Grundlagen der globalen Kommunikation

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Diese Dialektik ist bezüglich der zentralen Unterscheidung von Beobachtung und Interaktion von besonderem Interesse. Wir hatten festgestellt, dass die bloße Beobachtung der Welt durch individuelle Akteure weitestgehend von den Leistungen der anderen Sozialsysteme abhängig ist, da Expertenwissen in modernen Gesellschaften primär durch die Medien, das Schul- und Wissenschaftssystem zur Verfügung gestellt wird. Dabei beobachten wir aber noch lange nicht alltägliche Interaktionen in anderen, ferneren Lebenswelten, sondern zu großen Teilen die strategischen Handlungen politischer Sozialsysteme (Hafez/Grüne 2015). Insofern ist die Medienkommunikation nur eine sehr eingeschränkte Form globaler Kommunikation in der Lebenswelt. Die Lebenswelt ist theoretisch ganz im Gegenteil der prädestinierte Ort für globale Dialoge, da hier gemäß unserer bisherigen Herleitung vor allem Face-to-Face-Interaktion stattfindet. In den Interaktionen können individuelle Akteure nun mittelbare und unmittelbare grenzüberschreitende Dialoge führen und sie können direktes und vermitteltes Erfahrungswissen sammeln, also aus dem globalen Selbstkontakt oder Gesprächen über den globalen Kontakt Dritter.

Globale Lebenswelten und Gruppenkommunikation

Die letztere Form weist auf eine Komplexität globaler Lebensweltkommunikation hin. Auch wenn Menschen nämlich gelegentlich Wissen aus reinen interpersonalen Kommunikationssituationen beziehen, so wird dieses häufig im Gruppenkontakt weiterverhandelt. Familien, Peers, Interessengemeinschaften oder Hobby- und Fangemeinschaften bestehen selten aus nur zwei Personen, sondern es handelt sich in der Regel um vergemeinschaftete Gruppenbeziehungen. Das gilt nicht nur für informelle Rollen der Privatwelt, sondern ebenso für soziale Kontexte, in denen Akteure in ihren zugewiesenen formalen Handlungsrollen agieren. Auch in der Ausbildung oder im Beruf finden sich Menschen meist in Gruppenkontexten wieder.

Diese unterschiedlichen Gruppen und Gemeinschaften sind wiederum der lebensweltliche Horizont geteilter Erfahrungen und Wissenssysteme. Das individuelle Wissen muss also für die soziale Integration in Transaktionsleistungen immer wieder an diese Gruppenkontexte rückgebunden werden und bedarf somit einer diskursiven Anschlussfähigkeit. Individuelle Lebenswelten stehen also immer in Zusammenhang mit milieuspezifischen „kleinen Lebenswelten“, wie sie Benita Luckmann beschrieben hat (1970). Dieses Verhältnis kann wiederum helfen, Prozesse der Reproduktion oder Irritation von gesellschaftlich verhärteten Fehldeutungen, Stereotypen oder Ignoranz gegenüber globalen „Anderen“ und deren Lebenswelten zu verstehen. Daher werden uns insbesondere Fragen nach der Veränderungsdynamik des akteursspezifischen Alltagswissens wie auch nach den Voraussetzungen zur Herausbildung echter globaler Gemeinschaft unter den Bedingungen globalen Kontakts in den folgenden Kapiteln des Buches weiter beschäftigen.

Mobilität, erweiterter Interaktionsraum und das Rollenproblem

Bisher deuten Daten aus dem Bereich des Tourismus, der transnationalen Vergemeinschaftung oder der Nutzung Sozialer Medien darauf hin, dass die Potenziale einer globalen Erweiterung der Kommunikationserfahrungen, also soziale Kommunikation über die Grenzen der alltäglichen Lebensrealität hinaus, zu großen Teilen noch ungenutzt bleiben (Zuckerman 2013, vgl. a. Mau 2007). Dies gilt sowohl für die physische wie auch die digitale Mobilität, was insofern interessant ist, als dass im Verhältnis von direkter und mediatisierter sozialer Kommunikation der Lebenswelt der indirekte globale Dialog durch die Tools der Sozialen Medien deutlich einfacher geworden ist. Aber die lokalen Grenzen von Sprach- und Diskursgemeinschaften scheinen sich vorerst in den digitalen Lebenswelten zu behaupten. Nur wenige individuelle Akteure verlagern ihre Interaktion mittelbar oder unmittelbar jenseits lokaler Grenzziehungen in einer Weise, in der sie sowohl an den Dialogen als auch den Diskursen anderer Lebenswelten teilhaben und damit wirklich grenzüberschreitend Wissenssysteme verhandeln und globale Gemeinschaft entwickeln.

Das Wissen dieser „Kosmopoliten“ (Hannerz 1996, S.102ff.) kann wiederum nur in ausgewählten Kommunikationskontexten weitergegeben werden. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, auch für die kommunikativen Lebenswelten die theoretische Unterscheidung zwischen Formalität und Informalität einzubeziehen. Analog zu den formalen und informellen Kontexten der Organisationskommunikation finden wir auch in Lebenswelten beide Modi vertreten. Zwar scheint auf den ersten Blick die informelle Kommunikation in der Privatwelt zu dominieren, doch im Laufe der lebensweltlichen Kommunikation schlüpfen Individuen auch immer wieder in formalisierte Rollen, in denen sie Träger von Organisationszielen werden. Je nach Ausrichtung kann nun die globale Erfahrung entweder an formale (z.B. Außenmitarbeiter in global agierenden Unternehmen) oder informelle Rollen (Privatperson auf Reisen) gekoppelt sein, wobei im ersten Fall beide Rollenfunktionen zusammenfallen können. Die Weitergabe der globalen Erfahrung kann dann eher strategischer oder zufälliger Natur sein und die lokalen Lebensweltkontexte unterschiedlich stark beeindrucken oder gar nachhaltig verändern. Das Potenzial globaler Gemeinschaftsbildung ist damit in den grenzüberschreitenden Face-to-Face-Interaktionen von Individuen noch nicht automatisch begünstigt, sondern hängt auch von Kommunikationsstrukturen ab.

Dazu zählt zudem das variierende Innen- und Außenverhältnis lebensweltlicher globaler Kommunikation. So ist es, wie eben angedeutet, vor allem die Binnenkommunikation der Kleingruppe, die mit über die Art und Weise der kollektiven Anschlussfähigkeit globaler Erfahrungen entscheidet, da die private soziale Rückverhandlung derselben zumeist dort vorgenommen wird. Kleingruppen haben aber wiederum keine verfasste strategische Außenkommunikation, wie wir sie von sozialen Bewegungen, Organisationen oder Großgemeinschaften kennen. Dass gerade Kleingruppen globales Wissen strategisch an größere Öffentlichkeiten nach außen kommunizieren, ist daher theoretisch problematisch. Im kulturellen „Transit“-Raum der Kleingruppe kann aber durchaus ein neuer alltäglicher Umgang mit Globalisierung durch deren Mitglieder verhandelt und umgesetzt werden. Während bei der Kleingruppe vor allem nicht-öffentliche direkte oder indirekte globale Kontaktszenarien dominieren, können Individuen auch als Einzelne in funktionalen (Teil-)Öffentlichkeiten global interagieren. Sie können dies zum Beispiel strategisch in Repräsentationsrollen von organisierten Systemen tun. Individuelle Akteure können theoretisch sowohl Diskurse mitgestalten (etwa, indem sie publizieren) oder direkte globale Dialoge mit anderen führen. Sie sind also viel mehr noch als die Kleingruppe der eigentliche Akteur der globalen lebensweltlichen Außenkommunikation.

Soziale Medien und globaler Monolog/Dialog

Schließlich ist noch auf die Text-Sprech-Differenz des kommunikativen Handelns in der Lebenswelt einzugehen. Auch hier scheint die Dominanz der Face-to-Face-Interaktion auf eine analoge Dominanz der Sprechakte hinzuweisen, die zugleich auch eine grundsätzlichere Unverbindlichkeit der kommunikativen Leistung der Lebenswelt impliziert – selbst Konventionen des Alltagshandelns folgen ja nicht fixierten Regeln wie etwa in der Diplomatiekommunikation, sondern tradierten, impliziten Institutionalisierungen. Globale Verhandlungen der Sozialsysteme führen im besten Fall zu fixierten globalen Abkommen, globale Dialoge der Lebenswelt aber zu globalem Wissen, globaler Erfahrung und Gefühlen globaler Solidarität, was sich nicht sofort sichtbar umsetzt und eine empirische Bilanzierung zweifelsohne erschwert.

Dennoch lässt sich ein Anfangsverdacht einer Verschiebung hin zu Textualität der globalen Kommunikation formulieren. Denn wenn die Möglichkeiten globaler Interaktion der Sozialen Medien genutzt werden, dann müssen sich globale Alltagsdialoge zwangsläufig in digitale Texte verwandeln, was wiederum eine Rationalisierung der Lebensweltgespräche beeinflussen kann. Auch die Praktiken der Verarbeitung globaler Kontakterfahrungen produzieren materielle Texte: Über Fotos, Berichte und Blogs werden etwa globale Kontakterfahrung wieder in monologische Textsorten verwandelt und in Archive der Alltagserinnerung verschoben, was ebenso eine lebendige Verhandlung im lokalen Lebensweltalltag verhindern kann.

Fazit: Weltgesellschaft, Weltgemeinschaft und globale Kommunikation als ein multiples Phänomen

Insgesamt ist es an der Zeit, globale Kommunikation als ein multiples Phänomen zu behandeln, in dem verschiedene Akteure durch ihre jeweils spezifischen Kommunikationsmöglichkeiten unterschiedliche Leistungen erbringen können oder sogar bereits erbringen. Grob gesagt lassen sich drei Akteurstypen unterscheiden. Die Massenmedien liefern durch ihre vor allem durch Beobachtung erzeugte Kommunikation monologisch konstituierte Diskurse über distantes Weltgeschehen, das Informations- und Wissensangebote für andere Teilsysteme bereitstellt. Vor allem die organisierten Handlungssysteme von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft setzen diesen Beobachtungen eigene Beobachtungsleistungen entgegen, agieren darüber hinaus jedoch in einem interaktiven Modus der Herstellung einer wie auch immer begrenzten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gemeinschaftlichkeit. In den Lebenswelten zuletzt ist trotz der Möglichkeit strategischer, formaler, öffentlicher und textbasierter Kommunikation die kommunikative Eigenlogik als primär informell dialogisch zu beschreiben. Wie die spezifischen globalen Kommunikationsmöglichkeiten genutzt werden, ist Gegenstand dieses Buches. Da die Systeme aber nicht getrennt operieren, sondern vielfältig zusammenwirken, ist als letzter Theorieschritt ein Nachdenken über Fragen der kommunikativen Interdependenz erforderlich.

 

1.4 Systemdependenzen und Lebensweltbeziehungen

Kommunikation und zwischenstaatliche Beziehungen

Bislang haben wir versucht, die kommunikativen Eigenlogiken von Akteuren und Systemen im globalen Rahmen zu verstehen. Die Kommunikationsweisen der Akteure stehen allerdings in engem Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen Konzepten wie „Weltöffentlichkeit“ und „Weltgemeinschaft“. Unter anderem die oben vorgestellten integrativen Systemtheoretiker haben früh erkannt, dass beispielsweise grenzüberschreitende Interaktion durch Briefe, Telefon usw. eine Dichte der Beziehungen erzeugt, die wiederum politikrelevant ist oder dass umgekehrt ein bestimmter Stand der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ländern solche Kommunikation fördert. Kommunikation erfolgt nicht „einfach so“, sondern sie ist in gesellschaftliche Motivlagen eingebunden, deren Komplexität man verstehen muss, wenn man globale Kommunikation – oder ihr Ausbleiben – analysieren will. Bisher gibt es keine Generaltheorie für solche gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge. Dennoch existieren Konzepte, die man für die Analyse von globaler Kommunikation nutzbar machen kann, wenngleich man sie ergänzen und überarbeiten muss. Im Folgenden werden drei Typen von Interdependenzansätzen vorgestellt, die verschiedene Bereiche thematisieren und die komplexen Beziehungen beschreiben:

 Kommunikation und zwischenstaatliche Beziehungen,

 Medien und nationale/internationale Systembeziehungen,

 Beziehungen zwischen Massenmedien, Handlungssystemen und Lebenswelten.

Zusammen bilden diese Theoreme zwar keine einheitliche Dependenztheorie globaler Kommunikation, aber es entsteht eine Matrix, die für Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Akteuren sowie zwischen den Akteuren und ihren Umwelten sensibilisiert. Richard Rosecrance beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Interessenstrukturen und Kommunikationsbeziehungen in der internationalen Politik, indem er drei grundlegende Beziehungsmuster herausarbeitet (1973, S.136ff.). Als „positive Interdependenz“ bezeichnet er, wenn die Interessenstrukturen zweier Akteure, etwa zweier Staaten, grundsätzlich kompatibel sind und eine sich ergänzende Form der Beziehungen besteht. In diesem Fall trägt ein hohes Kommunikationsniveau in der Regel zur Stabilität der Beziehungen bei, während ein Abbruch oder eine massive Störung der Kommunikation zu temporärer Instabilität und zu einer Zunahme der Konfliktspannung führen können. Bei „negativer Interdependenz“ hingegen, also bei inkompatiblen Interessenstrukturen und einer „Nullsummen“-Interdependenz (Gewinne des einen sind Verluste des anderen) gehen auch von einem hohen Kommunikationsniveau in der Regel keine konfliktmindernden Einflüsse aus. In diesen Fällen ist es notwendig, entweder den Konflikt auszutragen, im Dauerkonflikt zu verharren oder aber Interessen neu zu definieren. Von „geringer Interdependenz“ spricht Rosecrance, wenn internationale Kommunikationspartner (Staaten/Regierungen) weder positive noch negative Beziehungen pflegen. Hier ist Kommunikation der wichtigste Beziehungsfaktor. Verläuft die Kommunikation störungsarm, sind auch die Beziehungen konfliktarm. Treten vermehrte Kommunikationsstörungen auf, sind auch die Beziehungen konfliktgeprägt. Trotz der engen Beziehung zwischen Interaktion und staatlichen Interessen ist also Interaktion kein Allheilmittel. Eine konfliktmindernde oder -verstärkende Wirkung der Kommunikation ist nur bei zwei Drittel der Modellkonstellationen zu erwarten (positive Interdependenz und teilweise geringe Interdependenz); bei einem Drittel aller Modellfälle (negative Interdependenz) werden keine beziehungsweise geringe Wirkungen durch Kommunikation erzielt.

Medien und nationale/internationale Systembeziehungen

Aus der Perspektive des Fachvertreters für Internationale Beziehungen besteht „Kommunikation“ für Rosecrance vor allem aus direkter Interaktion zwischen politischen Systemen. Andere theoretische Ansätze haben sich auf die Massenmedien, also auf beobachtende Formen des Austauschs zwischen Gesellschaften konzentriert, die wiederum für verschiedene Systeme und Lebenswelten von Bedeutung sind, wo Massenmedien als zentrales Umweltsystem für Akteure fungieren, die ihrerseits Umwelten der Massenmedien darstellen. Kai Hafez geht generell davon aus, dass grenzüberschreitende Interdependenzen bei den meisten Massenmedien – anders als bei Politik und Wirtschaft – schwach entwickelt sind, weil, wie oben festgestellt wurde, ein transnationales Mediensystem heute bestenfalls im Ansatz vorhanden ist (2002a, Bd.1, S.134ff., 2005). Gegenwärtig beobachten vor allem nationale Medien und Mediensysteme andere Nationen (und deren Medien). Das System der Massenmedien ist also nicht nur seiner Natur nach beobachtend und nicht dialogisch; es ist auch national desintegriert, was bedeutet, dass die nationalen Umwelten der Medien in aller Regel bedeutsamer sind als die globalen und die Dependenzverhältnisse insofern weitgehend national geprägt sind. Eine „positive“ Interdependenz, wie bei Rosecrance im Verhältnis zwischen manchen Staaten oder bei multinationalen Einheiten wie der EU, gibt es bei Massenmedien im Grunde nicht. Dadurch ist auch der Dependenzdruck in Richtung einer Synchronisation der Weltöffentlichkeit und -gesellschaft (siehe oben) gering ausgeprägt.

Die Ursache für die weitgehende nationale Entkoppelung der Massenmedien liegt in dem prinzipiell anderen Charakter der Austauschverhältnisse. Anders als die meisten materiellen Waren der Ökonomie etwa sind Medien als kulturelle Produkte vielfach kontextabhängig und – frei nach dem Zitat von Karl W. Deutsch „Human relations are […] far more nationally bounded than movements of goods“ (siehe oben) – nur schwer exportierbar. Menschen mögen weltweit die gleichen Autos fahren – dieselben Medien nutzen sie nur sehr bedingt. Grenzüberschreitende Mediennutzung ist in bestimmten sprachlichen Großregionen (dem deutsch-, spanisch- oder arabischsprachigen Raum usw.) durchaus vorhanden, sonst jedoch auf bestimmte Sondersituationen und -gruppen beschränkt. Allerdings gibt es bei nationalen Medien eine gewisse Hierarchie, wonach Ton und Bild Grenzen leichter überwinden als Texte und gerade im fiktionalen Unterhaltungsbereich ist der Im- und Export von Musik und Filmen weit verbreitet, wenn auch mit einer klaren Tendenz eines Nord-Süd-Gefälles (Hafez/Grüne 2016). Medien sind also nicht transnational, einzelne ausländische Produkte werden aber in nationale Medien integriert, was zu einem globalen Austausch beiträgt, der die Phantasie vor allem der ersten Welle der Globalisierungsforschung beflügelt hat (z.B. die Nachfrage nach Hollywoodfilmen in Asien). Allerdings sind auch bei Unterhaltung eher fiktionale Narrationen globalisierbar; schon bei Unterhaltungsshows lassen sich nur die Formate, nicht aber die Shows selbst im- und exportieren und müssen national oder regional reproduziert werden, was zu Verschiebungen im Produktions- und Rezeptionsprozess und damit in der Synchronisation der Medien führt (Grüne 2016). Auf der Ebene des Nachrichtenjournalismus aber werden die Informationsrohstoffe über die Weltlage importiert und von nationalen Mediensystemen lokal neu montiert.

Geht man vom bereits erwähnten „Fließgleichgewicht“ aus, wobei Medien, Politik und andere Sozialsysteme zwar autonome Programme verfolgen, aber immer auch zu Anpassungsleistungen an ihre jeweilige Umwelt gezwungen sind (Kunczik 1984, S.205ff., 212ff., vgl. a. Endruweit 2004, S.67ff.), dann findet dieser Abgleich bei Massenmedien nicht wie bei anderen Sozialsystemen zum Teil grenzüberschreitend statt, sondern die Interdependenzverhältnisse konzentrieren sich weitgehend auf den nationalstaatlichen Raum. Auf der Basis des bisherigen Forschungsstandes lassen sich folgende Leitgedanken für die spezifischen Interdependenzverhältnisse der Massenmedien formulieren (Hafez 2002a, Bd.1, S.130ff.):

 Medien/Politik: Die nationale Medienpolitik gibt die politischen Rahmenbedingungen der Medien vor und nationale Medien und nationale Außenpolitik beeinflussen sich in der Regel in der Auslandsberichterstattung stark (Indexing-Hypothese, CNN-Effekt usw., vgl. Kap. 9.3). Der Einfluss anderer Länder auf die nationalen Medien ist im Vergleich dazu in der Regel marginal, was dazu führt, dass die Sichtweise der Welt oft sehr – und insbesondere in extremen Krisenzeiten – von der heimischen Außenpolitik bestimmt wird.

 Medien/Wirtschaft: Medienmärkte sind vor allem im Bereich der Direktinvestitionen nur bedingt global verflochten (vgl. Kap. 2.1). Es dominieren in der Tendenz die Belange nationaler Märkte, was dazu führt, dass die nationale Nachfrage die Inhalte beeinflusst (Ausnahme Auslandsrundfunk, der allerdings eher zum politischen System und zur Public Diplomacy zu zählen ist).

 Medien/Gesellschaft: Die starke Abhängigkeit von nationalen Publika führt in der Auslandsberichterstattung in jedem einzelnen Mediensystem dieser Welt zu einer ständigen Reproduktion von ethnischen und religiösen Stereotypen, die allerdings gerade unter dem Einfluss des (interaktiven und dependenten) politischen Systems auch wandlungsfähig sein können. Zumindest die organisierte kosmopolitische Zivilgesellschaft ist zumeist „strukturschwach“; kulturelle und lebensweltliche Umwelten lassen sich jedoch als diffuse Umwelten nur schwer generalisieren (siehe unten).

 Medien/Journalismus: Auf der Mikro- und Mesoebene des Journalismus bestehen Mediensysteme meist aus national sozialisierten Journalisten, multikulturelle Redaktionen sind eher die Ausnahme als die Regel, was schon mit der notwendigen perfekten Sprachkompetenz zu erklären ist. Auslandskorrespondenten und -korrespondentinnen sind nur bedingt als globale Eliten unter den Journalisten zu betrachten, da Zentralredaktionen ein stärkeres Gewicht haben und kosmopolitische Ethiken des Journalismus unterentwickelt sind, so dass die nationalkulturelle Bindung des Journalismus in der Regel stark ausgeprägt ist (vgl. Kap. 2).

Im Ergebnis sind Massenmedien nach Hafez global kaum interdependent, weniger jedenfalls als andere organisierte Sozialsysteme. Sie mögen in gewissem Umfang wie andere Systeme Informationen ex- und importieren. Eine Transnationalisierung auf Produktionsebene findet jedoch nur sehr bedingt statt, was die globale Synchronisation der Diskurse behindert (von der dialogischen Kommunikation ganz zu schweigen, die, wie in Kap. 1.3 erörtert, eher ein systemisches Nebenprodukt ist). Das beobachtende Kommunikationssystem der Massenmedien ist demnach tendenziell lokaler geprägt als interaktive Systeme wie Politik und Wirtschaft, wo globale Dependenzverhältnisse weiter fortgeschritten sind, wenngleich auch hier der Nationalstaat eine echte Transnationalisierung verhindert.

Als Leitsatz lässt sich jedoch definieren, dass die globale Abhängigkeit politischer und wirtschaftlicher Systeme voneinander in der Regel größer ist als die der Massenmedien, die zumeist national eingebettet bleiben. Diese nationale Orientierung der Medien führt jedoch ihrerseits dazu, dass Medien hochgradig abhängig sind von nationaler Politik, sowohl was die medienpolitische Regulierung als auch die diskursive Einflussnahme angeht, wobei auch eine sekundäre Abhängigkeit der Politik von den Medien besteht (vgl. Kap. 9.3).

Beziehungen zwischen Massenmedien, Handlungssystemen und Lebenswelten

Während im Bereich der Medienforschung ein recht guter Forschungsstand vorhanden ist, ist dies gerade im Bereich der Lebensweltforschung wegen der noch schwierigeren und uneinheitlichen Interessenverflechtungen nicht der Fall. Verschiedene integrative Konzepte haben sich bemüht, die in der Kommunikationswissenschaft verbreitete Fixierung auf Massenkommunikation hinter sich zu lassen (Giesecke 2002, S.18). Das Ziel von so unterschiedlichen Ansätzen wie der Kommunikationsökologie (Michael Giesecke) oder der Media Dependency Theory (Sandra Ball-Rokeach und Melvin DeFleur) ist es, vor allem das Individuum und die soziale Gruppe wieder stärker als zuvor als Akteure sozialer und kultureller Kommunikation sichtbar zu machen. Beide Ansätze haben bislang wenig mit globaler Kommunikation zu tun, können aber fruchtbar gemacht werden und zumindest Giesecke hat, wie oben ausgeführt, auch erste Anmerkungen zur interkulturellen Kommunikation gemacht. Er geht davon aus, dass die westliche Buch- und Massenmedien-gestützte Fernkommunikation Neugier ohne echtes Interesse für andere Welten hervorgebracht habe. Das Genie menschlicher Kommunikation, das Giesecke prinzipiell im Zusammenwirken „artverschiedener“ Kommunikationsweisen der Beobachtung und Interaktion erkennt (2002, S.26), ist aus seiner Sicht sowohl in den Nah- wie auch ganz besonders in den Fernbeziehungen aus der Balance geraten. Die „Buchkultur“ hat das Face-to-Face-Gespräch überflüssig gemacht, wodurch kulturelle und gesellschaftliche Disbalancen entstanden sind (ebenda, S.35ff.). Nicht zuletzt durch die moderne Netzwerktechnologie entstehen jedoch neue Chancen für die Re-Balancierung unserer Kommunikationsökologie. Das Zusammenwirken von „rückkopplungsintensiven und interaktionsarmen Kommunikationsformen wird zu einer Zukunftsaufgabe“ für die neue Wissens- oder Lerngesellschaft (ebenda, S.370). Auch Giesecke bemüht das Bild des „Fließgleichgewichts“ (ebenda, S.36), wenn er die prinzipiell dynamische Fähigkeit des Menschen beschreibt, ein neues Gleichgewicht zwischen den Kommunikationsformen zu finden.

 

Da Giesecke vor allem mit dem Gleichgewicht zwischen Kommunikationsformen und weniger mit den Beziehungen zwischen den Akteuren selbst beschäftigt ist, ist für die Zwecke des vorliegenden Buches auch die Media Dependency Theory von Sandra Ball-Rokeach und Melvin DeFleur von Bedeutung, da sie die generellen Beziehungen zwischen verschiedenen Systemen als Dependenzfaktoren thematisiert (1976, Ball-Rokeach 1985, Ognyanova/Ball-Rokeach 2015). Ausgangspunkt ist ähnlich wie bei Giesecke eine in der Moderne erfolgte Verschiebung von Bedürfnissen der interpersonalen Kommunikation hin zu einer Informationskontrolle durch Massenmedien (Ball-Rokeach 1985, S.488f.). Vor allem in demokratischen Gesellschaften pflegt das Mediensystem demnach seinerseits dynamische Beziehungen zu anderen Sozialsystemen. Einerseits ist der Mensch als Konsument bei einem grundlegend symbiotischen Verhältnis zwischen Massenmedien und Wirtschaft weitgehend von den Medien abhängig (Werbung usw.); andererseits aber ist es der jeweilige Kampf der einzelnen Systeme um Autonomie, der eine symmetrische „Interdependenz“ erzeugt und das Individuum Vertrauen in die Medien entwickeln lässt, das, wie wir vor allem aus autoritären Systemen wissen, wo die Balance gestört ist, auch verloren gehen kann (ebenda, S.491ff.).

So wie die Art der Interdependenz zwischen Medien und anderen Sozialsystemen – zum Beispiel die enge Beziehung zwischen Außenpolitik und Auslandsberichterstattung – für die Stellung in der Gesellschaft wichtig ist, verfügt das Individuum trotz der strukturellen Einbindung über verschiedene Möglichkeiten, die Dependenz von den Medien selbst zu prägen, und zwar abhängig von interpersonalen und soziostrukturellen Einbindungen des Menschen (ebenda, S.497ff.). Intervenierende Variablen, die die Dependenz des Individuums beeinflussen können, sind aus der Perspektive des Mediendependenz-Ansatzes unter anderem Veränderungen in der sozialen Umwelt, die Aktivität interpersonaler Netzwerke und Gruppenmitgliedschaften. Die Abhängigkeit des Menschen von den Massenmedien wächst zum Beispiel, wo diese als beste Informationsquelle wahrgenommen werden und keine alternativen Informationen zur Verfügung stehen. Das Internet kann hier im Prinzip zu einer „Neuverhandlung“ von Dependenzstrukturen beitragen, auch wenn Massenmedien auch im Internetzeitalter ihre starke Stellung vielfach erhalten haben (Ognyanova/Ball-Rokeach 2015, S.4).

Eine Überführung der Dependenz-Idee in die Lebenswelttheorie ist schwierig, da individuelle Akteure keine einheitliche Systemfunktionalität besitzen. Zwar gibt es Momente, in denen Individuen in ihren systemischen Rollen Funktionsziele von Organisationen in strategischer Kommunikation erfüllen beziehungsweise anstreben. Das kommunikative Handeln des Alltags ist aber zu großen Teilen idealtypisch verständigungsorientiert und verfolgt eben keine isolierbaren funktionalen Ziele (Habermas 1995). Das Medienhandeln lässt sich nicht einfach in strategischen Beziehungen mit Medien auflösen, in denen allein das funktionale Interesse an Information entscheidet. Die Prozesse der Medienaneignung sind vielfältig und schließen auch habituelle Positionierungen gegenüber Angeboten der Unterhaltung oder unbewusstes Gewohnheitshandeln mit ein. Hinzu kommt, dass sich in heutigen Medienumwelten die grundsätzlichere Frage nach der Kohärenz des Mediensystems stellt, also danach, ob sich individuelle Rezipienten tatsächlich in einer Dependenz zu einem homogenen System befinden. Die Medienrepertoires des Publikums neigen zu einer wachsenden Diversität und können dementsprechend auch ganz unterschiedliche Individuum-Medien-Verhältnisse stiften, ebenso wie soziokulturelle Prägungen der Lebenswelten auch unterschiedliche Individuum-Gesellschaft-Verhältnisse erzeugen. Das Dependenzverhältnis des Einen muss also nicht zwangsläufig auch das Dependenzverhältnis des Anderen sein. Es handelt sich somit nur um ein analytisches, nicht um ein empirisch generalisierbares Verhältnis.

Allerdings lassen sich wiederum Tendenzen in der allgemeinen Beziehung zwischen Lebenswelten und Systemen definieren, die Habermas in seiner These der „Kolonisierung“ der Lebenswelt durch die Systeme postuliert hat (1990). Es geht hier schließlich um die Frage der Eigenleistung der Lebenswelten. Sind es Themen und Strukturen der Systeme, die die lebensweltlichen Erfahrungen beeinflussen? Wie und wann prägt hingegen die kommunikative Leistung der Lebenswelt die Systeme? In totalitären Systemen regieren die autoritären Regimes oftmals bis tief in die private Erfahrungswelt hinein, weil sie dort bestimmte Formen des Handelns verhindern und Sinn- und Glaubenssysteme vorschreiben wollen. Zunächst scheint dann der lebensweltliche Kommunikationsraum stark eingeschränkt zu sein. Auf der anderen Seite ist es aber gerade das Prinzip der kommunikativen Konstruktion der Alltagsrealität, das einen Freiraum aufrechterhält. Denn theoretisch sind jederzeit kollektive Umdeutungen vorgegebener Interpretationsschemata möglich, die dann entweder subversiv (etwa in geschlossenen Räumen der Subkulturen) oder öffentlich (in Revolutionen auf der „Straße“) Systeme herausfordern. Ohne diese Eigenständigkeit wären viele Wandlungsprozesse in Diktaturen nicht denkbar. Die kommunikative Eigenleistung ist dann gerade unter Bedingungen der Einschränkungen individueller Handlungsspielräume und der Gleichschaltung der Medien besonders hoch zu werten.

In demokratischen Systemen hingegen lässt sich andersherum argumentieren. Denn hier ist das Individuum aus traditionellen Bindungszusammenhängen entlassen und Medien sollten im besten Falle kritische Beobachtungsleistungen der Sozialsysteme übernehmen. Aber es gibt auch in Demokratien Momente, in denen die Systeme einen Schulterschluss vollziehen. Das sogenannte „Fließgleichgewicht“ der System-Umwelt-Beziehungen tendiert dann zur Anpassung und Vereinheitlichung. So kann es auch in Demokratien in Momenten der patriotischen oder populistischen Mobilisierung zu einer Marginalisierung und Sanktionierung abweichender Meinungen kommen (Grüne 2019a).

Wichtiger noch als die besonderen Bedingungen von Krisensituationen ist aber die Konventionalisierung der lebensweltlichen Kommunikation. Während in Diktaturen die produktive Kreativität immer auch Selbstermächtigung bedeutet, ist diese in Demokratien oft nicht mehr stark herausgefordert. Wie Hubert Knoblauch beschrieben hat, ist aber auch in differenzierten Lebenswelten die Herausbildung von kommunikativen Konventionen und Routinen zu beobachten (1996). Die Lebenswelt erzeugt in diesem Fall „träge Strukturen“, die nicht geeignet sind, in die Systeme zurückzuwirken. Hierin liegt möglicherweise eine Erklärung für den langsamen kosmopolitischen Wandel moderner Gesellschaften. Stereotype und Fremdbilder halten sich hier erstaunlich konstant und die Trägheit, die der Reproduktion falsch typisierter Bilder innewohnt, setzt sich in den Reise- und Dialogrouten vieler Menschen fort.