Das Leben ist schmutzig

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Die Sonne tauchte den Raum in ein warmes Licht. Nirgendwo Vorhänge. Man sah über den ganzen Platz. Julia erkannte Herrn Pöhz, der eilig auf das Haus zustrebte. Im Fußballkäfig verprügelten zwei Mädchen mit Baseballkappen einen größeren Buben, der tapfer kämpfte. Ein gelbes Auto wurde abgeschleppt. Während der Kran den Wagen auf den Transporter hievte, sammelten sich rundherum die Passanten, gestikulierten aufgeregt und lachten. Julia stand lange am Fenster, sah hinaus, schaute in den Raum. So sollte man leben können: Klar und übersichtlich lagen die Dinge vor ihr, obwohl noch nicht alles seinen Platz gefunden hatte. Küche und Bad wirkten noch kühl und unbenutzt. Julia fand eine Flasche Rotwein und eine Karte von Daniela auf dem Küchentisch: Die nächste trinken wir gemeinsam.

Später setzte sie sich mit einem Glas auf den Badewannenrand, den Kopf an die kühlen Fliesen gelehnt, rauchte eine Zigarette und sah sich durch den aufsteigenden Rauch im Spiegel an, wie eine Fremde im Zug. Ihre Augen wirkten heller, fast grau, unter den dunklen Haaren. Feine Linien um Augen und Mund ließen sie müde aussehen. Sie zog die Brauen hoch und starrte auf ihren großen blassen Mund, der schon so lange, so lange nicht mehr geküsst hatte, nur geredet und gegessen und geschwiegen. Sie sah sich zu, wie sie den Wein trank, wie sie traurig wurde, nach und nach, von dem einen Glas und ihren Erinnerungen. Dann stand sie auf, zog ihren Pullover über den Kopf, sah sich in der fremden Wohnung nackt gegenüber im großen Spiegel, der bis zu ihrem Nabel reichte, schaute sich aufmerksam an: den Hals, die schmalen Schultern, die Brüste – helle, zarte Haut mit feinen Rissen, einer Narbe über dem Schlüsselbein, einem Bluterguss am linken Unterarm, der langsam verblasste – schaute lange, sah das Bild langsam verschwimmen. Dann schlang sie die Arme um ihren Oberkörper, umarmte sich selber. Und weinte, bis keine Tränen mehr kamen.

Julia fand eine Arbeit. Abends stand sie auf der Leiter und malte Decke und Wände im Wohnzimmer, im Schlafzimmer und im Kabinett in strahlendem Weiß. Dann kamen die Professionisten, verlegten die Böden und fliesten Bad und Küche neu. Die Schule hatte längst wieder begonnen, und Markus wohnte immer noch bei der Oma. An den Wochenenden fuhr sie hin für ein paar Stunden, saß im Garten, blass und erschöpft, redete mit ihrer Mutter, zeigte sich zuversichtlich und stärker, als sie war, und suchte immer wieder das Gespräch mit ihrem Sohn, der einsilbig antwortete und sich entzog. Julia bemerkte, dass er ernster war und manchmal abweisend und schroff. Sie spürte Tränen aufsteigen und schluckte sie tapfer, biss sich auf die Knöchel und tat, als wäre nichts. Es würde sich ändern, alles, wenn er wieder zu Hause wohnte. Wenn er wieder bei ihr war.

Irgendwie kotzt mich das alles an: die Nachmittage in Wagners dunkler, schmuddeliger Wohnung, die sich ziehen und wie ein langes Warten sind auf irgendetwas, das ich nicht kapiere und das niemals kommt. Dieser verdammte Winter, der nicht aufhört, obwohl dem Kalender nach schon Frühling ist. Dass ich noch nicht sechzehn bin und mit Sylvie damals bloß blöd rumgeknutscht hab, viel zu besoffen und viel zu verliebt, um sie an Ort und Stelle zu vögeln, wie das Stefan keine zwei Wochen später gemacht hat, mit dem sie jetzt Händchen haltend vorm Kino rumsteht und der so cool tut, wie ich es nie, niemals sein werde, während sie ihn anhimmelt.

Ich bin noch wochenlang fast verreckt bei dem Gedanken, dass sie sich an ihn schmiegt, dass er wie selbstverständlich seinen Arm um sie legt und alle wissen, dass und wie er es mit ihr treibt. Kotzen könnte ich, wenn ich sehe, wie lässig er tut, wie er andeutet, dass er sie bald überhat. Und ich Trottel – immer noch verliebt. Und sie hat keinen Blick für mich, nur Augen für ihn.

Wagner ist eine Sau. Er hält mir Pornos von Weibern mit dicken Titten unter die Nase, die wie zum Hohn, von der Frisur und all dem Lack abgesehen, eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr haben, und lächelt verschwörerisch: »Schau einmal, Markus. Da!«

Die Frau auf den Bildern würgt an einem viel zu großen Schwanz. »Na komm.« Er stößt mich in die Rippen. »Ist ja bloß Spaß, Markus. Mein Gott …« Er verdreht entnervt die Augen. »Markus?« Ich schweige. Wagner schwänzelt um mich herum, stellt mir noch ein Bier hin, Flasche, kein Glas, versucht es mit Beschwichtigungen, mit Scherzen. Mit Lockangeboten. Ich starre vor mich hin. »Mamakind«, sagt Wagner. Mamakind, ausgerechnet! Wo ich mit meinem ganzen verdammten Kram allein bin, mutterseelenallein, und sie echt die Letzte ist, mit der ich Lust hab drüber zu reden. Dem fehlt der Vater, behauptet die Hohlhippe von oben, die früher ganze Nachmittage unser Wohnzimmer verpestet hat mit ihren Zigaretten und ihrer Neugier nach allem, was ein bisschen Leben in ihren Klosteralltag bringt, bevor sie ganz vertrocknet. Wenn ich einen nicht vermisse, dann ist es der. Das gebe ich euch schriftlich.

»Hey, Wawerka, Valentinsblumen? Oder bist du jetzt Gärtner?«

Markus fährt herum und sieht Alex breit grinsen. Er grinst zurück. »Lange nicht gesehen. HTL. Und du?«

»Och, Arbeitsprojekt. Uröd. Lauter Behinderte. Kindergarten. Aber ich bin eh krank, Grippe, verstehst? Schon die zweite Woche. Er hat mich angesteckt, der Mistkerl. Jetzt muss ich im Bett bleiben. Mich schonen.«

Der Mistkerl schaut auch kein bisschen krank aus, ist im Gegenteil ziemlich auftrainiert und hat eine Farbe, als hätte er in der Karibik überwintert. »Wer ist denn der?«, fragt er und mustert Markus.

»Kenn ich aus der Hauptschule. – Wawerka, machst noch Karate? Boah, ich sag dir, Kris, das Mamakind hat mich einmal niedergefetzt, so richtig, weil ich was gegen seine Mamsch gesagt hab. Brutale Sau, der Wawerka, wie sein Alter. Echt, hätte ich damals nicht geglaubt.« Er schaut ­Markus prüfend an. »Warst immer so still.«

Markus zuckt mit den Schultern. Was soll er sagen?

Es fängt leicht an zu regnen. Wind kommt auf. Kris zieht die Schultern hoch und die Haube tiefer ins Gesicht. Er wird unruhig. »Was ist, gemma McDonalds, Killer?«

So hat es angefangen, und Markus wünschte sich später oft, er hätte die Telefonnummer weggeworfen, die Alex ihm gegeben hat, statt sich in den kommenden Wochen immer wieder mit ihm zu treffen und nach und nach alle seine Freunde kennenzulernen.

Anfangs war es cool. Sie waren meistens in der Gruppe unterwegs, und es war immer etwas los. Zwei von ihnen waren schon älter, achtzehn oder neunzehn, und nur manchmal dabei, aber Alex war unbestritten der Boss. Markus fand es gut, wie er mit einem einzigen Blick einen Vorschlag verwarf oder einen der Jungs dazu brachte, die Klappe zu halten, wenn er etwas sagen wollte. Sie verbrachten viel Zeit im Einkaufscenter, schlenderten zwischen den Geschäften hin und her und quatschten Mädchen an. Sie hörten stundenlang Musik und checkten, wo man am besten klauen konnte, CDs vor allem, und einmal machte Markus mit und war erfolgreich, verschenkte die CD aber sofort, Hardcore-Techno, den er sowieso nicht hörte, weil er das Zeug so schnell wie möglich loswerden wollte. So schnell wie möglich. Immerhin gehörte er jetzt wirklich dazu.

Sie chillten halbe Tage in ihrem Lieblingscafé, und ­Markus gewöhnte sich an, gleich nach der Schule hinzugehen und die eine oder andere Stunde am Nachmittag ausfallen zu lassen. Er wusste nicht, wie er dazu kam, dass Alex ihm eine Sonderposition einräumte und ihn fast beiläufig vor den anderen in Schutz nahm, wenn er – was anfangs öfter vorkam – nicht mitrauchen wollte oder beim Cola blieb, weil er am nächsten Tag Schularbeit hatte. Er tat gelangweilt: Saufen ist uncool.

Seine Leistungen sanken trotzdem ab. Julia bestand auf Nachhilfeunterricht, und er fügte sich zähneknirschend. Die nächsten Samstagabende mit den Freunden waren gestrichen.

Einmal waren sie in einer Peepshow. Zu dritt in der Kabine. Markus war wie weggetreten, als die Frau langsam die Beine öffnete und einen Finger in ihre Möse tauchte. Sie warf den Kopf zurück, ihre dunkle Mähne, und sah sie unter halb geschlossenen Lidern an. Ihre Zunge leckte über ihre Oberlippe. Er atmete schwer. Wir waren schon oft da, behauptete Alex und holte sich neben ihm einen runter. Er war unglaublich aufgekratzt und konnte die Klappe nicht halten. »Boaah, ist die heiß, Wahnsinn … Hey …« Noch Tage später ging es nur um geile Weiber. Demnächst wollte man miteinander ins Puff.

»Du bist doch dabei, Maks, oder?«

Markus grinste schief. »Mit sechzehn?«

»Scheiß dich nicht an, ich kenn da wen … Willst du?«

Markus wollte.

»Scheiß dich nicht an«, sagt Alex. »Das ist todsicher. Halt dich im Hintergrund.« Er setzt sich in Bewegung und redet den Kleinen an. »Hey, weißt du, wie spät es ist?«

Der Bub stellt sein Board ab, versenkt seine Hand erst in der rechten, dann die andere in der linken Hosentasche, fördert schließlich sein Handy zutage, schaut auf das Display, Haarschopf im Gesicht, dann zu Alex hoch.

»Dreizehnuhreinund …«

»Cooles Handy, zeig mal.« Da hat er es schon in der Hand, und die anderen lösen sich langsam vom Geländer, bewegen sich auf Alex und den Skater zu, der ein kicksendes »Aber …?« hören lässt und panisch um sich schaut. Alex gibt ihm die SIM-Karte zurück und lässt das Handy in seine Jackentasche gleiten. Ganz lässig, wie in Zeitlupe, schlendern die anderen Jungs auf die beiden zu, verdecken die Szene – und der Kleine steht mit dem Rücken zur Wand.

Markus, drei Schritte hinter den anderen, keine Spur von lässig, versteht endlich, flippt fast aus. »Hey, ihr könnt doch …« Seine Stimme kommt sehr leise. Ein langer Blick von Alex, und er verstummt. Passanten gehen vorbei. Ein Kind direkt vor ihm stolpert über eine rote Hundeleine, plärrt sofort los wie verrückt, während der Kläffer winselt und eine schrille dünne Frau am anderen Ende der Leine das Tier an ihre flache Brust reißt und die Kindesmutter ankeift. Eine Schulklasse bahnt sich einen Weg durch die Menge. Vorne beugt sich einer von Alex’ Freunden etwas vor, dann löst sich die Gruppe auf, ebenso langsam. Ein, zwei Blicke, dann verschwinden zwei von ihnen im Gewühl, die beiden anderen nehmen die Rolltreppe zur U 3. Markus ist unschlüssig, was er tun soll. An der marmorverkleideten Wand vor der Bank steht der Kleine wie angeklebt, sein Board unterm Arm, und wühlt in seinem Rucksack. Er schnieft und schaut immer wieder auf – gehetzt, rührt sich aber nicht von der Stelle. Dann trifft sein Blick Markus. Da schluchzt er laut auf, beginnt hemmungslos zu heulen. Markus löst sich endlich aus seiner Erstarrung, dreht sich um und rennt Richtung U-Bahn.

 

Auf der Treppe vor ihm Gerangel inmitten der Passanten. Alex’ Freunde haben einen Gleichaltrigen in ihrer Mitte, der sich kurz heftig wehrt, plötzlich ganz still wird und unversehens ein, zwei Passanten zur Seite stößt, losrennt, die Treppe runter, zweimal stolpert und, ohne sich noch einmal umzudrehen, in der Menge verschwindet. Die Großen grinsen einander an, schauen sich kurz um, wie gelangweilt, und obwohl Markus versucht, hinter einer dicken Frau mit Hut in Deckung zu gehen, haben sie ihn gesehen und warten vorne beim U-Bahn-Abgang auf ihn.

»Hey, Weichei. Hast du gesehen?« Der Dünne hat hohe Backenknochen und ganz schmale Augen. Er war heute zum ersten Mal dabei. Zumindest hat Markus ihn noch nie zuvor gesehen. Er spuckt aus, zündet sich eine Zigarette an, sein Feuerzeug klickt, er scheint unter Strom zu stehen, tänzelt, wippt, lässt seinen Blick unentwegt über die Passanten schweifen.

»Warum der gelaufen ist?« Der zweite Typ, den alle Grisu nennen, ist kleiner als Markus, schaut aus wie ein gestylter Engel in Puma-Klamotten und lacht sich halb tot. »Wir haben einfach die besseren Argumente.«

Markus sieht ein Messer aufblitzen.

»Glaub mir, der packt sein Leben nimmer, der Typ, der scheißt sich an, der will nicht mehr dran denken, der hat schon vergessen, alles vergessen, Handy vergessen, vergessen, wie wir aussehen, was?« Er stößt den anderen an, hat aber nicht die Resonanz, die er sich wünscht. »Der scheißt sich an. Der macht sich nass. Wie du, Markus, hä?«

Sein Gesicht ist keine Handbreit von Markus’ Nase entfernt. Sie starren einander an. Dann führt der Gegner einen Schlag gegen Markus’ Brust, aus kurzer Distanz, und ­Markus knickt ein.

»Du hast nichts gesehen, Weichei. Nichts.«

Noch ein Blick aus schmalen Augen, und dann wenden sie sich ab. Der große Dunkle, immer noch unter Spannung, leicht tänzelnd wie ein Boxer, rempelt weiter vorne einen Mann an, brüllt ihn an, und dann lachen sie beide, der Engel auch, und sprinten los.

Julia ist müde. Es läuft nicht gut. Irgendwie kommt ihr alles wie eine einzige Wiederholung vor. Band anhalten, zurückspulen – und wieder laufen die gleichen Szenen ab. Jedes Mal. Nur der zweite Hauptdarsteller wechselt. Vier gab es, genau genommen. Sie hat viel Zeit beim Putzen. Stundenlang schaut sie sich Szene für Szene noch einmal an.

Der Mann musste sie tagelang beobachtet haben. Sie kam gegen fünf, schloss die Büros auf und begann mit der Arbeit. Hin und wieder war Herr Pucher noch im Haus, der gerne abends über seinen Akten saß, weil er da in Ruhe arbeiten konnte, und beim ersten Mal waren sie beide gleichermaßen erschrocken, als sie an einer Ecke gegeneinanderprallten. Seitdem machte sie sofort überall Licht, bevor sie sich in der Garderobe hinter einem Wandschirm umzog und die Putz­utensilien holte. Sie wischte die Oberflächen und versorgte die Blumen in den Büros und im Gemeinschaftsraum, schrubbte dann die Klos und Waschräume und startete schließlich, wenn Herr Pucher seine Unterlagen versperrt und sein Büro verlassen hatte, den Staubsauger. Während sie später die Böden feucht wischte, klingelt da und dort ein Telefon. Sie rauchte eine Zigarette, während die Böden trockneten, und ging dann noch einmal durch die Räume, kontrollierte, ob sie nichts übersehen hatte.

Einmal sah sie den Mann im gegenüberliegenden Trakt am Fenster stehen, beide Hände auf die Scheibe gelegt. Er starrte angestrengt nach unten, fing dann ihren Blick auf, grinste und winkte ihr zu. Er sah irgendwie zerstrubbelt aus, als hätte er sich die Haare gerauft oder wäre grade aufgestanden. Meistens war der Raum dunkel, aber in einem der dahinter liegenden wurde noch gearbeitet. Einmal sah sie ein knutschendes Pärchen im Lichtschein einer halb geöffneten Tür, ein anderes Mal, als sie später dran war, eine Kollegin in Höchstgeschwindigkeit die Arbeitsplätze wischen. Die verrückte ein paar Ordner auf den Schreibtischen, fuhr zerstreut über ein paar Telefone, musterte erst das Putztuch, dann genauer ihre Nägel, zündete sich schließlich eine Zigarette an und telefonierte lange von einem der Apparate nahe dem Fenster.

Hin und wieder vermeinte Julia eine Gestalt im Dunkel stehen zu sehen. Dennoch fühlte sie sich sicher. Sie traf ihn im Stiegenhaus, Tage später. »Sind Sie das, da im Dunkeln?«, fragte sie forsch, nun doch ein bisschen unbehaglich, und er errötete tatsächlich leicht.

»Ich hab Ihnen zugesehen, ja. Schlimm?« Er gewann seine Lässigkeit wieder.

Julia schüttelte den Kopf. Der sah nett aus, völlig ungefährlich, ein großer Junge mit breitem Grinsen. Sie kann sich an ihr weiteres Gespräch nicht mehr erinnern, aber an ein anderes, in dem er sie mehrfach zum Lachen brachte, und einmal gestand er ihr, er habe ihr aufgelauert, um sie wiederzusehen. Sie standen lange im Stiegenhaus. Er brachte sie wieder zum Lachen. Später gingen sie in ein Lokal.

Damals hätte sie geschworen, es sei einfach so gekommen, ohne jedes Zutun von ihrer Seite. Sie war nur dagesessen, inmitten von Musik und Stimmengewirr, und hatte ab und zu einen Schluck getrunken, ihm zugehört, wie er erzählte, lachte, ein bisschen angab und ganz offen um sie warb. Sie hatte fast vergessen, wie schön das war. Er neigte sich zu ihr, streifte mit seinem Mund ihre Wange, ganz sanft, wie zufällig, und sie fand es unglaublich, ganz unglaublich, fühlte sich lebendig, fühlte Gänsehaut aufsteigen und die Lust, ihn zu küssen, während er etwas in ihr Ohr murmelte, das sie nicht verstand. Sie wandte sich ihm zu und zog die Brauen hoch. Er lachte. Sein Mund war ganz nah. Braune Augen mit hellen Einsprengseln. Der Bass dröhnte in ihrem Blut. Sie sog an der Zigarette, hielt sich daran fest, inhalierte tief. Er ist noch ein Kind, sagte sie sich, während das Kind ihre Hand hielt und an ihrem Ohr schnupperte und ihren Nacken küsste, sehr feucht, und tausend Schauer ihren Rücken hinunterrieselten und sie bleiben wollte und an nichts denken.

Er drängte zum Aufbruch. Sie wollte die Zeit anhalten. Sie saßen nebeneinander, ganz eng, die halbe Nacht, bis das Lokal fast leer war. Julia spürte den Alkohol, leicht nur, aber das war es nicht, weswegen sie ihn mitnahm, zum ersten Mal, nach Hause, in ihre Wohnung, gegen alle Vernunft.

Sie erkannte sich nicht wieder. So war es noch nie gewesen. Kein bisschen Vertrautheit, alles war neu. Sie war plötzlich scheu wie beim ersten Mal. Im Spiegel sah sie ihre Augen, erschrocken, und einen wundgeküssten Mund. Sie verhedderte sich in ihrem Pullover, war aufgeregt, kämpfte mit seinem Reißverschluss. Er half ihr, schlüpfte aus den Jeans, drehte sich zu ihr um, schubste sie aufs Bett und warf sich neben sie. Der Lattenrost ächzte. »Jetzt hilft kein Jammern.« Er lachte. Dann schaute er sie aufmerksam an und begann langsam ihre Konturen nachzuzeichnen. Er war verspielt, ließ sich Zeit, ließ ihr Zeit, wusste aber genau, was er wollte. Sie hörte sich keuchen, schreien, spürte seinen Mund, sein Zunge, seine Finger. Sie fasste in sein Haar. Er sah zwischen ihren Beinen hoch und grinste sie an. Dann tauchte er wieder ab. Sie ließ sich fallen, spannte sich an, bebte, bebte, und dann – Feuerwerk. Jetzt war er in ihr, über ihr, ließ von ihr ab und rollte unter ihr weg. Sie balgten miteinander, und nun saß sie auf ihm und schaukelte sie beide zum Höhepunkt.

Später lag sie neben ihm im Dunkeln, schmiegte sich an seinen Rücken, und er drehte sich um und zog sie im Schlaf an sich, ganz selbstverständlich. Sie blieb wach, bis es hell wurde, und sie machten es noch einmal, kurz und heftig diesmal. Er biss sie leicht in die Schulter, setzte einen Kuss darauf und zog mit dem Zeigefinger ihre Narbe nach. »Du bist sehr schön, weißt du. Deine Augen, Julia. Und dein Mund, wenn du kommst.«

Julia sieht sich mit ihm über eine Wiese laufen. Wie im Film. Es ist Frühsommer und ihre Beine sind noch ganz hell. Es duftet nach frisch gemähtem Gras. Bienen summen im Klee. Sie sitzen an der alten Donau, beim Birner, ganz nah am Wasser. Es ist Sommer, sie blinzelt ins Helle und ihr Gesicht spannt von zu viel Sonne. Sie essen Fisch. Er kann gut erzählen, und sie hört ihm zu, das Kinn auf beide Hände gestützt. Er greift ihr ins Haar:

»Warum lässt du die Haare nicht wachsen, Julia?«

»Das ist vorbei.«

Sie schüttelt den Kopf und schaut in den Sonnenuntergang. Sie ist mit einem Mal weit weg. Mücken tanzen über dem Wasser.

Als sie zur Straße hinaufgehen, all die Stufen, legt er seinen Arm um ihre Schultern und zieht sie an sich. Sie lächelt ihm zu und vergräbt ihre Nase in seiner Halsbeuge.

Sie sahen einander wieder. Sie sah sie alle wieder, bis auf einen, der nicht mehr anrief nach der ersten Nacht. Und mit der Zeit wurde es vertrauter und sanfter. Es war schön, aber sie wurde schnell ungeduldig, benahm sich zickig und schämte sich dafür. Sie hatte es doch gut, endlich gut. Es waren kleine Dinge, die Julia nervös machten.

Sie wurde wach und hörte ihren Liebhaber in der Küche hantieren. Sie hatten nur zweimal miteinander gefrühstückt, aber er fand sich ohne Weiteres zurecht und bewegte sich sehr selbstverständlich in ihrer Wohnung. Und brachte ihr das Frühstück ans Bett. Die Frage des Zweiten nach einem gemeinsamen Urlaub ließ sie plötzlich auf Distanz gehen. Bis dahin war alles gut gewesen. Und einmal lag sie nachts da, jäh aus einem Traum erwacht, weil in der Wohnung über ihr etwas zu Boden gefallen war, und ließ sein Haar durch ihre Finger gleiten und sah ihm beim Schlafen zu und hörte ihn seufzen. Er hatte die Lippen aufgeworfen und sah aus wie ein schmollendes Kind. Sie stand auf und stellte sich ans Fenster. Rauchte. Die Straße war ganz still. Im Hintergrund hörte sie seinen regelmäßigen Atem und fühlte sich sehr allein. Der Traum ging ihr nach: Sie war mit einem Fahrrad eine breite Straße entlanggefahren. Sie trug nur ein weites weißes Hemd und trat heftig in die Pedale. Ihre Beine schmerzten. Vor sich ihr eigener Schatten – immer ein paar Schritte voraus, wie ein verspielter junger Hund. Sie strampelte und strampelte. Sie musste ihn erreichen, ihn fangen. Der Schatten aber blieb, sosehr sie sich mühte, immer ein Stück vor ihr. Sie holte ihn nicht ein.

Zwischen Julia und der Lehrerin entwickelte sich bald eine Freundschaft, sehr zum Missfallen von Herrn Pöhz.

»Was finden Sie denn an der?«, fragte er Daniela ganz aufgeregt und gestikulierte wild. »Die ist doch unter Ihrem Niveau, Frau Daniela, ein Flittchen ist das, und ein ausgekochtes Luder. Kaum war der Mann aus dem Haus …« Er wurde laut. Wieder erinnerte er sich daran, wie sie ihn angefahren hatte, damals, mitten in der Nacht. Er schnappte nach Luft. »Frau Daniela! Das ist doch kein Umgang für Sie.«

»Herr Pöhz«, Daniela sah ihn plötzlich sehr kühl an, »ich mag die Julia. Ich mag sie sehr. Und ich werde es nicht dulden, dass man schlecht von ihr redet.«

»Aber, ich … Sie kennen sie nicht, sie hat doch …« Herr Pöhz kam ins Stocken. »Ein Flittchen ist das, die Julia«, schnaufte er noch einmal. »Schauen Sie sich die Romeos an, einer jünger als der andere. Buben! Glauben Sie, ich bin blind? Und taub am Ende? Kaum war der Mann aus dem Haus…« Daniela versuchte ihn zu unterbrechen, aber Pöhz hatte sich in Rage geredet. »Wenn sie heimkommt in der Früh, wenn ordentliche Leute aufstehen, weil sie arbeiten müssen«, Pöhz rang nach Luft, »mit einem von den Buben – das müssen Sie hören. Das ist eine Schande. Wir sind ja kein Puff. Wenn sie schreit. Und keucht. Und die Buben auch. Und der eigene Sohn in derselben Wohnung, ich bitte Sie, das ist doch kein Vorbild, das ist doch keine Mutter, das …«

Da fuhr Daniela dazwischen. Sie unterbrach ihn barsch. »Herr Pöhz, das interessiert mich nicht, der Tratsch. Ich mag die Julia. Passen Sie auf, was Sie reden. Ich meine das ernst.« Sie holte tief Luft. Der alte Mann schaute sie erschrocken an. »Sie wissen, dass ich Sie schätze, Herr Pöhz«, begann sie wieder, nun etwas ruhiger. »Umso mehr erwarte ich mir gerade von Ihnen, dass Sie über meine Freundin nicht schlecht reden.« Sie wirkte plötzlich sehr kühl.

 

Pöhz erschrak. Meine Freundin, hatte sie gesagt. Er nickte resigniert. Dass ich Sie schätze, hatte sie gesagt. Und immer freundlich war sie, jedes Mal blieb sie stehen, wenn sie ihm begegnete. Das tat sonst keiner im Haus. Sie respektierte ihn, sie hörte ihm zu. Und was war denn dabei, wenn er …? Wenn sie meinte. Er hatte sie ja nur warnen wollen. Er nickte noch einmal. »Ja«, sagte er. »Ja, Frau Daniela, Sie werden schon wissen, was Sie tun.«

Daniela lächelte ihn an. Es kam ihm weniger herzlich vor als zuletzt. »Gut, Herr Pöhz. Das freut mich. Ich muss weiter. Einen schönen Tag.«

Kühl, ja. Er war erschrocken. Sie wandte sich zum Gehen. Ob sie ihm jetzt böse war? Er rang mit sich. »Frau ­Daniela?«

»Ja?«

»Nichts«, sagte er. Ihn hatte der Mut verlassen. »Sie können sich auf mich verlassen. Ja.«

Sie lächelte.

Daniela liebt ihn, aber seine Klamotten sind eine Katastrophe. Die Jeans, er trägt nur Jeans, sind abgetragen und haben durchwegs durchgescheuerte Taschen. Ein Mann Mitte dreißig sollte sich langsam von seinem Lieblingspullover, den er mit zwanzig schon getragen hat, trennen. Manfred versteht nicht, warum Daniela zunehmend gereizt reagiert, wenn er ihn anzieht, fügt sich aber schließlich. Sie gehen einkaufen. Am Samstag. Es ist heiß. Er hasst das. Das Gedränge. Das An- und Ausziehen, stundenlang. Die Enge der Kabine, die ihn zum Schwitzen bringt. Die Berge von Klamotten, die ihm Daniela immer wieder zur Anprobe reicht. Er weigert sich, auch noch aus der Kabine zu treten und sich wie ein Affe vor dem Spiegel zu drehen, sich begutachten zu lassen. Er ist froh, als sie sich endlich mit ihren Einkäufen in eine der Schlangen vor den Kassen einreihen.

Daniela stellt sich auf die Zehenspitzen und reckt sich zu ihm hoch. Sie erreicht mit Mühe seinen Mund und packt einen Kuss drauf. »Du bist ganz erhitzt. Wir haben’s gleich.«

Er knurrt.

»Hey«, sie knufft ihn in die Seite, »schaut gut aus, was wir gekauft haben, du wirst sehen.« Sie strahlt ihn an.

Er will raus, endlich raus. Er merkt eine leichte Gereiztheit aufsteigen. Warum zum Teufel geht das jedes Mal wieder los, unweigerlich, sobald man einige Monate zusammen ist? Selbst eine Frau wie Daniela, bestimmt kein Modepüppchen, fängt an, an seiner Kleidung herumzumäkeln. Er ist weder ungepflegt, noch trägt er grelle Farben, ganz im Gegenteil, und trotzdem ist über kurz oder lang klar: Entweder sie gehen einkaufen oder es gibt laufend spitze Bemerkungen oder genervte Blicke, wenn sie miteinander unterwegs sind. Also ergibt er sich. Auch diesmal wieder.

Manfred hat das Auto stehen lassen. Ein Fehler. In der U-Bahn drängen sich die Massen. Er versteht nicht, wie man das täglich auf sich nehmen kann. Ein Seitenblick auf Daniela, die ganz vergnügt um sich schaut und schließlich zu ihm hoch. Sie fasst wieder nach seiner Hand und schmiegt sich an ihn. Die U-Bahn fährt mit einem Ruck an. Manfred hat den Ellbogen eines dicken Mannes in der Seite. Sein Gegenüber, ein schlaksiger Kerl mit schütterem hellbraunem Haar, frisst mit großem Behagen ein Kebab. Salat und Tomaten lösen sich aus dem Ganzen und fallen zu Boden. Ein gefährlich aussehender brauner Hund schnüffelt zwischen seinen Beinen. Er hält den Atem an. Der Hund wendet sich ab. Knoblauchgeruch breitet sich aus. »Gestatten?« Er schnappt Daniela, bahnt sich den Weg durch die Menge und zerrt sie förmlich hinter sich her aus dem Waggon. Menschen strömen vorbei. Auf einer seiner Tragtaschen klebt etwas Salat.

Daniela schaut ihn verständnislos an. »Was …?«

»Ich muss da raus, bitte. Ich halt das nicht aus. Daniela …« Sie nehmen den nächsten Aufgang.

»Hallo, Markus.« Julias Sohn schaut verwirrt auf. Er scheint es eilig zu haben.

»Äh, Tag.« Er verschwindet im Gewühl.

Daniela weiß, wann es an der Zeit ist zu schweigen. ­Manfred ist angespannt und mehr als gereizt. Sie biegen in die nächste Seitengasse ein. »Rani?«, fragt sie. »Ich lad dich ein.«

Beim Essen entspannt er sich langsam. Er schaut sie lange an, dann beugt er sich über den Tisch, küsst ihre Wange, schnüffelt sich zum Ohr vor. Sie kriegt Gänsehaut. Es kitzelt. »Mach das nie wieder mit mir, nie wieder. Das nächste Mal laufe ich nämlich Amok.«

Sie dreht ihm ihr Gesicht zu. Er hat die dunklen Brauen eng zusammengezogen, schiebt das Kinn vor und schaut finster und bedrohlich. »Ich kille sie alle. Alle. Und zuletzt dich.« Er beißt sie sanft in den Hals. »So!« Daniela quietscht laut auf. Das Paar am Nachbartisch dreht sich um. ­Manfred grinst breit. Verdammt, sie mag ihn. Die Art, wie er spielerisch schwierige Situationen entspannt. Sie mag ihn sehr.

Wagner ist so. Um halb zehn, sagt Wagner, bin ich da. Du kannst dich drauf verlassen, Markus. Und da steh ich dann, wie ein Trottel – und weit und breit kein Wagner. Im Stiegenhaus surrt eine einzelne Fliege und knallt mit nervtötender Beharrlichkeit an die immer gleiche Scheibe. Irgendwo geht eine Tür, aber keiner kommt, und ich trete gegen die Wand, immer wieder. Das beruhigt mich ein bisschen. Ich verteile den abgeblätterten Putz auf einer genau abgezirkelten ­Fläche.

Die Bewegung ist kaum wahrnehmbar – aber ihr Blick: Flash. Das ist die Neue aus dem ersten Stock. Richtige Frau, kein Mädchen. Sie lächelt mich an. Ich werde ein bisschen rot und lass mir also die Haare ins Gesicht fallen und murmle was von »war noch nicht da«, als sie sich an den Postkästen zu schaffen macht. »Sag mal«, sagt sie, grinst breit und starrt mir auf die Hose … und mit einem Mal ist mir der Aufnäher irgendwie peinlich. Und so. In dem Moment kommt ­Wagner. Schwungvoll: »Moageeeen!« Ich hasse ihn. Wagner, große Klappe, quatscht sie gleich voll und nennt mich Kleiner, aber da sehe ich, dass sie mir zuzwinkert. Eins zu null für mich, Wagner.

Wagner hatte nicht renoviert damals. Wagner war einfach eingezogen in die Wohnung, aus der einer herausgestorben war. Er hatte seine Möbel hineingestellt – und aus. Er und Herr Pöhz teilten das Gangklo, und ein Vergnügen war das nicht.

»Aus dem Weg da, zum Teufel«, war das Erste, was ­Wagner von seinem neuen Nachbarn zu hören bekam, als er seinen Fernseher Richtung Wohnung schleppte. Wagner hatte noch einige Möbel vor der Tür stehen, aber der Alte tat, als hätte er ihn buchstäblich eingemauert und ihm nur ein kleines Schlupfloch offen gelassen. Er war rot im Gesicht, schnaufte wie eine Dampflok und begann sofort, Wagner zu instruieren, was dieser hier im Haus gefälligst zu unterlassen habe. Impertinent. Sofort entbrannte ein heftiger Streit. Wagner spuckte ihm schließlich vor die Füße, drehte sich um und ging. Seitdem waren sie verfeindet. Man redete kein Wort mehr miteinander.

Wagner störte das nicht im Geringsten, bis der Pöhz das erste Mal, an einem Sonntagnachmittag, seinen Musikgeschmack offenbarte. Wagner lag in Trainingshose und T-Shirt im Bett und schaute sich ein Magazin an. Im Hintergrund lief der Fernseher, den Ton hatte er leiser gedreht. Er schaute auf den Bildschirm, ließ sich von ein paar Sequenzen fesseln, nahm dann einen Schluck Bier aus der Flasche und sah sich im Zimmer um. Schön hatte er es. Die dicken Vorhänge hielten die Welt draußen. In der Ecke brannte eine Lavalampe. Die Möbel, die im hellen Tageslicht schäbig gewirkt hatten – Sperrmüll, Gerümpel, Glumpert, hatte Pöhz gegiftet –, wirkten in diesem Licht ganz in Ordnung: die ausziehbare Doppelbettbank aus braunem Cordsamt. Eine Mahagoniwohnwand, alt, aber noch gut. Eine Ecksitzbank mit einem runden Tisch und ein Schrank, in dem er seine Magazine und Videos aufbewahrte. Die Anlage. Alles, was er brauchte. Wagner streckte sich behaglich.

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