Im Sinne der Gerechtigkeit

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«An was kannst du dich erinnern?»

«Damian Schoch rief mich um vier Uhr nachmittags an, er wollte mit mir reden. Ich blockte zuerst ab und verwies ihn an Mark und Chris, doch er liess nicht locker. Wir vereinbarten schliesslich, dass ich ihn nach meiner gestrigen Sitzung anrufe und er dann kurz vorbeikommt.»

«Nicht gerade üblich, um elf noch jemanden zu treffen.»

«Ich wollte es hinter mich bringen und hoffte irgendwie, er wäre einsichtig. Er wusste mit Sicherheit, dass mit Mark nicht zu spassen ist. Zudem suchten wir ihn schon eine Weile.»

«Weshalb hast du Mark nicht informiert?»

«Weil Schoch es ausdrücklich verlangte. Entweder ein Gespräch unter vier Augen oder wir würden keinen Franken mehr sehen.»

«Wie ging es weiter?»

«Um zehn rief ich ihn an und zwanzig Minuten später war er da. Er bot mir eine halbe Million an, wenn ich Mark zur Vernunft bringen würde. Schoch wusste, dass Chris ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte. Natürlich lehnte ich ab. Im Gegenzug schlug ich ihm vor, er solle Marks Million rausrücken und ich würde dann dafür sorgen, dass er in Ruhe gelassen werde.»

«Das lehnte er ab.»

«Ja, er lachte verächtlich und zog sich Koks rein. Ich bat ihn, es sich zu überlegen und zu gehen.»

«Weshalb ist es eskaliert?»

«Er … er erzählte mir eine wirre Geschichte, Herr Kommissär. Er sei Micheles Lover und kenne unsere Familienverhältnisse sehr genau. Er wisse, wo unsere Schwachstellen seien. Sollte er draufgehen, dann nehme er die eine und andere mit.»

«Geschwätz eines Bekloppten.»

«Er drohte, nach Davos zu fahren und Michele umzubringen.»

Ferrari schaute ihn durchdringend an.

«Und dass er Ihre Frau ermorden würde.»

«Woher wissen Sie das? Er stand schon bei der Tür, da drehte er sich nochmals um. Ich wisse jetzt, was geschieht, wenn Chris und Mark nicht einlenken würden. Es liege allein in meiner Hand. Dann …» Er atmete tief durch. «Dann drohte er, meine Frau … meine Frau zu töten … ihr den Bauch aufzuschlitzen … In diesem Moment sah ich nur noch rot. Ich tastete nach meiner Pistole und schoss.»

«Einmal oder zweimal?»

«Das weiss ich nicht mehr. Staatsanwalt Borer sagt zweimal. Ich war wie von Sinnen, sah Leonie tot auf dem Boden liegen. Schoch bluffte nicht, er war zu allem fähig. Obwohl ich ihn traf, torkelte er hinaus. Zuerst wollte ich ihm nachrennen …»

«Um ihm zu helfen?»

«Nein, Nadine, um ihm den Rest zu geben. Mir war klar, solange er leben würde, wäre Leonie in Gefahr. Aber ich konnte nicht. Als ich einige Minuten später das Büro verliess, war Schoch verschwunden.»

«Und dann fuhrst du nach Hause?»

«Ich gondelte noch durchs Quartier, doch Schoch war nirgends zu sehen. Irgendwie landete ich in der Burg und dort holten mich eure Kollegen heute ab.»

«Gehört die Pistole dir?»

«Ja. Zuerst wollte ich mir keine zutun, doch ihr wisst so gut wie ich, dass es bei Marks Geschäften manchmal ordentlich zur Sache geht. Ich fühle mich sicherer, seit ich die Pistole mit mir rumtrage. Selbstverständlich besitze ich einen Waffenschein.»

«Wusstest du von der Affäre zwischen Schoch und Michele?»

«Nein. Zuerst hielt ich es für einen Bluff, doch er kannte Details, die mich vom Gegenteil überzeugten.»

«Du weisst, was dich erwartet?»

«Lebenslänglich wegen Mordes.» Er stützte sein Gesicht in die Hände und fing an zu weinen. «Ich … ich würde es wieder tun, Nadine. Wenn … wenn ich mir vorstelle, wie er Leonie und unser Kind ermordet … Einen solchen Menschen kann man nicht stoppen.»

Ferrari schloss das Dossier und seufzte.

«Eine eindeutige Angelegenheit, Fabian Nader ist ausgerastet.»

«Wir hätten genauso reagiert … Allein diese Vorstellung ist grauenhaft und ich vermute, Schoch bluffte nicht. Schau dir seine Akte an. Gemäss Aussage des Vergewaltigungsopfers ging er total sadistisch vor. Ich erspare dir die Details. Und so ein Schwein lässt der Richter einfach laufen.»

«Nicht einfach, Herrschaften, sondern aus Mangel an Beweisen.» Staatsanwalt Borer war ohne Klopfen eingetreten. «Sein Kumpel gab ihm nämlich ein Alibi. Tja, so ist eben unser Rechtssystem.»

Borer behändigte die Akte Nader.

«Was soll das?»

«Nur nicht so aggressiv, Ferrari. Es müsste selbst Ihnen einleuchten, dass der Fall sonnenklar ist oder glauben Sie tatsächlich an einen anderen Täter?»

«Nein.»

«Na also, dann kann ich die Akte an Kollege Loosli übergeben.»

«Wie? Sie vertreten die Anklage nicht selbst?»

«Nein. Bei diesem Fall kann man sich keine Lorbeeren verdienen. Sollte Fabian Nader zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt werden, wird es einen Aufschrei in der Bevölkerung geben. Dafür werden gewisse Leute sorgen.»

«Die Sie nicht namentlich nennen wollen.»

«Sie habens erfasst, Frau Kupfer. Loosli wird also auf Totschlag plädieren und einen Deal mit dem Verteidiger aushandeln. Nader bekommt fünf bis acht Jahre und wird bei guter Führung nach zwei Dritteln entlassen. Damit ist dem Recht Genüge getan. Ein simpler Fall. Wenn Felix auf dem Richterstuhl sitzt, könnte es jedoch eine Überraschung geben.»

«Richter Kohler? Wieso?»

«Er ist ein guter Freund von Beat Rupf, der von Schoch abgeseilt wurde. Kohler wird Milde walten lassen. Vor allem auch, weil er Schoch damals wegen der Vergewaltigung laufen lassen musste.»

«Das zum Thema Gerechtigkeit.»

«Und das aus Ihrem Mund, Ferrari. Dem Mauschelbruder Nummer eins bei der Polizei. Wären Sie gestern zur Stelle gewesen, würden wir immer noch nach dem Täter fahnden.»

«Das ist …»

«Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Was machen Sie mit der Akte?»

«Die behalten wir. Die achtundvierzig Stunden sind noch nicht rum.»

«Ganz wie Sie meinen. Die junge Frau, die Schoch wegen Vergewaltigung anzeigte, wohnt übrigens immer noch in der Laufenstrasse, und wenn Sie sich beeilen, können Sie Richter Kohler im Strafgericht erwischen. Er bereitet seinen neusten Prozess vor und ist sicher bis vier im Gebäude.»

«Besten Dank.»

«Nichts zu danken. Ich bin selbst gespannt, welches Karnickel Sie aus dem Hut zaubern, um Ihren Freund zu retten. Ah ja, vergessen Sie nicht, Felix einen schönen Gruss von mir auszurichten, Frau Kupfer. Er kann schönen Frauen keinen Wunsch abschlagen, natürlich nur privat. Im Gerichtssaal ist er knallhart, aber fair.»

Beim Strafgericht mussten sie durch eine Sicherheitskontrolle und da der Alarm des Metalldetektors losging, wurde der Kommissär abgetastet. Dem Beamten war es sichtlich unangenehm, seinen Kollegen untersuchen zu müssen.

«Was versprichst du dir von dem Besuch?», erkundigte sich Nadine, die problemlos durch die Kontrolle kam.

«Richter Kohler steht auf schöne Frauen und du bist ein besonders attraktives Exemplar.»

«Aha. Ich soll ihn mit meinen Reizen bezirzen.»

«Exakt.»

Der kurz vor der Pensionierung stehende eitle Pfau strich seine grauen Haare glatt und fummelte an seiner Krawatte herum, als er Nadine sah.

«Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Frau Kupfer. Der Erfolg Ihrer Ermittlungstätigkeiten und der Ruf Ihrer Schönheit eilen Ihnen voraus.»

«Die Freude ist ganz meinerseits. Ich wollte schon lange den Strafgerichtspräsidenten kennenlernen. Das ist mein Chef, Kommissär Ferrari.»

«Seien Sie mir willkommen.»

Du eingebildeter Trottel!

«Wir stören hoffentlich nicht.»

«Ganz und gar nicht, Jakob kündigte Ihren Besuch an. Ich stecke in den Vorbereitungen eines kniffligen Falles. Leider darf ich nicht näher darauf eingehen.»

«Die schwierigen Fälle bleiben bestimmt alle an Ihnen hängen.»

«Das ist so. Die Komplexität geht oft an die Substanz und manchmal komme sogar ich an meine Grenzen. Ich bin halt auch nicht mehr der Jüngste.»

«Ich bitte Sie. Mit Anfang fünfzig sind Sie doch noch voll im Saft.»

«Fünfzig wäre schön. In drei Jahren gehe ich in den Ruhestand.»

«Das gibt man Ihnen aber nicht. Ich hätte Sie höchstens auf drei- oder vierundfünfzig geschätzt.»

Mir wird übel.

«Danke für das Kompliment. Was kann ich für Sie tun, Frau Kupfer? Oder wollen wir uns duzen?»

«Das wäre mir eine Ehre. Ich heisse Nadine.»

«Felix!»

«Gestern Nacht wurde Damian Schoch ermordet.»

«Ich weiss. Es ist immer bedauerlich, wenn jemand umgebracht wird. Aber bei allem Respekt, diesem Schoch weine ich keine Träne nach.»

«Wir kennen die Akte.»

«Dann weisst du auch, dass ich hundertprozentig sicher war, dass er Christine Oberer bestialisch folterte und vergewaltigte.»

«Und trotzdem musstest du ihn laufen lassen.»

«Nach den Buchstaben des Gesetzes. Der Staatsanwalt konnte das Alibi, das ihm Richard Widmer gab, nicht zerpflücken.»

«Du weisst noch sehr gut über den Fall Bescheid.»

«Allerdings. Es war einer meiner schwierigsten Fälle und die herbe Niederlage setzte mir zu. Damals zweifelte ich an unserem Rechtssystem. Auf der einen Seite die gebrochene Frau, die glaubhaft und mit stockender Stimme ihr schrecklichstes Erlebnis schilderte, auf der anderen ein überheblich grinsendes Monster, das wusste, dass es für sein Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Ich werde diese Verhandlung nie vergessen. Ich sass da und hörte geduldig zu. Plötzlich trat wie aus dem Nichts der Entlastungszeuge auf. Er leistete einen Meineid, alle im Gerichtssaal wussten es. Selbst der Verteidiger, der nach der Urteilsverkündigung um ein Gespräch mit mir bat. Unter vier Augen bestätigte er mir, dass er nicht an Schochs Unschuld glaubte. Christine Oberer brach nach dem Urteil zusammen, unter dem höhnischen Gelächter von Schoch. Ich kam mir so ohnmächtig vor. Das Recht und die Gerechtigkeit wurden vorgeführt.»

 

«Weisst du, wie es Frau Oberer geht?»

«Wir blieben eine Zeit lang in Kontakt. Sie erholte sich nur langsam von ihren Qualen. Vor gut einem Monat bin ich ihr das letzte Mal begegnet, rein zufällig in der Freien Strasse. Sie nickte mir kurz zu und verschwand in eine Boutique. Vermutlich arbeitet sie dort. Wollt ihr sie besuchen?»

Nadine blickte fragend zu Ferrari.

«Das wird nicht nötig sein.»

«Ich könnte mir vorstellen, dass der Tod von Schoch befreiend wirkt. Vielleicht gelingt es ihr endlich, in die Normalität zurückzufinden. Wenigstens ist dieser Richard Widmer nicht ungestraft davongekommen.»

«Der Zeuge mit dem falschen Alibi?»

«Ja, genau. Ein Kollege verurteilte ihn wegen Mordes an einer Prostituierten zu einer lebenslänglichen Haftstrafe. Er sitzt im Bässlergut.»

«Und Schoch ist tot. Die Gerechtigkeit hat auf Umwegen gesiegt.»

«Leider bleibt eine junge Frau auf der Strecke, die nicht mehr an unser Rechtssystem glaubt.»

Nadine nickte nachdenklich.

«Wieso befindet sich Widmer im Bässlergut? Normalerweise sitzen dort keine Schwerverbrecher.»

«Das stimmt. Er war auch in der Justizvollzugsanstalt Bostadel. Aufgrund guter Führung und eines sehr guten Gutachtens empfahl ein Psychologe, ihn in den offenen Vollzug zu überführen. Gleichzeitig suchte der Direktor vom Bässlergut einen Koch. So schlug ich vor, Widmer seine verbleibende Haftzeit im Bässlergut verbüssen zu lassen.»

«Was bestimmt allen Beteiligten entgegenkam. Darf ich dich um etwas bitten?»

«Ich soll den Prozess gegen Fabian Nader leiten», schmunzelte Kohler.

«Wirst du?»

«Das liegt nicht in meiner Hand.»

«Du bist der Strafgerichtspräsident.»

«Jakob kennt mich gut, zu gut. Ich kann einer intelligenten, attraktiven Frau nichts abschlagen. Versprechen kann ich nichts, aber ich werde mich darum bemühen. Fabian Nader beging eine Straftat und vollstreckte zugleich das Urteil, das Schoch schon längst verdient hatte. Die Gründe, die zur Tat führten, kommen hoffentlich vor Gericht zur Sprache. Mit grosser Wahrscheinlichkeit spielten dabei Schochs sadistische Neigungen eine Rolle. Jeder Richter wird dies beim Strafmass berücksichtigen. Darauf kannst du dich verlassen, Nadine.»

Der Kommissär trottete hinter den beiden her zum Ausgang. Nadine küsste Kohler auf beide Wangen.

«Ich habe mich sehr gefreut, dir zu begegnen, Felix.»

«Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Auf ein baldiges Wiedersehen. Einen schönen Tag noch, Herr Kommissär.»

«Wäh!»

«Ein total sympathischer Mann und für sein Alter gut in Form.»

«Du stehst ja auf alte Knacker», kaum ausgesprochen erwischte ihn ein Leberhaken. «Autsch, spinnst du?»

«Felix wird den Prozess führen und Fabian die Mindeststrafe geben. Borer ist uns immer einen Schritt voraus.»

«Es gefällt ihm, dass wir keinen anderen Täter präsentieren können.»

«Müssen wir auch nicht. Fabian wird die paar Jahre verkraften. Wir haben unser Möglichstes getan. Worüber denkst du nach?»

«Über Peter.»

«Willst du dich an ihm rächen?»

«Immer, aber das ist es nicht. Du hast doch Schoch gesehen, oder?»

«Nicht gerade ein Anblick, der für euch Männer spricht. Ein ausgemergeltes Wrack.»

«Wie weit ist es von der Langen Gasse zum Aeschenplatz?»

«Was weiss denn ich. Alle sagen, einige Hundert Meter.»

«Lass uns die Strecke ablaufen.»

«Was soll das bringen?»

«Ich will die Strecke selber ablaufen.»

«Was kommt jetzt? Der grosse Unbekannte, der Schoch erschossen hat? Wohlgemerkt mit der Pistole von Fabian …»

Kurz darauf parkierte Nadine ihren Porsche in der Langen Gasse. Sie liefen die Strecke zum Aeschenplatz zweimal ab, Nadine verlor langsam die Geduld.

«Noch ein weiterer Versuch? Willst du mir beweisen, dass du dein iPhone beherrschst, vor allem die Stoppuhr?»

«Hier hinter dem Hammering Man lag Schoch. Von der Strasse aus ist dieser Ort nicht gut sichtbar und Passanten sind ihm bestimmt ausgewichen, weil sie ihn für einen Betrunkenen hielten. Von Naders Büro bis hierher brauchen wir fünf Minuten, wenn wir ganz normal laufen. Schoch war schwer verletzt und schleppte sich mühsam vorwärts.»

«Und was schliesst Sherlock Ferrari daraus?»

«Ein verladenes und ausgemergeltes Wrack bricht spätestens auf halber Strecke zusammen.»

«Tatsache ist, dass er hinter dem Hammering Man lag.»

«Was er meiner Meinung nach nur konnte, wenn er nicht so schwer verletzt war.»

«Ach so, jetzt kann ich dir folgen. Du meinst, jemand ist ihm gefolgt und hat ihn erschossen. Ist das nicht etwas weit hergeholt?»

«Nader weiss nicht mehr, ob er einmal oder zweimal schoss.»

«Diese wacklige Theorie willst du aber nicht Borer servieren, oder? Die nehme nicht einmal ich dir ab.»

«Es könnte so gewesen sein.»

«Gut, nehmen wir an, du hast recht. Woher wusste der dritte Mann, wo sich Schoch aufhielt? Und schoss er rein zufällig mit demselben Kaliber?»

«Guter Einwand. Fragen wir unseren Freund, den Leichenfledderer.»

Peter Strub sass vor dem Computer und schrieb fluchend einen Protokollbericht. Hoch konzentriert tippte er mit zwei Fingern Buchstabe um Buchstabe ein. Als ihm Ferrari eine Hand auf die Schulter legte, schrie der Polizeiarzt vor Schreck auf und fuhr aus seinem Bürostuhl hoch.

«Huhu! Ich bin ein lebender Toter aus einer deiner Kammern.»

«Das … Verdammt noch mal, was schleichst du dich so an?»

«Jetzt wissen wir wenigstens, was wir dir zum Dienstjubiläum schenken können: einen Tastaturschreibkurs.»

«Diese elenden Protokolle zerren an meinen Nerven.»

«Für uns?»

«So weit sind wir noch nicht, der Verstorbene im Altersheim hat Vortritt.»

«Mord?»

«Ein Herzinfarkt. Was wollt ihr denn jetzt schon wieder?»

«Nur eine klitzekleine Frage stellen. Könnte es sein, dass Schoch mit zwei verschiedenen Pistolen erschossen wurde?»

«Unwahrscheinlich. Ist das wieder eine seiner verrückten Theorien?», wandte sich Strub an Nadine.

«Du hast es erfasst, aber wir sollten ihm seinen Spass lassen. Was hältst du davon?»

«Mitkommen.»

Strub verliess sein Büro und ging in den Obduktionssaal.

«Ich muss noch schnell zur Toilette.»

«Du weisst ja, wo sie ist. Komm mit, Nadine, das schafft er noch knapp allein. In ein paar Jahren sieht es wohl anders aus.»

Im Saal war einer von Strubs Assistenten gerade dabei, die Instrumente zu sterilisieren.

«Hier herrscht absolute Reinheit, jedes einzelne Teil ist steril. Das ist für unsere Arbeit zentral. Ah, da kommt ja unser Mann mit der schwachen Blase. Jetzt kannst du nochmals deine abstruse Theorie äussern. Paul, komm bitte kurz her, Francesco will uns etwas fragen.»

«Wurde Schoch mit zwei verschiedenen Pistolen ermordet?»

«Nun, was sagst du dazu, Paul?» Strub lächelte zynisch.

«Gut möglich.»

«Wie bitte?»

«Ich wollte noch mit dir darüber reden, Peter. Ich bin mir eben nicht sicher.»

Irritiert sah der Gerichtsmediziner zu Nadine.

«Sind denn heute alle verrückt?»

«Lass den Toten zugedeckt», rief der Kommissär.

«Keine Angst. Er ist wieder zugenäht.»

Ferrari atmete erleichtert auf.

«Darf ich jetzt?»

«Von mir aus.»

«Tätärätä!» Strub zog theatralisch das Lacken vom Toten, der an verschiedenen Stellen aufgeschnitten war.

«Halt ihn fest, Paul!», schrie Nadine.

Ferrari verdrehte die Augen, schwankte und fiel Strubs Assistenten in den Arm.

«Legen wir ihn neben Schoch auf den Schragen … Eins, zwei, drei … So kann er wenigstens nicht ständig dazwischenquatschen. Wie kommst du auf eine zweite Pistole?», wandte sich Strub an seinen Assistenten.

«Der erste Schuss hinterliess eine ziemlich kleine Wunde.»

«Das hängt damit zusammen, dass Schoch sich bewegte. Vermutlich drehte er sich ab.»

«Das schon, aber schau dir die zweite Verletzung an. Das Einschussloch ist bedeutend grösser.»

«Stimmt. Und bei dieser Wunde ist es ein feiner Durchschuss. Francesco liegt ausnahmsweise richtig.»

«Im wahrsten Sinn des Wortes.»

«Weichei!»

«Das ist sogar für mich an der Grenze.»

«Unser Alltag … Gute Arbeit, Paul. Wecken wir den Schlappi auf.»

Strub klopfte dem Kommissär auf die Wangen.

«Das könnte ich stundenlang wiederholen.»

«Wo … Der Tote … ist er zugedeckt?»

«Ja, ist er. Keine Sorge. Vorsichtig, sonst purzelst du noch runter und brichst dir das Genick.»

Paul half dem zittrigen Kommissär auf die Beine.

«Deine Theorie war richtig. Er wurde durch zwei verschiedene Kugeln umgebracht. Willst du sehen, wie wir es herausgefunden haben?»

«Lass gut sein. Einmal pro Tag reicht mir.»

«Als Schmerzensgeld steht in meinem Büro ein Kaffee für dich bereit.»

Mit jedem Schluck spürte Ferrari, wie die Lebensgeister ein Stück mehr zurückkehrten. Wunderbar, dieser Kaffee.

«Das bedeutet, Nader ist nicht unser Mörder. Sein Schuss war nicht tödlich.»

«Der Steckschuss verletzte kein wichtiges Organ. Mit dieser Verletzung wäre er locker durch ganz Basel spaziert.»

«Sehr schön», frohlockte Ferrari. «Komm, Nadine, wir fragen Nader, wer von dem Termin wusste.»

«Aha, der Chef weilt wieder unter den Lebendigen.»

«Beehrt uns jederzeit gerne wieder. Es war mir ein besonderes Vergnügen.»

«Hm!»

Also doch. Ich wusste, dass der Fall nicht so einfach ist. Zufrieden liess sich Ferrari auf den Recarositz fallen.

«Hey! So ruinierst du mir den Sitz. Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, du sollst dich nicht wie ein Mehlsack in den Sitz plumpsen lassen. Beim letzten Porsche musste ich zweimal den Sitz reparieren lassen.»

«Kauf dir ein anständiges Auto, in das ich ganz normal einsteigen kann.»

«Mir gefällt mein Porsche.»

«Nader ist kein Mörder, was zu beweisen war.»

«Stellt sich die Frage, wer dann?»

«Das wird uns hoffentlich Nader sagen.»

«Wieso lachst du?»

«Ich war nicht auf der Toilette.»

«Sondern?»

«Ich habe mir erlaubt, einige Änderungen in Peters Bericht anzubringen. Es ist nun der Report eines Mannes, der nicht mehr alle Knochen am Skelett hat.»

«Was?!»

«Der Empfänger wird unseren Gerichtsmediziner in die Psychiatrische einliefern lassen.»

«Ihr zwei seid unmöglich. Man müsste euch in eine Gummizelle sperren.»

«Hört, hört!»

Fabian Nader war erstaunt, als sie ihn nochmals in Ferraris Büro brachten. Ein Funke Hoffnung blitzte in seinen Augen.

«Wir haben noch ein paar Fragen, Herr Nader. Wann genau vereinbarten Sie den Termin mit Schoch?»

«Gestern Nachmittag, sagte ich das nicht schon? Als er mich anrief, war ich ziemlich genervt, weil ich mitten in wichtigen Sitzungsvorbereitungen steckte.»

«Um was ging es in dieser Sitzung?»

«Es handelt sich um eine Stiftung … Sie heisst Nothilfe Kind und es geht darum, Kinder zu beschützen. Vor allem vor häuslicher Gewalt. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel Elend es bei uns gibt.»

«Wie sieht eure Hilfe konkret aus?», erkundigte sich Nadine.

«Finanzielle Hilfe und psychologische Begleitung. Manchmal auch …»

«Durch sanften Druck.»

«Ja. Wenn ich mit legalen Mitteln nicht weiterkomme, greife ich manchmal auf das Beziehungsnetz von Mark und Chris zurück. Das ist zwar nicht die feine Art, doch ich hasse Menschen, die sich an den Schwachen und Wehrlosen vergreifen und deren Abhängigkeit ausnutzen.»

«Und wie oft war das bisher der Fall?»

«Bis jetzt nur zweimal und dies ohne Wissen meiner Stiftungskollegen. Ich glaube nicht, dass sie mit meinem Vorgehen einverstanden wären. In unserem Vorstand sitzen Ökonomen, Ärzte, Lehrer, Anwälte und sogar ein Richter.»

«Man weiss nie. Ich kenne sogar einen Kommissär, der deine kriminellen Aktionen absegnen würde.»

«Hm! Wie erfahren Sie von den Missständen?»

«Vor allem durch die Ärzte und die Lehrer. Es spricht sich herum, dass wir für die Kids da sind. Jetzt, wo Leonie schwanger ist, bedeutet mir die Stiftung noch mehr. Wir erbten ein ziemlich grosses Haus, ein Legat, das soll nun ein Zufluchtsort für Frauen und Kinder werden. Eine Art Frauenhaus mit Betreuung und einer Rund-um-die-Uhr-Bewachung, damit die Untergebrachten absolut sicher sind. Gestern ging es um den Kredit für den Umbau.»

 

«Und?»

«Wir bekommen das Geld von der Bank und das notwendige Eigenkapital steuern wir bei.»

«Das klingt toll. Und während deinen Sitzungsvorbereitungen wurdest du von Schoch gestört, der nicht lockerliess?»

«Korrekt.»

«Wer wusste von eurem Treffen?»

«Ich und Jake.»

«Marks Geschäftsführer?»

«Er ist mehr als das. Jake koordiniert den ganzen Sicherheitsdienst von Chris’ und Marks Lokalen. Der hat richtig was auf dem Kasten. Er ist einer meiner besten Freunde.»

«Warum hast du ihn über das Treffen mit Schoch informiert?»

«Ihr kennt Mark, wir nennen ihn ja alle nur den Boss. Er hasst nichts mehr als Alleingänge. Ich wollte mich wenigstens mit Jake absprechen, immerhin ist er sein Stellvertreter. Er fand die Idee gut und fragte mich, wo ich ihn treffe. Das verschwieg ich ihm, denn ich wollte nicht, dass er plötzlich auftaucht.»

«Sonst jemand?»

«Nein. Leonie wollte ich damit nicht belasten. Die Sitzung dauerte bedeutend länger als geplant. Schoch war ganz schön sauer, als ich ihn in einer kurzen Pause anrief. Vermutlich dachte er, dass ich ihn hinhalte. Aber der Bankberater war extrem kompliziert und stellte hartnäckig seine Fragen, bis Emil Schwander der Kragen platzte.»

«Der Chefarzt?»

«Sie kennen ihn, Herr Kommissär?»

«Er ist ein guter Freund meiner Lebenspartnerin Monika Wenger. Nicht ganz pflegeleicht, würde ich sagen.»

«Das unterschreibt der Bankmann sofort. Emil drohte ihm mit einer anderen Bank und dass er sich beim Bankpräsidenten über ihn beschweren werde.»

«Das klingt nach Emil.»

«Daraufhin einigten wir uns verhältnismässig schnell.»

«Das heisst, Jake …»

«Förster.»

«Jake Förster wusste zwar von dem Termin, kannte aber weder die genaue Zeit noch den Ort.»

«Ja. Warum interessiert Sie das?»

«Wir haben eine vage Theorie, die noch nicht spruchreif ist. Mehr können wir leider nicht verraten.»

«Wir tasten uns langsam heran.»

«Glaubst du, Jake lag auf der Lauer und erledigte Schoch mit einem zweiten Schuss? Das wird Mark nicht gefallen.»

«Er kann wählen, entweder sein Schwiegersohn oder sein Geschäftsführer. Für wen entscheidet er sich?»

«Wie ich Mark kenne, für beide.»

«Ah, Sie sind noch da. Wieso erstaunt mich das nicht? Genau. Stecken persönliche Interessen dahinter, leistet der Herr Kommissär sogar Überzeit. Und, wer ist nun der Mörder?», Borers sarkastischer Unterton war nicht zu überhören.

«Das wissen wir noch nicht, doch wir sind ihm auf der Spur.»

«Aha.»

«Schoch wurde mit zwei verschiedenen Pistolen erschossen.»

«Ist nicht wahr!!!»

«Nader verletzte ihn nur leicht. Er rannte davon und wurde beim Hammering Man vom wirklichen Täter niedergestreckt.»

«Interessant.»

«Der Täter lag sehr wahrscheinlich auf der Lauer. Als Schoch verletzt aus dem Haus von Nader schwankte, folgte er ihm.»

«Beeindruckend.»

«Wir werden den wirklichen Täter fassen und Ihnen bald präsentieren.»

«Hervorragend. Wann kann ich damit rechnen?»

«Spätestens morgen Abend.»

«Ausgezeichnet. Ich gratuliere Ihnen, Ferrari.»

«Danke.»

«Dann wünsche ich allseits einen geruhsamen Feierabend, Herrschaften. Einfach genial, wie unser Kommissär auch die höchsten Hürden mit einer Leichtigkeit sondergleichen überspringt. Besser und schneller als Karsten Warholm. Was heisst Hürden? Er versetzt ganze Berge zum Wohle der Menschheit.»

Das schallende Gelächter des Staatsanwalts hallte im ganzen Kommissariat.

«Was sollte denn das?»

«Borer wird immer seltsamer. Soll ich dich nach Hause fahren?»

«Nein, danke. Ich nehme den Dreier. Dem wird sein Lachen noch vergehen.»

Der Dreier bremste abrupt und fuhr nun im Schritttempo auf die Haltestelle zu. Eine ältere Frau war nur dank des blitzartigen Eingreifens zweier Schülerinnen nicht vom Tram erwischt worden. Doch anstatt sich für ihre Unvorsichtigkeit zu entschuldigen, drohte sie dem Tramchauffeur mit der Faust. Eine verkehrte Welt. Ferrari stieg kopfschüttelnd ein. Wie immer zu Stosszeiten waren fast alle Sitzplätze belegt. Mit Wehmut dachte Ferrari an früher. Da gab es noch Tramzüge mit Anhängewagen und sein Lieblingsplatz befand sich im hintersten Wagen vorne rechts. Tja, wie heisst es so schön: Das einzige Beständige ist der Wandel. Die Fahrt verlief ohne weitere Störungen. An der Endstation überquerte der Kommissär die Strasse und ging durch ein Waldstück nach Hause. Aus dem Garten vernahm er Frauenstimmen. Oh nein, Hexenbasar! Aber heute ist doch nicht Donnerstag. Sehr seltsam. Da stimmt etwas nicht. Monika hätte mich ruhig vorwarnen können, dass ihre Freundinnen ausnahmsweise am Dienstagabend zu uns kommen. Am Anfang trafen sie sich immer am ersten Donnerstag im Monat, dann wurde es plötzlich jeden Donnerstag. Hm, am besten ich kehre um und bleibe eine oder zwei Stunden im Dorf oder tauche bei einem Nachbarn unter. Puma, die kleine schwarze Katze, begrüsste ihn lautstark und schmiegte sich an seine Beine. Pst, kleine Maus. Zu spät! Eine der Hexen ist bereits auf uns aufmerksam geworden.

«Francesco ist da! Oh, wie schön.»

Die nächste halbe Stunde war gelaufen. Ferrari liebte es zwar, von attraktiven Frauen umgarnt zu werden, aber die Ansammlung von akademischen Intelligenzbestien war über seinen Verhältnissen. Ein Glas Wein hier, ein Häppchen da, selbstgemacht versteht sich, dann ein Stück Kuchen, eine Eigenkreation von Stefanie, obwohl sie eigentlich keine freie Minute hat, weil sie im Moment an der Uni voll ausgelastet ist. Alles untermauert mit passenden, meistens lateinischen Zitaten oder sonstigen überkandidelten Bemerkungen. Und mittendrin Monika, die das Ganze in vollen Zügen geniesst.

«Noch ein Stück Kuchen?»

«Danke, ich bin randvoll. Wieso trefft ihr euch heute? Normalerweise kommt ihr doch am Donnerstag zusammen.»

«Krisensitzung!»

Ferrari schaute überrascht von seinem Teller auf.

«Was für eine Krisensitzung, Sandra?»

«Soll ich es ihm sagen?»

Die Hexen sassen stumm am Tisch. Diese Ruhe, dass ich das noch erleben darf. Ich höre sogar Pumas Schmatzen aus der Küche.

«Vielleicht kann er uns helfen. Er ist schliesslich Kommissär.»

Drei, vier, fünf. Es fehlen zwei. Nadine und?

«Wo ist Cloe?», die mag ich von allen am besten. Bei der fühl ich mich nicht wie ein Volltrottel.

«Wissen wir nicht.»

«Was heisst das? Du steckst doch immer mit ihr zusammen, Li.»

«Seit unserem letzten Treffen meldet sie sich nicht mehr.»

«Bei niemandem von uns. Ich war sogar bei ihr zu Hause. Philipp weiss auch nicht, wo sie ist.»

«Ich verstehe euch richtig, Cloe ist seit letztem Donnerstag verschwunden und niemand weiss, wo sie ist? Hattet ihr eine Auseinandersetzung?»

«Nein. Wir streiten nie.»

«Was ist mit Philipp?»

«Er war an einem Zahnärztekongress in Hamburg. Er ist erst gestern Abend zurückgekommen. Offenbar telefonierten sie jeden Tag und alles schien in bester Ordnung. Als er gestern nach Hause kam, war Cloe nicht da.»

«Sie ist verschwunden.»

«Blödsinn. Cloe verschwindet nicht einfach, Stefanie.»

«Eigenartig. Und niemand hatte seit letztem Donnerstag Kontakt zu ihr?»

«Mir schrieb sie am Freitag eine Whatsapp. Willst du sie sehen?» Birgit hielt dem Kommissär ihr iPhone hin.

«Bin extrem müde. Brauche ein Timeout … Stress mit Phil? … Es wächst mir alles über den Kopf … Kann ich dir helfen? … Ich komm klar, aber danke … Wir sind für dich da, wenn du uns brauchst.»

Die Korrespondenz endete mit einem Herz, einem lachenden und zwei weinenden Smileys.

«Wo wohnen sie?»

«In der Maulbeerstrasse im Haus ihrer Eltern. Nicht gerade meine liebste Gegend, aber Cloe gefällts.»

Die Hexen schauten den Kommissär erwartungsvoll an.

«Ich unterhalte mich mit Philipp. Dass Cloe alles hinwirft und abhaut, passt nicht zu dem Bild, das ich von ihr habe.»

«Wir begleiten dich.»

«Lieber nicht. Ein Grossaufgebot ist meist nicht effizient.»

«Glaubst du, dass Phil sie festhält?»

«Vielleicht liegt sie gefesselt im Keller.»

«Oder sie ist bereits tot.»

«Dann rächen wir sie. Wir foltern ihn, bis er um Gnade winselt.»

«Nun mal langsam. Bevor hier jemand massakriert wird, sollten wir ein vernünftiges Gespräch mit dem potenziellen Täter führen. Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung. Ihr bleibt jetzt ruhig hier sitzen. Monika, wo sind die Autoschlüssel?»