihn.

Das Waldhotel sah übrigens aus wie ein kleines Schlösschen mit Turmzimmer. Wo auch unsere Wohnung war, recht nett, echt, ist heute noch ein Hotel, damals nach dem Krieg natürlich reparaturbedürftig, aber es hatte ungeheuren Charme.

Tja, das waren doch nun gute Aussichten für unseren Robert und seine Gattin Anne, aber lange noch hatte man zu warten, zu blöd und Juppchen konnte schon auch recht unangenehm werden. Wenn es ein paar Gläschen zu viel waren, kommandierte er die beiden ganz schön herum und war obendrein geizig, schließlich war er noch der Herr im Haus. Sehr alt war er auch noch nicht. Sechzig ist doch kein Alter, oder?

Robert und Anne hatten eine geniale Idee.

Bisher trank Juppchen eigentlich nur Bier und ab und zu mal ein oder zwei Schnäpschen, aber das änderte sich jetzt. Anne wurde beauftragt, ihn jeden Abend ordentlich abzufüllen an der hauseigenen Bar. Seine Leber war nicht mehr die beste und sein Bierbauch schob sich immer mehr hervor. Juppchen trank gerne Steinhäger. Anne schenkte ihm großzügig ein und sich gleich mit. Die Gläser wurden voller und Jupp verlor immer öfter die Übersicht. Langsam merkte Robert, dass auch Anne nicht immer einen klaren Kopf behielt und übernahm das Kommando selbst. Inzwischen trank Jupp den Steinhäger und auch anderes aus Wassergläsern. Jupp gefiel es. Er wurde sehr lustig und tanzte auch schon mal auf dem Tisch in der hauseigenen Bauernstube. Robert jedoch hatte neben der Bar eine Pflanze aufstellen lassen. Da landete sein Drink jedes Mal im Rückwärtsgang, denn alleine wollte Jupp auf keinen Fall trinken, das war ihm zu langweilig. Robert allerdings auch und es sollte nicht mehr lange dauern. Die nächtliche Zweisamkeit zerrte langsam an Roberts Nerven. Ein harter Knochen, der Onkel. Dann ging es doch plötzlich schneller, als erhofft. Zweimal fiel Jupp ins Delirium, schaffte es aber immer wieder am nächsten Tag in die Bar zurück, ein zitterndes, mageres Häufchen Elend, sogar der Bauch war weg. Aber er trank weiter, aß fast gar nichts mehr und ich denke, ihm war in lichten Momenten bewusst, was aus ihm geworden ist.

Eines Nachts schlichen er und der Steinhäger sich in den Wald, war ja nur über die Straße. Das Seil hatte er nicht vergessen. Man rätselte später, wie er den Knoten so exakt hinbekommen hat bei dem Alkoholgehalt im Blut, doch er war in seinen jungen Jahren Segler gewesen, er kannte sich aus mit den Knoten. Es waren ein Palstek Knoten und vier Promille, die seinem Leben endgültig ein Ende setzten. Man hat ihn aufgeschnitten, Fremdverschulden musste schließlich ausgeschlossen werden. War doch klar, oder etwa nicht? Er war eben ein alter Säufer, das wusste doch jeder.

Robert und Anne wussten mehr. Sie schwiegen sich an. Später, in anderen weniger einträchtigen Zeiten, sollten sie sich vorwerfen: »Nein du!« – »Nein du!« Na ja, kein Hahn hat jemals mehr danach gekräht und auch sonst keiner. Tot ist tot. Und Robert war seinem Ziel ein Stückchen näher. Er war zufrieden. Einziger Wermutstropfen war, dass Anne sich ein bisschen zu sehr an das betäubende Gift gewöhnt hatte. Er würde es ihr schon wieder austreiben, dachte sich unser cleverer Robert. Tatsächlich sollte es noch viele, viele Jahre gut gehen mit unserer Anne. Sie war eine starke Natur trotz ihrer Zierlichkeit. Sie reichte Robert gerade mal bis zum Bauchnabel, er war fast zwei Meter groß.

Das Leben ging weiter und langsam trudelten aus allen Teilen Deutschlands auch noch die restlichen Familienmitglieder ein.

Trotz seiner Skrupellosigkeit hatte Robert auch seine guten Seiten. Zunächst nahm er seine Schwester Josi bei sich auf mit ihren zwei kleinen Kindern, drei und vier Jahre alt, mein Vetter Marcus und meine Cousine Vera. Sie zogen unten in den feuchten Keller ein, ohne Fenster, ohne Bad und die Toilette auf dem Hof. Tja, mehr war natürlich nicht drin, zu viel sollte es ihn nun doch nicht kosten.

Josi hatte sich einen Zahnarzt geangelt in Berlin, noch zu Kriegszeiten, ein lieber Rotschopf. Sein Name war Theo, der keine Ahnung vom Leben hatte und Josi auf den Leim gegangen war. Er nahm sie mit nach Bad Marienbad, damals noch deutsch, später der Tschechischen Republik zugeschrieben, und eröffnete dort eine Praxis. Alles lief gut. Er war ein guter Zahnarzt und liebte seine Kinder sehr. Für Josi waren die Kinder Mittel zum Zweck zur Festigung der Beziehung. So gesehen hatten Marcus und Vera eine Existenzberechtigung. Großes Interesse hatte Josi nicht an den Kindern, sie sollte sie auch später immer für ihre eigenen Belange und ihr Fortkommen missbrauchen.

Ihre Schwester Irene erzählte, dass Theo immer mit festen Beinen neben dem Zahnarztstuhl stand und behandelte, während Josi mal wieder auf Tour gehen wollte, was auch immer das hieß. Theo war ein fleißiger Mann und somit unabkömmlich zu dem jeweiligen Zeitpunkt, was praktisch war. Jedenfalls zog es Josefine am Nachmittag zu den Tanztees in den diversen Cafés, um sich ein bisschen zu amüsieren. Es war schließlich ein Kurort und viele Männer hatten Fronturlaub. Theo war so arbeitsam und so langweilig. Zu diesem Zwecke wurden Marcus und Vera in den Urzustand zurückversetzt, heißt nackt ausgezogen, jedem eine Tafel Schokolade in die Hand gedrückt, auf den Fußboden gesetzt, jedem sein Lieblingsspielzeug gegeben, Tür zu, Schlüssel umgedreht, fertig. Viel konnte so nicht passieren, dachte Josi und weg war sie für ein paar Stunden. Schließlich hatte man doch das Recht, sich auch in Kriegszeiten zu amüsieren. Theo ahnte von all dem nichts, klebte er doch an seinem Behandlungsstuhl fest. Nur leider ging sie zu weit und eines Tages erwischte er sie in flagranti in ihrem gemeinsamen, ureigenem Ehebett. Er drehte sich wortlos um, küsste seine Kinder zum Abschied und meldete sich zur vordersten Front. Niemand hörte jemals mehr etwas von ihm, auch keine Todesmeldung, nichts. Und Josi hatte viele Jahre große Mühe zurechtzukommen, denn Witwenrente gab es nicht, er war ja nicht tot, nur verschollen. Und jemanden für tot erklären zu lassen, das dauerte und war ein böser, langer Papierkrieg.

Irene, die ihrer leichtsinnigen Schwester nicht gerade hold war, äußerte den Verdacht, dass Theo später nach dem Krieg untergetaucht sei und munter weiterlebte, bloß um dieses Ungeheuer von Frau nie mehr wiedersehen zu müssen. Dagegen sprach allerdings die abgöttische Liebe zu seinen Kindern. Na ja, Schwestern können schon mal gemeine Theorien aufstellen. Erst Jahre später wurde er für tot erklärt. Josi und die Kinder bekamen endlich die Witwen- und Waisenrente, die sie dringend benötigten. Doch das war alles vor der Rückkehr nach Köln und sozusagen Schnee von gestern. Für mich war es sehr schön, endlich ein paar Spielkameraden zu haben.