Der Gesang des Todes

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2. Kapitel

Der Kommissär sass in der Küche vor einem Glas Alka-Seltzer.

«Hallo, Paps.»

«Ciao, Nikki. Ist Mami schon wach?»

«Ja, aber schlecht gelaunt.»

«Das ist meine Schuld … Guten Morgen, Monika.»

«Wegen Paps?», Nikki sah ihre Mutter fragend an.

«Er soll es dir selber sagen.»

«Hm.»

«Dann halt nicht – wir waren zusammen im Theater.»

«Das habe ich gelesen.»

Ferrari suchte nach der Zeitung. Wie wild blätterte er den Regionalteil durch.

«Online», präzisierte Nikki. «Was war denn so schlimm im Theater? Ausser dieser Mord an der Sängerin.»

«Das steht auch schon drin?»

«Sicher.»

Puma, ihre schwarze Katze, brachte sich vorsichtshalber unter dem Tisch in Sicherheit.

«Eigentlich nichts Besonderes. Dein Vater ist bloss während der Oper eingeschlafen und lief dann, schön ausgeruht, in der Kunsthalle zur Hochform auf, wo er sich volllaufen liess. Mit Agnes und Sabrina Vischer. Die weltbekannte Sängerin Maria Racco schickte sogar eine Karte in die Kunsthalle und entschuldigte sich dafür, dass sich Francesco langweilte. Ist das nicht nett?»

«Cool!»

«Und zum Schluss brachten ihn seine Kollegen lallend nach Hause. Aber sonst ist nichts passiert.»

«Schrei doch nicht so.»

«Ich schreie, wann und wo ich will. Du nimmst schliesslich auch keine Rücksicht auf mich.»

Monika griff nach ihrer Handtasche und schlug die Küchentür hinter sich zu.

«Oh, oh! Das kostet dich mindestens ein Essen im Schloss Binningen und einen riesigen Blumenstrauss.»

«Hm!»

Im Büro blätterte der Kommissär gedankenversunken in den Akten. Ja, gut. Es war ein Glas zu viel … Ich muss endlich mit dieser Sauferei aufhören. Monika ist zu Recht sauer auf mich, hoffentlich verzeiht sie mir. Vielleicht würde sie ein romantisches Wochenende zu zweit auf andere Gedanken bringen. Ein Wellness-Wochenende im schönen Schwarzwald oder gemütliches Wandern und feines Essen im Jura.

«Guten Morgen, Chef. Schon wach und munter?»

«Wach schon, von munter weit entfernt.»

«Tja, der Alk fordert seine Opfer.»

«Nie mehr Champagner, ich versprechs hoch und heilig.»

«Bis zum nächsten Treffen mit Agnes und Sabrina.»

«Erwähn sie nicht. War es wirklich so schlimm? Ich habe einen Filmriss.»

«Also für die Kunsthalle wart ihr ein Segen. Ihr habt ihnen den Jahresumsatz gerettet.»

«Blödsinn!»

«Olivia wird dir oder wohl eher ihren Schwestern sicher gern die Rechnung präsentieren. Sie meinte nur, ihr hättet einen Teil der Benefizeinnahmen versoffen.»

«Oje …»

«Mach dir keine Gedanken. Das war es den beiden Schwestern sicher wert. Ich befürchte nur, Monika wird auch noch das eine oder andere Wort an dich richten.»

«Wenn sie überhaupt noch mit mir spricht.»

«Einen schönen guten Morgen, Herrschaften.»

«Sie haben mir gerade noch gefehlt, Herr Staatsanwalt.»

«Oh! Noch leicht beschwipst nach der Orgie in der Kunsthalle?»

«Sie wissen es auch schon?»

«Ganz Basel weiss es. Hier, bitte!»

Staatsanwalt Jakob Borer zeigte auf einen Zeitungsartikel der «Basler Zeitung». Missmutig las der Kommissär die Zeilen. Der Journalist lobte die Benefizveranstaltung in den höchsten Tönen und pries die hervorragende Stimme von Maria Racco. Untermalt wurde der Text von einer Doppelseite mit Promibildern. Mitten drin war ein Foto mit den Vischer-Schwestern und dem Kommissär, der eine Champagnerflasche in der Hand hielt. In der Legende stand: «Agnes und Sabrina Vischer vergnügten sich am Benefizanlass ihrer Schwester Olivia mit dem Basler Kommissär Francesco Ferrari.»

«Was heisst hier denn vergnügten sich? Das klingt beinahe so, als ob wir einen Dreier geschoben hätten.»

«Sie hinterlassen keinen besonders traurigen Eindruck auf dem Foto», antwortete Borer. «Vergnügt ist wohl sogar untertrieben. Wir würden Sie das bezeichnen, Frau Kupfer?»

«Wenn sie einmal von der Angel gelassen werden, dann krachen die Korken.»

«Echt peinlich. Wenn ich mir vorstelle, dass einer meiner Parteifreunde mich so sehen würde …»

«Ja, ja, schon gut.»

«Andererseits ist Ihre Begleitung nicht zu verachten. Es sind immerhin Agnes und Sabrina Vischer. Mit ihnen …»

«Könnten wir bitte das Thema wechseln?! Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen und wir müssen einen Mord aufklären.»

«Allerdings. Immerhin sind Sie wach. Das ist eine erhebliche Steigerung.»

«Was heisst das denn nun wieder?»

«Es wird Ihnen entgangen sein, dass Sie gestern Ihren Einsatz im wahrsten Sinn des Wortes verpennt haben. In der Garderobe der Toten sassen Sie schnarchend auf einem Stuhl, wie mir berichtet wurde. Und anschliessend liessen Sie sich noch auf Staatskosten nach Hause kutschieren.»

«Das war meine Idee», gestand Nadine.

«Nicht weiter tragisch, Frau Kupfer. Schliesslich sind die uniformierten Kollegen da, um betrunkene Kommissäre mit dem Streifenwagen nach Hause zu fahren. So werden unsere Steuergelder sinnvoll eingesetzt.»

«Ist ja gut, ich habe es kapiert. Ich möchte nicht wissen, wie viele Spesen Sie im Laufe eines Jahres bei diesen unzähligen Banketten machen. Die werden auch von den Steuerzahlern berappt und wahrscheinlich müssen wir tief in die Tasche greifen, um das alles zu finanzieren.»

«Das ist doch eine …»

«Frechheit? Wie viel verdient ein Regierungsrat?»

«Das weiss ich doch nicht. Ich vermute etwa zweihunderttausend Franken.»

«Hier stehts schwarz auf weiss», Ferrari wedelte mit der Zeitung. «Mindestens dreihunderttausend. Dafür arbeiten Nadine und ich mehr als zwei Jahre.»

«Arbeiten ist gut. Sie verkriechen sich hinter Ihrem Schreibtisch und lösen ab und zu mit der gütigen Hilfe Ihrer Kollegin und mit sehr viel Glück einen Fall, während ein Regierungsrat von Termin zu Termin jagt, über keinerlei Freizeit verfügt und immer zum Wohl der Bevölkerung handelt.»

«Zum Wohl der Bevölkerung! Da lachen ja die Hühner. Die stopfen sich doch bei jedem Anlass nur den Ranzen voll und plappern irgendwelchen Mist, um zu gefallen. Und dafür kriegen sie dreihunderttausend Franken. Wahnsinn. Was verdienen Sie eigentlich?»

«Ich? Das geht Sie überhaupt nichts an.»

«Können wir diese fruchtbare Diskussion beenden, meine Herren?»

«Er hat angefangen», der Staatsanwalt zeigte auf den Kommissär. «Sie sitzen ganz schön auf dem hohen Ross, Ferrari. Beleidigen unsere Regierung und mich dazu. Sie glauben wohl, dass Sie sich alles leisten können, nur weil Ihnen die beiden Vischer-Schwestern den Rücken stärken.»

«Olivia auch.»

«Ganz recht, Frau Kupfer.»

«Und Ines Weller.»

«Stimmt. Ich weiss gar nicht, weshalb die alle einen Narren an Ihnen gefressen haben.» Borer blickte zu Nadine. «Moment mal! Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände. Sie ziehen das Ganze ins Lächerliche.»

«Ich bitte Sie, Herr Staatsanwalt. Ich wollte nur die Damen der Gesellschaft aufzählen, die Francesco lieben.»

«Soso. Beenden wir diese sinnlose Diskussion. Hier sind die gewünschten Ordner, Frau Kupfer.»

«Vielen Dank.»

«Und gehen Sie vorsichtig damit um. Am besten, Sie halten diese Unterlagen von Ihrem werten Chef fern. Der ist imstande und leert einen Becher Kaffee darüber.»

«Ich werde ihm nur Fotokopien zeigen, versprochen.»

«Ihr Gesichtsausdruck beruhigt mich überhaupt nicht.» Er lehnte sich über den Schreibtisch. «Da steckt jahrelange Arbeit drin. Ist das klar?»

«Sicher», der Kommissär rückte mit seinem Stuhl etwas zurück.

«Ich will die Ordner unversehrt zurück. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?»

Borer drückte sich an Nadine vorbei zur Tür. «Und wir sprechen uns noch, Ferrari. Glauben Sie ja nicht, dass Sie sich als Beamter solche Sprüche ungestraft leisten können. Vischers und Wellers hin oder her. Herrschaften, man sieht sich.»

«Der spinnt doch! Was zum Teufel hat es mit diesen Ordnern auf sich? Was ist da drin?»

«Zeitungsartikel über Maria Racco.»

«Ziemlich umfangreich. Wie konntet ihr eine solche Sammlung in dieser kurzen Zeit auftreiben?»

«Big Georg gab mir den Tipp, sie stammt von Marias grösstem Fan.»

«Ist nicht wahr! »

Ferrari vertiefte sich in die beiden Ordner. Beeindruckend, vermutlich hat Jakob Borer jeden Zeitungsartikel, den es je über die Sängerin gab, ausgeschnitten und säuberlich auf ein Blatt Papier geklebt. Irgendwie rührend und antiquiert zugleich. Achtundvierzig ist sie geworden, das ist viel zu jung, um zu sterben. Eine verrückte Welt. Ihren ersten Auftritt hatte sie in ihrer Heimatstadt Basel im Hans Huber-Saal zusammen mit Montserrat Caballé. Immer, wenn der Kommissär den Namen Caballé las oder hörte, dachte er an den unvergesslichen Freddie Mercury und ganz speziell an den Song «Barcelona». Das waren noch Zeiten … Nach diesem ersten grossen Auftritt stockte die Karriere der jungen Racco und so versuchte sie ihr Glück im Ausland. Berlin, Dresden, Wien und Mailand hiessen die Stationen. Dann endlich, an der Seite von Placido Domingo folgte an der Met Opera in New York der ersehnte Durchbruch. Und siehe da, plötzlich wurde man in ihrer Heimatstadt auf sie aufmerksam. Ferrari blätterte weiter. Hochzeitsfeier im Basler Münster … den kenn ich doch. Das ist dieser Basler Schauspieler Martin Hoffmann. Interessant. Ich wusste gar nicht, dass sie mit dem verheiratet war. Wann habe ich Hoffmann zum letzten Mal gesehen? Ach ja, in dieser Schweizer Tragödie aus den Bergen. Er spielte in einer Nebenrolle, was offenbar sein Schicksal ist. Denn wirklich erfolgreich war er nie. Ah, sie haben zusammen eine Tochter. Tamara ist jetzt … Ferrari rechnete kurz nach … zwölf Jahre alt. Die Ehe hielt gerade mal drei Jahre, sofern man diesen Zeilen glauben kann. Sinnigerweise wurde wiederum das Hochzeitsfoto abgebildet, nur dieses Mal auseinandergeschnitten. Was folgte, war eine einzige Schlacht um das Sorgerecht. Hoffmann warf Racco vor, keine Zeit für die Erziehung der Kleinen zu haben. Sie sei immer unterwegs, die Kleine würde dabei auf der Strecke bleiben. Maria konterte, ihr Ex-Mann sei ein schlechter Vater mit Hang zum Alkohol und Affären. Stimmt, da war doch was … Genau, Hoffmann wurde eine Affäre mit einem Topmodel nachgesagt. Das ging damals durch die Presse. Maria Racco gewann den Rosenkrieg, Tamara wurde ihr zugesprochen. Vermutlich die bessere Entscheidung. Ferrari legte den ersten Ordner zur Seite. Unser Staatsanwalt, ein heimlicher Verehrer der Operndiva. Wer hätte das gedacht. Auch nicht gerade fair von unserem Chef der Fahndung, dass er Borers Leidenschaft ausplaudert. Aber uns kommt es zugute. Im zweiten Ordner reihten sich die Grosserfolge aneinander. Maria Racco pendelte zwischen Mailand, Wien und New York hin und her. Irgendwie ist die vollkommen an mir vorbeigegangen. Gut, ich bin kein Opernfan, aber trotzdem. Hm. Zwischendurch trat Racco immer wieder an Benefizveranstaltungen auf, meistens zugunsten eines Kinderhilfswerkes. UNICEF-Botschafterin war sie auch. Ein Foto zeigte sie gemeinsam mit ihrer Tochter in einem Flüchtlingslager in Nigeria. Über ihr Privatleben gaben die Zeitungsartikel wenig her. Anscheinend lebt Tamara hauptsächlich bei ihrer Grossmutter auf dem Bruderholz. Da, ein Bericht über den Kauf einer Liegenschaft. Ziemlich feudal! In der Bildlegende stand: «Diese Villa ist ein Geschenk von Maria Racco an ihre Mutter.» Wow. Dazu ein bissiges Interview mit Martin Hoffmann, der über die Basler Gerichte lästerte, die es zuliessen, dass seine Tochter von der Ex-Schwiegermutter erzogen würde. Nach einem Versuch, in die Villa der Familie Racco einzudringen, wurde ihm verboten, sich dem Haus auch nur auf hundert Meter zu nähern. Drastische Massnahme, aber das Gericht wird seine Gründe haben.

 

«Nun, sind wir klüger?»

«Maria Racco war ziemlich erfolgreich. Ein Weltstar. Ich kannte sie überhaupt nicht.»

«Opern sind ja auch nicht dein Metier. Wenn sie Fussballerin wäre, würdest du sie mit Sicherheit kennen.»

«Vielleicht. Leider wird Frauenfussball weit unter seinem Wert verkauft. Die Medien springen nicht wirklich an und auch die Sponsoren machen sich rar. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Denn …»

«Eine beeindruckende Karriere.»

«Ja, sie trat in allen grossen Häusern der Welt auf. Sogar in Basel.»

«Doch nicht mehr oft. Nur noch zu Sonderaufführungen wie gestern.»

«Vielleicht war sie auch etwas eingeschnappt.»

«Irgendwie kann ich das verstehen. Es ist wie mit dem Propheten im eigenen Land.»

«Nichts ohne Ausnahme. Da gibt es einen Artikel in der NZZ von Teddy Stalder, einem Professor an der Uni Basel, den ich vor Jahren kennenlernte, er schrieb, dass Maria ein Jahrhunderttalent sei.»

«Ein Experte?»

«Ja, ich denke schon. Er ist Musikwissenschaftler und Hobbydirigent, aber anscheinend ziemlich gut.»

«Offenbar wurde er hier in Basel nicht gehört.»

«Hier ist der Artikel, ich lese dir kurz die Stelle vor. ‹Maria Racco wird ihren Weg machen. Vermutlich führt dieser über die Bühnen der Welt und nicht über die unserer Stadt, weil die Kleingeister unseres Kulturwesens wahre Talente nicht erkennen oder nicht erkennen wollen. Sie sind dem Mittelmass verpflichtet. Sobald nämlich eine überragende Basler Persönlichkeit in Erscheinung tritt, fürchten sie um ihren Einfluss. Leider wird dadurch die Schere zwischen Einfluss und Geld auf der einen und Besucherzahlen und Qualität auf der anderen Seite immer weiter auseinanderklaffen.›»

«Ziemlich heftig, was er da sagt. Wann war das?»

«Vor zehn Jahren.»

«Das trifft aber heute nicht mehr zu. In der letzten Saison betrug die Auslastung fast siebzig Prozent.»

«Das wundert mich.»

«Sagt einer, der in den letzten hundert Jahren ein einziges Mal das Theater besuchte, und zwar zum wohlverdienten Nickerchen. Das Programm ist nicht schlecht. Ich war vor einigen Wochen mit Yvo im Schauspielhaus wegen Florian von Manteuffel.»

«Wer ist denn das?»

«Ein genialer Schauspieler. Ich steh total auf ihn. Das erste Mal sah ich ihn im Schauspielhaus in Stuttgart. Jetzt gehört er zu unserem Ensemble.»

«Und was führten sie auf?»

«Amphitryon»

«Von Kleist?»

«Welch Überraschung, du kennst sogar das Stück.»

«Nikki schrieb ihre Maturaarbeit über Heinrich von Kleist.»

«Manteuffel spielte den thebanischen Feldherrn Amphitryon.»

«Gings lange?»

«Wie bitte?»

«Das Theaterstück mit Florian von Manteuffel.»

«Ach so. Nein, nur etwas mehr als eine Stunde. Komische Frage. Ob es gut war, interessiert dich nicht, nur die Dauer. Du bist schon ein Kulturbanause.»

«Schon möglich. Monika hat mich vor ein paar Wochen ins Schauspielhaus geschleppt. Boah, diesen Abend vergesse ich nicht so schnell. Ich sass nämlich noch nie auf unbequemeren Stühlen. Ich war total gerädert.»

«Jetzt, wo dus erwähnst – Yvo fluchte über die Stühle und mir tat danach mein zartes Hinterteil auch ziemlich weh.»

«Sag ich doch. Übrigens, den Ex-Mann von Maria Racco kenne ich.»

«Martin Hoffmann, ein Mann für alle Fälle oder eher für alle Zweitbesetzungen. Warum lachst du?»

«Telebasel zeigt einen Werbespot mit Hoffmann.»

«Ich schau nur die ‹News›.»

«Der kommt immer kurz davor oder danach. Hoffmann sitzt zu Hause und hört, dass jemand bei ihm einbrechen will. Er verstellt seine Stimme und bellt wie ein Hund, worauf der Einbrecher flieht. Dann kommt der Werbespruch: ‹Mit einer Sicherheitsanlage von Amerbach sind Sie rundum geschützt.› Am Schluss des Spots wird nochmals dieser Hoffmann eingeblendet, nun hechelt er wie ein zufriedener Hund. Peinlicher gehts nicht mehr.»

«Und so etwas macht der mit?»

«Anscheinend ist er mit der Inhaberin von Amerbach liiert.»

«Die du sicher bestens kennst.»

«Flüchtig. Wir sind uns schon mal über den Weg gelaufen. Ich habe sie gestern auch im Theater gesehen, aber ohne ihren Dackel.»

«Wahrscheinlich wollte er sich das nicht antun. Seine Ex feiert einen Riesenerfolg und tout Bâle liegt ihr zu Füssen. Da würde ich auch lieber daheimbleiben.»

«Stimmt. Tamara wächst mehrheitlich bei ihrer Grossmutter auf. In allen Artikeln ist immer die Rede von Ursina Racco. Weisst du, ob sie verheiratet ist?»

«Keine Ahnung, doch wir können unseren Fan befragen. Schreib alle Fragen auf, dann quetschen wir Borer aus.»

«Mach ich. Und du könntest inzwischen einen Termin mit Ursina Racco vereinbaren und abklären, wo sich Hoffmann aufhält. Gibt es schon einen Bericht von Peter?»

«Dafür ist es wohl noch etwas früh.»

Der April macht, was er will, und ist alles andere als ein Frühlingsmonat. Gestern Abend war es frostig kalt, heute steigen die Temperaturen gegen zwanzig Grad. Irgendwie verschwinden die vier Jahreszeiten, Sommer und Winter dominieren klar. Nadines Porsche schoss rasant um die Ecke in Richtung Gundeli, so dass der Kommissär den Kopf am Seitenfenster anstiess.

«Bravo! Gut gemacht. Es reicht nicht, dass mir der Schädel brummt. Jetzt gibst du mir mit deinem Fahrstil noch den Rest.»

«Sorry, ich war in Gedanken.»

Ferrari betrachtete seine Kollegin verstohlen. Beschäftigt sie etwas?

«Es ist nichts. Zumindest nichts, was dich etwas angeht.»

Oh! Da liegt der Hase im Pfeffer – Liebeskummer! Es läuft nicht so gut mit Yvo. Seltsam. Gestern Abend hat sie ihn doch noch geküsst. Frauen! Nadine bog in die Gundeldingerstrasse ein und fuhr an der Kunsteisbahn Margarethen vorbei den Unteren Batterieweg zum Bruderholz hoch. Wie ein alter Mann kroch Ferrari aus dem Recarositz.

«Kannst du dir nicht endlich ein vernünftiges Auto zulegen? Eines, das deinem Alter entspricht.»

«Meinem Alter?»

«Du wirst dieses Jahr auch schon vierzig.»

«Und ab vierzig soll man einen Leichenwagen fahren?»

«Das nicht, aber kein solches Spielzeug mehr.»

«Du meinst echt, ab vierzig ist frau eine alte Schachtel?»

«Das habe ich so nicht gesagt. Nur, dass man sich seinem Alter entsprechend benehmen soll. Dazu gehören auch das Auto und der Fahrstil.»

«Monika und ich sind alte Schachteln?», insistierte Nadine.

«Warum bringst du jetzt Monika ins Spiel? Sie ist noch älter als du.»

«Noch älter als ich?»

Oje, jetzt geht das wieder los. Es wäre doch so einfach, den Mund zu halten. Ich lerne es wohl nie.

«Wo ist das Haus von Ursina Racco?»

«Netter Versuch, abzulenken. Wenn Monika und ich alte Schachteln sind, was bist dann du?»

«Bei einem Mann ist das …»

«Aha! Bei euch Männern ist das natürlich anders. Du bist mit deinen bald hundertfünfzig Jahren noch attraktiv und brauchst nur mit dem Finger schnippen, schon liegen dir alle Tussis zu Füssen.»

«Ich bin nicht hundertfünfzig, sondern etwas über fünfzig.»

«Eine leichte Untertreibung. Du gehst schnurstracks auf die sechzig zu und hältst dich noch immer für einen Womanizer.»

«Das nicht gerade. Aber es gibt schon die eine oder andere junge Frau, die auf mich steht.»

«So, so.»

Ferrari wollte sich in Richtung der Racco-Villa davonschleichen.

«Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede. Zum Mitschreiben: So eine Frau wie Monika kriegst du nie mehr und eine solche Partnerin wie mich auch nicht. Du bist ein absoluter Glückspilz. Eigentlich lässt sich das nicht erklären, denn du bist nicht wirklich attraktiv, hast einen dicken, fetten Ranzen», sie klatschte ihm auf den Bauch, «deine Marotten sind unerträglich, du bist Alkoholiker, Egomane und … ach! Was gebe ich mich überhaupt mit dir ab? Nur noch eines – Frauen um die vierzig sind keine alten Schachteln. Wir sind noch mit fünfzig und sechzig attraktiv, im Gegensatz zu euch Männern.»

Daher weht der Wind! Es ist kein Liebeskummer, vielmehr steckt sie mitten in einer Midlife-Crisis. Demnächst vierzig, Single, na ja, mein Schulfreund Yvo baggert sie ziemlich an, aber sonst lässt sie keinen in ihre Nähe, vielleicht hat sie sogar langsam Torschlusspanik, möchte doch noch Familie. Die Uhr tickt unbarmherzig. Und ob Yvo der Richtige ist? Das bezweifle ich.

«Autsch!»

Ferrari zuckte zusammen. Der Schlag traf ihn genau in der Lebergegend.

«Der war nötig, damit du auf andere Gedanken kommst. Schöner Freund!»

Nadine drängte sich an zwei Fotografen vorbei ins Haus. Die Architektur war sehr modern, während innen Altbackenes auf Designklassiker traf. Anscheinend konnte sich Ursina Racco nicht von ihren veralteten Möbeln aus den 1970er- und 1980er-Jahren trennen, Standardwohnwand und Polstergruppe mit Clubtisch auf einer Seite des Wohnzimmers. Ähnlich wie bei meiner und Monikas Mutter, dachte der Kommissär. Auf der anderen stand ein Sideboard von USM Haller und in der Ecke thronte ein schwarzer Lounge Chair. Ganz offensichtlich herrschte hier ein Generationenkrieg zwischen Maria und Ursina Racco.

Ursina Rocco stand am Fenster und schaute besorgt zur Strasse.

«Setzen Sie sich bitte. Können Sie nichts gegen diese Fotografen unternehmen, Herr Ferrari?»

«Werden Sie belästigt?»

«Das kann man wohl sagen. Der mit der schwarzen Baseballkappe wollte ins Haus. Als ich ihn nicht reinliess, drückte er einfach die Tür auf.»

«Wir werden uns darum kümmern. Unser aufrichtiges Beileid, Frau Racco.»

«Vielen Dank. Bitte setzen Sie sich doch.» Sie kämpfte mit den Tränen. «Es ist so schrecklich. Ich verstehe das alles nicht. Warum nur?»

«Dürfen wir Ihnen einige Fragen stellen?»

«Selbstverständlich.»

«Wie war Ihr Kontakt zu Ihrer Tochter?»

«Wir telefonierten praktisch jeden Tag. Tamara, Marias Tochter, lebt bei mir. Maria wollte das so, damit Tamara ein richtiges Zuhause mit geregeltem Ablauf hat. Das ewige Herumreisen, das die Engagements mit sich brachten, wollte sie ihr nicht zumuten.»

«Ist sie hier?»

«Nein, Tamara ist in der Schule. Ein befreundeter Nachbar wird sie abholen. Ich hoffe, dass dann diese schrecklichen Fotografen verschwunden sind.»

«Wir werden dafür sorgen. Leben Sie mit Tamara allein?»

 

«Sara hilft uns im Haushalt, sie ist eine Perle und wohnt bei uns. Maria bestand darauf, als mein Mann vor einem Jahr an Krebs gestorben ist. Und jetzt …», sie begann leise zu weinen.

«Falls es Sie zu sehr belastet, können wir ein anderes Mal wiederkommen.»

«Geben Sie mir bitte einen Augenblick … Es … es ist schlimm, wenn der Partner nach vierzig Ehejahren stirbt. Er sagte immer, ‹hoffentlich kann ich vor dir abtreten. Du bist stark. Wenn du vor mir stirbst, weiss ich nicht, was ich tun soll.› Und so kam es auch. Es ist hart, Frau Kupfer. Aber noch viel härter ist es, wenn dein einziges Kind vor dir stirbt. Das … das ist wider die Natur. Es zerreisst mir das Herz. Wie … wie ist es passiert?»

«Das wissen wir noch nicht mit absoluter Sicherheit. Wir fanden Ihre Tochter erstochen in der Garderobe des Theaters.»

«Mein Gott! Wer tut so etwas?»

«Das werden wir herausfinden. Wann haben Sie Maria zum letzten Mal gesehen?»

«Gestern Mittag. Wir tranken Kaffee zusammen und plauderten. Maria stopfte ziemlich viel Kuchen in sich hinein. Ich sagte noch, sie solle etwas auf die Linie achten. Maria lachte nur und meinte, der Kuchen unterstütze ihr Volumen … Sie freute sich riesig auf den Abend.»

«Danach wollte sie nach Mailand zurückfliegen.»

«Ja, mit dem Privatjet von Olivia Vischer. Eine sehr grosszügige Geste. Der Jet sollte sogar bis heute Abend in Mailand bleiben und sie dann zurückbringen.»

«Maria wollte das Wochenende bei Ihnen verbringen?»

«Mit Tamara. Heute wäre ihr Engagement zu Ende gewesen … jetzt ist alles zu Ende.»

Ursina Racco erhob sich und ging weinend in die Küche. Betroffen blickte ihr der Kommissär nach, einmal mehr war das Leben einfach nur ungerecht. Eine alte Frau verliert vor Kurzem ihren geliebten Mann, jetzt ihre einzige Tochter. Warum nur? Gibt es irgendeinen Sinn? Einen göttlichen Plan? Wohl kaum. Zum Glück hat Ursina Racco noch ihr Enkelkind.

«Können wir gehen, Nadine?»

«Noch nicht. Ich möchte ihr noch einige Fragen stellen. Du kannst ja schon mal die beiden Paparazzi verjagen.»

Mit Vergnügen. Ferrari zog den Vorhang zurück und öffnete das Fenster.

«Wenn ihr nicht blitzartig verschwindet, verhafte ich euch wegen Ruhestörung.»

Die Reaktion liess zu wünschen übrig. Ein Fotograf schoss wie wild Bilder vom Kommissär, der andere zeigte ihm den Stinkefinger.

«Da sind härtere Massnahmen notwendig. Ich gehe jetzt raus, verhafte beide und, falls sie sich wehren, haue ich ihnen eins in die Fresse.»

«Super Idee! Du schlägst den einen zusammen, während dich der andere fotografiert. Borer wird entzückt sein.»

«Entschuldigen Sie, es geht mir wieder besser. Haben Sie noch Fragen?»

«Hatte Maria Feinde? Fürchtete sie sich vor jemandem?»

«Nein, davon weiss ich nichts. Ich hätte das bestimmt bemerkt, meine Tochter konnte sich nie gut verstellen.»

«Wie war Marias Verhältnis zu ihrem Ex-Mann?»

«Zu Martin? Sie hatten keinen Kontakt. Seit das Gericht entschied, dass er sich uns nicht mehr nähern darf, gab er Ruhe. Früher hat er uns oft belästigt. Soweit ich informiert bin, ist er nun mit Ellie Gruber liiert. Dadurch hat sich das Ganze normalisiert.»

«Trauen Sie ihm einen Mord zu?»

«Alles, Frau Kupfer, aber keinen Mord. Er ist ein Betrüger, ein Lügner, aber kein Mörder.»

«Wie kam es zur Trennung?»

«Eine traurige Geschichte. Maria liebte Martin so sehr und was tat er? Er betrog sie nach Strich und Faden. Trotzdem hielt sie zu ihm, sie verzieh ihm immer wieder. Beinahe wäre es sogar zum Bruch zwischen Maria und uns gekommen, da lebte mein Mann noch. Wir wussten nämlich, dass er sie betrog.»

«Sie vermuteten es.»

«Nein, nein. Wir wussten es. Eines Tages stand eine junge Frau vor der Tür, die Maria sprechen wollte. Unsere Tochter trat damals in Rom auf. Wir baten sie hinein und da erzählte sie uns, dass sie ein Kind erwarte – von Martin Hoffmann.»

«Kennen Sie ihren Namen?»

«Anita. An den Nachnamen kann ich mich nicht erinnern. Zuerst hielten wir es für einen schlechten Scherz, doch die junge Frau wirkte seriös. Also konfrontierten wir Martin damit, er lachte nur. Das sei wieder so eine, die er abgewiesen habe. Er sei Maria treu. Das war Aussage gegen Aussage. Wir blieben mit Anita in Kontakt und irgendwann schlug sie vor, nach der Geburt einen Vaterschaftstest machen zu lassen. Da gab Martin auf. Er beschwor uns, Maria nichts davon zu erzählen. Es sei ein einmaliger Ausrutscher gewesen.»

«Wie ging es weiter?»

«Als Eltern hatten wir die Pflicht, Maria die Wahrheit zu erzählen. Doch unsere Tochter wollte es nicht hören, nicht wahrhaben. Stattdessen beleidigte sie uns zutiefst. Wir seien von Anfang an gegen die Heirat gewesen. Und jetzt würden wir in die tiefste Schublade greifen, nur um sie gegen Martin aufzuhetzen. Maria packte Tamaras Sachen und zog mit ihr zu einer befreundeten Schauspielerin nach Bottmingen.»

«Aber es renkte sich wieder ein.»

«Dank meinem Mann. Er schlug Maria ein Treffen mit Anita vor, nur so könne sie sich eine eigene Meinung bilden. Was soll ich sagen, unsre Tochter war nach dem Gespräch total schockiert. Sie hatte so an Martin geglaubt – und nun diese Enttäuschung. Die Scheidung liess nicht lange auf sich warten. Zum Glück normalisierte sich unser Verhältnis wieder. Nur … es wurde nie mehr wie früher. Irgendetwas ist zwischen uns kaputtgegangen. Ich bin einfach nicht mehr an meine Tochter herangekommen … Insgeheim gab sie mir noch immer die Schuld an ihrer gescheiterten Ehe», flüsterte sie. «Ich konnte machen, was ich wollte. Nach dem Tod meines Mannes verstärkte sich diese Abneigung.»

«Sehen Sie das nicht zu negativ?»

«Kennen Sie das Gefühl, dass Sie jemandem alles anvertrauen können, Herr Ferrari? Doch plötzlich zieht sich dieser Mensch von Ihnen zurück. Stück für Stück und wird Ihnen fremd.»

«Immerhin vertraute Sie Ihnen ihre Tochter an.»

«Stimmt. Das hat mich etwas beruhigt und darauf bin ich auch stolz.»

«Wie geht Tamara mit dem Verlust ihrer Mutter um?»

«Gefasst. Vermutlich hat sie gar noch nicht begriffen, was passiert ist. Der Schock kommt noch. Als heute Morgen einige Journalisten und Fotografen das Haus belagerten, bat ich unsere Nachbarn, die Familie von der Mühll, Tamara heute zu sich zu nehmen. Ihre Tochter Sofia geht mit ihr in die gleiche Klasse. Klaus von der Mühll ist Psychologe, da ist sie gut aufgehoben.»

«Wer war ihr Agent?»

«Philipp Tanner.»

«Tanner … Tanner … Organisiert er auch Konzerte in der ganzen Schweiz?»

«Ja, genau. Maria sollte im Sommer an einem Open-Air-Event in Zürich auftreten. Aida, soviel ich weiss. Philipp wohnt im Kleinbasel in der Nähe des Rheins.»

«Hatte Maria einen neuen Lebenspartner?»

«Maria war mit Philipp liiert. Die beiden wollten heiraten, aber das sollte vorerst geheim bleiben. Denn Tamara wusste noch nichts davon, und auch wegen der Medien. In den letzten Monaten lehnte sie verschiedene Engagements ab, um mehr Zeit mit Tamara und Philipp verbringen zu können. Sie lebte ja nur für die beiden und für ihren Gesang.»

«Wer könnte Ihre Tochter dermassen hassen, dass er sie umbringt?»

«Niemand, Herr Kommissär. Absolut niemand.»

Ferrari suchte draussen nach den beiden Fotografen, doch sie waren verschwunden.

«Schade!»

«Was meinst du?»

«Schade, dass die Jungs abgehauen sind. Nach einer kleinen Schlägerei wäre deine Laune sicher besser geworden», stichelte Nadine.

«Würdest du mich nicht ständig provozieren, wäre ich nicht schlecht drauf.»

«Schuld sind natürlich immer die anderen. Wie praktisch.»

«Ich bin der friedlichste Mensch auf der Welt.»

«Wenn Monika und ich nicht wären.»

«Das habe ich nicht gesagt.»

«Aber gedacht.»

«Hm. Ich bin zum Mittagessen verabredet. Kommst du mit?»

«Klar, wenn du mir verrätst, wen wir treffen.»

«Professor Teddy Stalder. Wir essen im Kornhüsli.»

«Wo ist denn das?»

«Wie der Name sagt, in der Kornhausgasse.»

Nadine programmierte ihr GPS.

«Na super. Da kann ich nirgends parkieren.»

«Doch, gleich um die Ecke. Du kannst ausnahmsweise in den Hof der Feuerwehr fahren, der Kommandant ist ein Freund von mir.»

«Wow!»

Professor Teddy Stalder, um die siebzig, von mittlerer Statur und mit wallenden langen Haaren, strahlte über das ganze Gesicht, als er den Kommissär sah.