Buch lesen: «Lichtschacht»

Schriftart:

Anne Goldmann

Lichtschacht

Ariadne Krimi 1220

Argument Verlag

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2014

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/​4018000 – Fax 040/​40180020

www.argument.de

Umschlag: Martin Grundmann, unter Verwendung

eines Bühnenbilds des Cirque du Soleil

Lektorat: Else Laudan

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549622

Zweite Auflage 2014

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Ein Lichtschacht ist eine durch alle Stockwerke gehende Lücke im Baukörper, wie sie in alten Mietskasernen üblich war. Damit werden gefangene Räume, also Zimmer ohne Fenster, vermieden. Ein typischer Lichtschacht ist nur etwa zwei mal zwei Meter groß. Das genügt meist nicht, um auch die Wohnungen in den unteren Etagen ausreichend mit Helligkeit zu versorgen. In den Lichtschacht münden daher die Fenster von Räumen, die nur kurz genutzt werden: Badezimmer, Abstellkammer oder Klosett.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Über das Buch

Lichtschacht

Ein Hauch von Österreich

Weitere Bücher von Anne Goldmann


Die Geschichte von Lena, die in Wien ihr Glück sucht, entfaltet sich auf der Schnittstelle zwischen einem Thriller – im tradierten Meister-Hitchcock-Sinne: man sieht den Schatten näher rücken, während die verstrickte Sympathieträgerin anderweitig beschäftigt ist – und einem modernen Märchen, so archaisch und schrecklich wie zu Grimms Zeiten: Die junge Einsame auf der Suche nach Heim, Liebe und Sinn, und der Schurke, der sich nach Macht und Besitz verzehrt, begegnen sich im Zauberwald des 21. Jahrhunderts, der Großstadt.

Anne Goldmann erzählt ihren bitterbösen Roman mit tiefer Menschenkenntnis und der ihr eigenen unaufgeregten Lebendigkeit. Ihre schöne, einfühlsame Schreibweise verdichtet das Geschehen zu einem unaufhaltsamen Sog. Wie viele gute Schriftsteller erschafft sie Szenarien, die überall stattfinden könnten, wiewohl sie deutlich in einem bestimmten soziokulturellen Kosmos verankert sind. Das drückt sich auch in der Sprache aus: In Syntax und Wortwahl schwingt die Melodie Wiens mit, durchzieht Alltag und Wahrnehmung der Figuren. Dies lektorisch einzuebnen und in die Uniform des allgemeinen Hochdeutsch zu zwingen, hieße Anne Goldmanns Erzählkunst Gewalt antun. Viele »Austriazismen« erschließen sich auf Anhieb, selbst wenn sie einen leicht exotischen Beiklang haben, z. B. Pfefferoni, Spital für ein Krankenhaus oder Melange für einen Milchkaffee Wiener Art. Doch auch manches, was sich für Hamburger spontan wie eine Stilblüte liest, gehört ganz akkurat zum Repertoire der österreichischen Erzählsprache. Am Ende des Buches findet sich daher eine kleine Liste der im Norden ungewohntesten Begriffe.

Anne Goldmanns Romane laden dazu ein, sich auf ein paar Nuancen dieser Mundart einzulassen, ihrem charakteristischen Groove zu folgen, ihre Rhythmen und Eigenheiten zu verinnerlichen. Genießen Sie das wie einen Ausflug an die Donau. Die Spannung der Geschichte wird Sie ohnehin ereilen.

Else Laudan

Anne Goldmann, geboren 1961, jobbte als Kellnerin, Küchenhilfe und Zimmermädchen, um sich die Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu finanzieren. Einige Jahre arbeitete sie in einer Justizanstalt, derzeit betreut sie Straffällige nach der Haft. Anne Goldmann begann früh zu schreiben, veröffentlichte ein paar Texte, verwarf dann alles und entdeckte erst spät das Schreiben wieder neu. Für ihre aktuellen Romane Das Leben ist schmutzig und Triangel erhielt sie hymnische Kritiken.

Sie saßen nebeneinander auf dem Dach, keine sechzig Meter von ihr entfernt. Direkt vor den roten Schornsteinen, wo noch vor kurzem die Rabenkrähen sich gewärmt, Schutz gesucht hatten vor dem eisigen Wind: zwei Frauen, rechts davon ein Mann. Sie wirkten aufgedreht, waren ständig in Bewegung. Wandten die Köpfe. Schauten über die Dachlandschaft. Nach unten. Sie hielten Gläser in den Händen und prosteten einander zu. Die Frau in der Mitte warf den Kopf zurück und lachte. Die zweite – größer, schlank, mit langen weißblonden Haaren – hob ihr Glas an den Mund und leerte es in einem Zug.

Lena stand in der offenen Terrassentür und schaute sehnsüchtig zu ihnen hinüber. Sie winkte, aber niemand nahm Notiz von ihr. Hastig zog sie den Arm zurück. Der Rauch der Selbstgedrehten in ihrer Hand kräuselte hoch. Ein leichter Wind bewegte den Saum ihres Kleids. Sie fröstelte und wickelte die warme grüne Strickweste enger um sich.

Der erste laue Tag nach einem endlosen Winter ging zu Ende. Es roch würzig. Nach Frühling, Aufbruch. Nach Neubeginn. Lena seufzte. Sie war wohlig benebelt. Entspannt. Mit geschlossenen Augen nahm sie einen weiteren tiefen Zug und blies langsam den Rauch aus. Sie durfte es nicht übertreiben. War es nicht gewohnt. Entschlossen dämpfte sie den Stummel aus und drückte ihn im Blumentopf neben der Tür tief in die feuchte Erde.

Sie konnte ihren Blick nicht von den dreien lösen. Wie waren sie auf das Dach gekommen? Was feierten sie? Der Mann hob die Flasche und schenkte sich ein. Er stieß mit seiner Sitznachbarin an. Die mit der langen Mähne zog die Beine eng an den Körper. So saß sie eine Weile reglos, den Kopf ein wenig nach rechts geneigt, als hörte sie den anderen zu oder hinge ihren eigenen Gedanken nach. Nun hielt sie dem Mann ihr Glas hin. Er füllte es auf. Streckte dann unvermittelt den Arm aus und ließ die Flasche los. Sie prallte auf die Dachziegel und verschwand kopfüber im Abgrund. Drei Köpfe ruckten vor und schauten nach unten. Lena hielt die Luft an. Die waren verrückt, sich dort oben zu betrinken! Das war gefährlich. Wie leicht konnte jemand das Gleichgewicht verlieren, ins Rutschen geraten. Abstürzen. Fünf Stockwerke tief, dachte sie, das überlebt man nicht. Ihr wurde übel. Der Puls dröhnte in ihren Ohren.

Nun rückten sie enger zusammen. Es schien, als umarmten die beiden außen Sitzenden ihre Freundin, die sich einmal nach links, dann nach rechts wandte und schließlich zurücklehnte. Ihre Bewegungen wirkten verlangsamt. Die Frau am Rand hielt ihr Glas nachlässig mit dem Kelch nach unten, der Mann starrte auf den flammend roten Streifen am Horizont, der rasch schmaler wurde und schließlich verschwand.

Lena spähte angestrengt hinüber. Die Dämmerung schluckte die Farben, die ersten Straßenlampen gingen an. Die drei machten keine Anstalten, sich zu erheben. Zurückzuklettern. Sie gähnte und streckte sich. Ihr war kalt. Ein Windstoß fuhr ihr unter das Kleid und wehte ihr die Haare ins Gesicht.

Als sie wieder hinsah, war der Platz in der Mitte leer.

Sie schrie auf und schlug die Hand vor den Mund. Scannte das Dach: Nichts! Keine Spur von der zweiten Frau! Die beiden anderen saßen reglos.

Wieder kam Wind auf. Er wirbelte die langen glatten Haare der Frau durcheinander. Erst nach einer Weile neigte sie den Kopf ein wenig, fasste sie zusammen und schlang sie zu einem Knoten. Der Mann wandte sich ihr zu. Er rückte näher und zog sie zu sich hin. Ihr Kopf sank auf seine Schulter. Er strich ihr über das Haar, das sich wieder löste und sie wie ein heller Schleier umfloss. Eine ganze Weile saßen sie so, wie festgefroren, während Lena sich am Türrahmen festklammerte und nach Luft rang.

Nun hob die Frau langsam den Kopf. Sie schaute über die Dächer: nach rechts, wo am Horizont die Weinberge den Blick begrenzten. Über die Stadt. Der Mann bewegte sich nicht. Die Frau wandte sich um und deutete auf Lena.

Draußen war es längst dunkel. Das monotone Ticken der Küchenuhr tropfte in die Stille. Lena kauerte auf dem Boden. Sie war benommen, wie leicht betrunken. Ihr Herz pochte beängstigend schnell. Sie versuchte sich zu beruhigen: Das ist normal. Kann vorkommen, wenn du kiffst. Das letzte Mal lag schon Jahre zurück.

Die Tür war einen Spalt weit offen geblieben und schlug immer wieder gegen ihre linke Schulter. Sie hatte die Arme um sich gelegt. Kälte kroch über ihre Haut. Wieder raffte sie die grob gestrickte Weste über der Brust zusammen. Langsam, wie in Trance, erhob sie sich und schloss die Tür. Sie stellte sich ans Fenster und starrte angestrengt ins Dunkel über den Dächern. Unmöglich, etwas auszumachen. In einer der Wohnungen im Nebenhaus brannte ein schwaches Licht, das nach einer Weile erlosch.

Sie musste die Polizei anrufen! Bekifft? Und dann? Ich habe einen Mord beobachtet! Hatte sie gesehen, wie jemand die Frau in die Tiefe gestoßen hatte? Eben! Sie konnte übers Dach zurückgeklettert sein. So schnell? Wenn man geraucht hatte, veränderte sich das Zeitgefühl. Ja, das war es wohl. Die eine war gegangen. Zurück in eine der Wohnungen, die von den Häusern davor verdeckt wurden. Das Pärchen war noch eine Weile auf dem Dach geblieben. Nun saßen sie irgendwo, ein, zwei Stockwerke tiefer, beduselt wie sie, tranken vielleicht noch ein Glas oder aßen eine Kleinigkeit, bevor einer von ihnen – oder ein Pärchen – nach Hause gehen würde. Vielleicht waren sie ja eine Familie? Vater. Mutter. Tochter.

Lena dachte an die Sonnenfinsternis vor vielen Jahren. In einer anderen Stadt. Sie war neun. Ihr Vater, damals schon über vierzig, und Sanja, kaum halb so alt wie er, waren mit ihr aufs Dach geklettert. Sie hatten mit Sekt angestoßen. Der Vater hatte Sanja auf eine Weise geküsst, die ihr peinlich war. Als die Vögel verstummten und die Stadt unter ihnen, saß sie ein gutes Stück von den beiden entfernt an einen Schornstein gelehnt und fühlte sich ausgeschlossen. Wie eine Welle rollte das Grau heran und über sie hinweg. Es war totenstill.

||

Er hatte einen Schrei erwartet. Aber da waren nur ihre weit aufgerissenen Augen. Sein eigener Atem. Ein dumpfer Aufprall. Und dann Stille. Ausatmen. Verkehrslärm, an- und abschwellend wie die Brandung. Einatmen. Hin und wieder ein Hupen. Weiteratmen. Ein Folgetonhorn. Von unten, aus dem Hof, kein Laut. Wenn man fünf Stock tiefer mit dem Kopf voran auf den Betonboden knallt, ist man tot.

»Es war ein Unfall«, flüsterte sie und sah ihn beschwörend an. Fuchtelte mit ihren Händen vor seinem Gesicht herum. »Wir müssen die Polizei rufen. Die Rettung.« Er hörte ihre Zähne aufeinanderschlagen.

»Komm her«, sagte er leise. Vorsichtig rückte sie Stück für Stück näher. Ihr ganzer Körper bebte. Eiskalte Finger. »Kannst du aufstehen?«

Sie nickte. Ihr Blick flackerte. Sie atmete hastig, hechelnd. Ihre rechte Hand umklammerte immer noch das Glas.

Er nahm es ihr ab und warf es in die Tiefe. »Bind dir die Haare zusammen.« Sie schaffte es nicht. »Komm.« Er fasste sie an der Hand und half ihr auf. Sie krallte sich in seinen Unterarm. »Halt dich an den Ziegeln fest«, wies er sie an. »Genau. Auf allen vieren. Noch ein Stück. Gut. Schau, da ist schon die Leiter.« Wenn sie jetzt strauchelte, ausrutschte … Es wurde schon dunkel … Nein, er würde sie abfangen!

Über die Terrasse gelangten sie in die Wohnung. Er machte kein Licht. »Setz dich!«

Sie sank in einen Fauteuil, der mitten im Raum stand. »Wir müssen die Rettung … « Sie stand unter Schock. Ihre Knie schlackerten.

»Pscht«, machte er. Trat hinter sie, legte seine Arme um sie und zog sie an sich. Nach kurzem Widerstreben gab sie nach. Nun weinte sie leise. Er streichelte mechanisch ihre Oberarme und wartete.

»Denkst du, sie ist – tot?«

»Ja. Es sind fünf Stockwerke.« Wir haben keine Eile, dachte er. Ich kann in Ruhe überlegen.

Sie schluchzte auf.

Er ging in die Küche, die zur Straße hin lag, und machte Licht. Nahm ein Glas und ließ es mit Wasser volllaufen. Trank, füllte es wieder auf und brachte es ihr. Während sie hastig schluckte, es mit beiden Händen hielt wie ein Kind, ging er ins Nebenzimmer, zum Schreibtisch der Toten, und nahm ihr Handy und den Buchkalender an sich. Schob den Schein zwischen die Seiten und klappte ihn zu.

Sie saß noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Umklammerte ihr Wasserglas. Die Knöchel traten weiß hervor. Er löste ihre Finger und brachte es in die Küche. Als er sich umwandte, stand sie in der Tür. Er schaltete den Geschirrspüler ein.

»Wir reden später«, sagte er. »Zu Hause. Komm.« Er führte sie ins Badezimmer, wo sie sich das Gesicht wusch und vor dem Spiegel die Haare kämmte. Sie sah verheult aus. Er müde.

Er löschte das Licht. Schloss sorgfältig ab und zog sie an sich, als im Stiegenhaus das Licht aufflammte. »Guten Abend.«

»Guten Abend.«

Es dauerte lange, bis er sie davon überzeugt hatte, dass es besser war, nichts zu überstürzen.

||

Lena blinzelte und drehte sich zur Seite. Sie zog das rechte Bein an den Körper, seufzte wohlig und umarmte ein bauschiges weißes Kissen. Die zerknitterte Decke lag quer über dem Bett und bedeckte kaum ihren Hintern, die dünnen Träger ihres Nachthemds waren über die Schultern gerutscht. Ein leichter Wind bewegte die Gardinen, Straßengeräusche drangen ins Zimmer. Sie fasste nach der Decke und zog sie sich über die Brust. Langsam öffnete sie die Augen. Ihr Blick fiel auf einen Wäscheständer, auf dem ordentlich aufgereiht fremde Kleidungsstücke, drei ihrer eigenen Kleider und ihre Unterwäsche hingen. Einen weißen, spiegelnden Schrank dahinter. Der Teppich neben dem Bett sah weich und teuer aus. Langsam verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. So schön hatte sie noch nie gewohnt.

Sie rollte sich auf den Rücken, streckte sich wie eine Katze und setzte sich schwungvoll auf. Beugte sich zur Seite und tippte auf den Wecker. Kurz vor halb sieben. Es klappte immer, dass sie wach wurde, bevor er lospiepste. Sie hob die Gardinen an, raffte sie zur Seite und öffnete das Fenster ganz.

In der Küche schaltete sie das Radio, die Kaffeemaschine ein, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute auf die Straße hinunter. Der orangefarbene Müllwagen vor dem Haus verursachte Lärm und einen kleinen Stau, der erstaunlicherweise kein Hupkonzert nach sich zog. Lena gähnte. Die Fußgänger hatten es eilig. Ihr Blick folgte einem Mann mit Brille und einer dünnen Frau in einem engen, quietschgrünen Mantel, die schweigend nebeneinander dahinhasteten. Glück sah anders aus.

Sie öffnete die Terrassentür. Eine Rabenkrähe flog erschrocken auf. Kühle Luft strömte in den Raum und streifte ihre nackten Beine. Sie fröstelte und zog die Schultern hoch.

Das rote Ziegeldach lag im Schatten. Nichts deutete darauf hin, dass jemand dort oben gewesen war.

Sie musste geträumt haben. Hatte sich in ihrem Dusel etwas eingebildet. Ganz sicher!

Eine Schnapsidee. Sie hatte das Zeug beim Aufräumen von Steffis Chaos gefunden, gleich nach ihrem Einzug. Es ein paar Tage liegen lassen und es dann, schon ein wenig benebelt von den zwei Gläsern Wein, schließlich geraucht. Kein Wunder, dass sie Gespenster sah.

Aber: Die Frau hatte zu ihr herübergeschaut! Den Mann auf sie aufmerksam gemacht. Kifferparanoia, beruhigte sie sich. Sie dachte daran, wie sie einmal, vor vielen Jahren, in einer fremden Wohnung in regelrechte Panik verfallen war, als jemand klopfte. Sich sicher gewesen war: Polizei! Man kam sie holen. Sie hatte sich tot gestellt und kaum zu atmen gewagt. Später hatten sie alle darüber gelacht. Kommt vor. Das kennt fast jeder. Entspann dich, Lena!

Sie kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. Hinter den Schornsteinen, zur anderen Seite hin, schien es eine Leiter zu geben. Man sah eine Art Geländer. Darunter lag wohl eine Terrasse. Man konnte mit wenigen Schritten auf der anderen Seite sein. Du hast dich da in etwas hineingesteigert! Die neue Umgebung, alles noch fremd, der Alkohol – und dann der Joint. Niemand war zu Schaden gekommen, niemand war abgestürzt. Alles in Ordnung, Lena. Beruhige dich. Würden Freunde so ruhig sitzen bleiben, wenn eine von ihnen vom Dach fiel? Eben.

Entschlossen wandte sie sich um. Ging ins Bad, duschte und wusch sich die Haare. Machte das Bett und schloss mit Schwung das Schlafzimmerfenster. Nun war auch der Kaffee fertig. Sie trank ihn im Stehen – langsam, in großen Schlucken –, goss sich noch eine Tasse ein und wanderte damit zum Schreibtisch. Im Hintergrund zwitscherte das Radio.

Keine Mail von zu Hause. Keine von Steffi. Sie überflog die Nachrichten und klappte ihr Notebook wieder zu.

Schnappte sich ihre Tasche, fuhr mit dem Lift nach unten und verließ das Haus. Im letzten Moment sah sie ein zerdrücktes, verschmiertes Stück gelber Hundescheiße und sprang zur Seite. Sie fand an einem Radständer Halt und kontrollierte ihre Schuhsohlen. Nichts, zum Glück. Schon mehrmals hatte sie fluchend am Randstein das stinkende Zeug abgekratzt und den Geruch dennoch bis ins Geschäft geschleppt. Sie war es nicht gewohnt, ständig auf den Boden zu schauen, und wollte sich auch nicht daran gewöhnen. Hunde, dachte sie im Weitergehen, gehörten einfach nicht in die Stadt.

Das große Fenster eines Cafés warf ihr Spiegelbild zurück. Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und rückte ihre Umhängetasche zurecht. Ihre Arbeitskleidung war noch ungewohnt. Der kurze Rock wippte über ihrem Hintern, der ärmellose hochgeschlossene Pulli war ihr über der Brust ein wenig zu weit und warf Falten. Die Jacke immerhin saß wie angegossen. Schwarz und schlicht, hatte er beim Vorstelltermin letzte Woche verlangt. Ihre eigene Garderobe beschränkte sich auf einige Kleider, grobe Strickwesten und zwei Jeans. Zum Glück hatte Steffi Unmengen schwarze Klamotten.

Sie wich einer Baustelle aus. Die kleine Grube war nachlässig gesichert und wirkte völlig verlassen. Weit und breit kein Arbeiter, keine Baumaschine.

Ein alter Mann mit grauem Haarkranz und sein Hund blockierten das schmale Trottoir. Das kompakte struppige Tier stemmte seine Vorderbeine in den Boden und sah stur vor sich hin. »Komm«, lockte der Mann. Er ging ein wenig in die Knie und klopfte auf seinen rechten Oberschenkel. Der Hund reagierte nicht. Der Alte seufzte. »Na komm«, sagte er wieder und machte ermunternde Gesten. »Die anderen warten schon.« Der Hund hob eine Braue. »Kommst du jetzt – bitte?« Das Tier und sein Besitzer wechselten einen langen Blick, dann setzte sich der Hund gemächlich in Bewegung, beschleunigte und hoppelte schließlich neben dem Mann her. Lena grinste. Hier war klar, wer das Rudel führte.

An der Hausecke blieb sie stehen. Das Haus wirkte anonym, verschlossen. Im obersten Stockwerk gab es Terrassen. Wenigstens nachsehen! Das Tor war geschlossen. Am Klingelbrett nur Türnummern, keine Namen. Was hatte sie erwartet?

Sie wich einem Radfahrer aus, der ihr auf dem Gehsteig entgegenkam. Er zwinkerte ihr zu. Überrascht schaute sie ihm nach. Die Umhängetasche schlug gegen ihre Hüften. An der Ecke wandte er sich noch einmal um und winkte. Zögernd hob sie die Hand und ließ sie wieder fallen.

Ein Blick auf die Uhr: Sie musste sich beeilen. Sie fasste ihre Tasche fester, drückte sie gegen den Oberkörper und rannte los.

Außer Atem erreichte sie die Straßenbahn, dankte dem hageren, bekümmert wirkenden Fahrer, der mit der Abfahrt auf sie gewartet hatte, mit einem Lächeln und ließ sich auf den nächsten freien Sitzplatz fallen. Sie zog ihren Rock zurecht und stellte die Beine eng nebeneinander. Mit einem Ruck fuhr der Zug an, bimmelte und machte gleich darauf eine Vollbremsung. Ein dumpfer Schlag. Eine Frau schrie auf.

»Na alsdann«, brummte der Fahrer, als hätte er so etwas kommen sehen. Ein verbeultes Auto stand quer auf den Schienen, zwei blasse, verschreckte Gesichter starrten zu ihnen herauf.

»Betriebsstörung.« Die ersten Fahrgäste hasteten laut schimpfend zu den Ausstiegen, während der Straßenbahner Kontakt mit der Leitstelle aufnahm und der Autofahrer sich langsam aus seiner Starre löste und zu seiner Gefährtin hinüberbeugte.

Das hier konnte dauern. Besser, sie ging zu Fuß. Sie stieg aus, umrundete einen Pulk von Gaffern und beschleunigte den Schritt. Knapp fünfzehn Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht.

Das Haus war relativ neu. Ein begrünter Innenhof, Pflastersteine. Zweite Türe rechts, hatte er gesagt. Neben dem Eingang stand ein mit bunten Bändern geschmücktes Olivenbäumchen in einem lichtblauen Topf. Sie drückte den Handballen auf den Klingelknopf und wartete.

Der Mann war groß und hager. »Komm weiter«, bat er und wandte sich um. Er hatte schüttere, flaumige Haare am Hinterkopf – wie ein Baby – und keinen Hintern in der Hose. Der hübsche, fast quadratische Vorraum war mit Holzspielzeug und Schuhen zugemüllt. Keine Türen. Viel Holz und Glas. Und Grünpflanzen. In der Wohnküche saß der Rest der Familie um einen großen Tisch: Eine tatkräftig wirkende Frau mit halblangen glatten Haaren hielt ein Kleinkind auf dem Schoß, das wie ein Vogel den Mund öffnete, sobald sie sich ihm mit dem Löffel näherte. Gegenüber ein zerzaustes, etwas größeres Mädchen. Es hatte ein Müsli vor sich stehen und las in einem dicken Buch. Er stellte sie einander vor. »Magst du Kaffee?«

Lena nickte.

»Setz dich.«

Der Sessel vor ihr war von einer dicken Katze belegt. Sie ließ sich neben dem Mädchen nieder. Es kaute mit vollen Backen und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Die Mutter schob mit dem Löffel die Breireste um den Mund des Babys zusammen und spachtelte sie ihm zwischen die Lippen. Alle drei hatten die gleichen großen blauen Augen.

Der Kaffee war gut. Lena nahm einen weiteren Schluck und stellte die Tasse ab. »Sie brauchen jemanden, der sich um die Katzen kümmert.«

»Katze«, sagte das Mädchen ohne aufzublicken und blätterte geräuschvoll eine Seite um. »Wir haben nur eine. Jonas. Der kann nicht mit.«

»Wir fliegen für zwei Wochen auf die Insel«, erklärte der Mann und nahm ihr gegenüber Platz. »Nach Gomera. Jana, die unseren Haushalt führt, erledigt das sonst. Sie hatte einen Todesfall in der Familie. Ist nach Hause gefahren. Sie kommt erst zwei Tage vor uns zurück.«

Lena nickte und griff nach ihrer Tasse.

»Machst du das schon länger«, erkundigte sich die Frau, »Wohnungen hüten?« Das Baby rülpste.

»Ja. Katzen versorgen, Blumen gießen. Früher habe ich auch geputzt.« Sie wühlte in ihrer Tasche. »Pass. Meldezettel. – Meine Referenzen«, setzte sie nach. Das Paar sah sie überrascht an.

»Das brauchen wir nicht«, wehrte der Mann ab. »Wolfgang kennt dich. Das genügt.« Dann griffen beide gleichzeitig nach den Unterlagen, schauten auf, einander an. Dann zu ihr. Lachten ein bisschen unsicher. Wie ertappt. »Nur, weil du sie mithast … ich wollte immer schon einmal sehen, was die da so schreiben.«

»Passt schon«, sagte Lena. Es ist ihnen peinlich, dachte sie.

»Jana«, erklärte die Frau hastig, »gehört mittlerweile richtig zur Familie. Ich weiß gar nicht, wie ich –«, sie stockte kurz, »wie wir das alles schaffen würden ohne sie: Kinder, Haushalt, den Job. Ich bin Architektin.« Lena nickte. Die andere stand auf, strich ihr Baumwollkleid glatt und schob sich das Kind auf die linke Hüfte. »Gut. Ich zeige dir jetzt die Wohnung.«

Die Katze plumpste vom Sessel auf den Boden und folgte ihnen.

||

Er hatte sich schnell daran gewöhnt, das ganze Bett wieder für sich allein zu haben. Nun lag sie da. Wie früher jeden Morgen – flach auf dem Bauch, als wäre sie hingefallen, irgendwo heruntergefallen. Und nicht wieder aufgestanden. Er würde nie kapieren, wie man so schlafen konnte. Ihr Mund stand ein wenig offen. Sie atmete leise und gleichmäßig. Ihr Atem roch säuerlich. Er hielt die Luft an. Dachte kurz an Kathrin. Sie hatte sie nicht gemocht.

Vom ersten Moment an Abneigung: »Sie ist – nett. Ein wenig – nimm’s mir bitte nicht übel – naiv vielleicht. Wie sie drauflosplaudert. Zu dir aufschaut. Gut, sie ist noch sehr jung.«

Kathrin hatte ihr Lächeln erwidert. Ein naives Landkind, nicht besonders schlau.

»Woran denkst du?« Jetzt war sie wach. Stützte sich auf den linken Arm und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie sah etwas benommen aus.

Er überging ihre Frage. »Kaffee?« Sie nickte. Er hörte sie ins Bad gehen, während er sich in der Küche zu schaffen machte, Laden öffnete und schloss, eine Kapsel in die Maschine drückte und eine Tasse, eine zweite, aus dem Regal nahm. Seine Morgen waren ihm heilig. Er vertrug keine Musik, keinen Lärm, keine Fragen. Sie wusste das.

Sie kam frisch geduscht mit feuchten, zu einem Zopf geflochtenen Haaren und vollständig bekleidet aus dem Badezimmer. Er hielt ihr eine Tasse hin. Sie dankte mit einem Nicken. Sie tranken schweigend. Sie sah ihn ein-, zweimal von der Seite an. Er reagierte nicht. Sie hielt die Schale mit beiden Händen, als wollte sie sich wärmen. Blickte ins Leere.

»Ich muss arbeiten«, sagte er schließlich. »Wir reden morgen weiter. Ich werde mich um die Sache kümmern.« Sie zuckte zusammen. »Hast du die Tabletten? Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Nein danke. Ich komm schon zurecht.« Sie zögerte. »Kann ich dich anrufen? Am Abend?«

»Ich melde mich bei dir. Besser, wir reden nicht am Telefon.« Er strich ihr übers Haar. »Mach dir keine Sorgen. Dir wird nichts passieren«, murmelte er.

Ihr Kopf flog herum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.

||

Als Lena vor dem Geschäft ankam, stand die Tür bereits offen. Sich schon in der Früh hetzen zu müssen war wirklich das Letzte! »Guten Morgen. Bin ich zu spät?«

Ihr Chef drehte sich um. »Morgen, Lena.« Er lächelte und wies auf seine Armbanduhr. »Pünktlich auf die Minute.«

Warum sieht er mich so an? Sie stellte die Tasche ab und schlüpfte aus ihrer Jacke. Im zweiten Raum, der als Lager und Werkstatt diente, blubberte der Wasserkocher. Wolfgang verschwand nebenan und goss sich eine Tasse Tee auf. Lena zupfte an ihrem Rocksaum und zog ihn energisch nach unten. Zu kurz, dachte sie. Noch immer kam sie sich wie verkleidet vor.

»Ich muss in einer halben Stunde wieder weg. Denkst du, du schaffst das schon allein?«

»Ja, klar«, sagte sie forsch und nahm Rechnungsblock und Füllfeder aus der Schublade. Jedes Kind konnte das. Die Ware war ausgepreist. Rechnungen wurden – in Schönschrift, hatte er verlangt – mit der Hand geschrieben, das Bargeld in einer Kassette verwahrt. Die Bankomatkasse war kein Mirakel.

Als sie aufblickte, stand er mit einem Hocker mitten im Raum. Sie nahm ihn ihm ab und trug ihn vor die Tür. Er folgte mit einem kleinen Tischchen.

Wolfgang war schon älter, sicher vierzig, fünfundvierzig, schlank mit einem kleinen Bauchansatz, den er mit lässig geschnittenen, meist schwarzen Klamotten zu kaschieren versuchte. Dunkle kurze Haare, etwas Grau an den Schläfen. Kein Bart. Gutaussehend, wenn man diesen Typ Mann mochte. Lena hielt ihn für ein wenig eitel. Er hatte sie nach einem kurzen Gespräch eingestellt.

»Es geht um etwa drei Dienste pro Woche. Kann auch einmal kurzfristig sein.«

»Passt. Wenn ich es am Vortag weiß, kann ich mir das einteilen.« Sie brauchte dringend etwas Fixes, durfte keine großen Ansprüche stellen.

»Ich nehme an, es ist okay für dich, wenn wir uns duzen?« Wie mein Vater, dachte sie. Sie glauben, es macht sie jünger. »Ja, kein Problem.«

Wolfgang hatte das Geschäft vor knapp zwei Jahren eröffnet. EigeRT stand in großen Lettern auf dem Schaufenster. Dahinter ein ganz in Weiß gehaltenes Lokal. Kühl. Stylish. Wie die Wohnung, in der ich jetzt lebe, dachte sie. Man könnte viel daraus machen. Aus der Wohnung. Aus dem Laden. Aber beides gehörte nicht ihr.

Wolfgang verkaufte Kleinmöbel, vornehmlich Designerware, Dekoration und seine aktuelle Serie von künstlerisch verfremdeten Gebrauchsgegenständen. Die Kunden hatten Geld. Einige waren mit ihm befreundet. Manchmal kamen auch Leute in ihrem Alter, Studentinnen, Schüler. Sie sahen sich lange um, fragten viel und wählten dann eine Kleinigkeit, ein Geschenk für eine Freundin, ein Spiel, Klebebuchstaben, die aus irgendeinem Grund der große Renner waren. Ich würde nie in einem Geschäft wie dem hier einkaufen, dachte sie. Auch nicht, wenn ich Geld hätte. Die meisten Sachen waren viel zu teuer und nicht besonders originell. Und die wirklich schönen Stücke …

Wolfgang riss sie aus ihren Gedanken. »Hast du die Schorns schon angerufen?« Er trat einen Schritt zurück und betrachtete das Schaufenster. Er sah zufrieden aus.

»Ich komm grade von dort«, sagte sie schnell.

Ein kurzer Blick. »Und – machst du’s?«

»Ja.«

Er wandte sich um. Plötzlich hatte er es eilig. »Ich fahr dann.« Sie nickte und trat zurück in den Laden.

Die Zeit verging quälend langsam. Niemand kam. Jetzt bloß nicht grübeln! Sie holte Glasreiniger und Putzlappen und nahm sich das Regal hinter der Theke vor. Sie liebte es, aufzuräumen. Vor Sauberkeit blitzende Flächen zu hinterlassen. Das half immer, wenn sie unruhig war. Wenn sie das Drumherum wieder in Schuss brachte – und sich selber –, ordnete sich auch das Durcheinander an Ängsten und Zweifeln, in dem sie sich manchmal verhedderte. Mit jedem weiteren Handgriff klärten sich ihre Gedanken. Sie wusste: Wenn Menschen aus dem Takt gerieten, sah man es ihnen über kurz oder lang an. Sie pflegten sich nicht mehr und ihre Wohnungen versanken im Chaos.

Im Spital hatte sie immer wieder Patienten erlebt, die aufgegeben hatten, sich gehen ließen. Hatte versucht, sie zum Duschen zu bewegen, statt sie wie üblich schnell im Bett zu waschen. Sie dachte an Herrn Klein, ihren ersten Tumorpatienten, der eigentlich nicht auf ihre Station gehörte, aber aus Platzmangel dort gelandet war: wie er nach längerem Sträuben gegen ein Bad still und glücklich unter dem warmen Wasserstrahl hockte, nur noch Haut und Knochen, das Gesicht nach oben gewandt, die Augen geschlossen, als säße er in der warmen Herbstsonne, während sie ihn vorsichtig rasierte. Später, im frisch bezogenen Bett, von Seifengeruch umhüllt und noch ein wenig atemlos von der Anstrengung, hatte er ihre Hand gedrückt. Da glaubte sie noch, dass sie für diese Arbeit wie geschaffen war. Knapp zwei Jahre später hatte sie alles hingeschmissen und war gegangen.

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