Die Unsterblichen

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4.

Verzauberung ist nicht dasselbe wie Mystifizierung. Das eine ist die gewöhnliche Magie von allem, was existiert und nur um seiner selbst willen existiert, das andere ein heimtückischer Schwindel. Mystifizierung verwischt die schlichten Tatsachen unserer gemeinsamen Welt, um uns davon abzuhalten, sie zu verändern. Die Entzauberungen durch Krebs geben seinen Mystifizierungen Raum. Bevor ich daran erkrankte, hatte ich kaum über Brustkrebs nachgedacht, und als ich es schließlich tat, dachte ich zuerst, es sei einfach. Ich hatte geglaubt, Brustkrebs sei nicht mehr sehr tödlich und seine Behandlung nicht schwer, dass das Leben ein wenig durcheinandergebracht würde, aber dann wäre ich damit durch. Hätte ich einen anderen Krebs gehabt, wäre das vielleicht der Fall gewesen, doch mit meinem war nichts einfach, insbesondere nicht die Wahrheit. Alle Informationen schienen darauf angelegt, mich zu verwirren.

Es musste eine einfache Tatsache geben, oder sogar eine Reihe davon, aber ich konnte die Wahrheit nicht erkennen mit dem Bildschirm vor meiner Nase, darauf brennend, irgendwo in meinem Computer eine Garantie für mein Weiterleben zu finden.

Mein Tumor begann auf einem Bildschirm und dahin brachte ich ihn zurück. Ich gab seine exakten Eigenschaften in den Prognoserechner ein, der versprach, die Zukunft in ein Piktogramm zu verwandeln. Die toten Frauen wurden als 48 stirnrunzelnde Gesichter in Dunkelrosa dargestellt, die lebenden als 52 lächelnde in Grün. All diese Gesichter sollten wie ich 41 Jahre alt sein und genau meine Krankheitsvariante aufweisen, aber keines, ob lebend oder tot, klärte auf über ein Warum oder Wann oder Wo.

Ich wusste nicht, wie es ist, Krebs zu haben, aber ich wusste, wie man es vermeidet, eine Geschichte zu erzählen. Mein Traum letzte Nacht war eine andere Art Prozesseröffnung – etwas blau Leuchtendes, in einem Bürokomplex aus Glas in der Sorte Stadt, die man gern als Kulisse für Anwaltsserien nimmt.

Krank zu sein – alles daran wird zuerst in unsere Körper geschrieben, und irgendwann später vielleicht in ein Notizbuch. Erotik kommt bei Krebs kaum vor, und dies hier ist zwar kein Roman, aber ich wäre lieber Marguerite Duras, um von Liebe und ihren Enttäuschungen schreiben zu können. Sobald die Behandlung beginnt, richtet sich mein Verlangen auf Hilfsgeräte: einen Rollstuhl und jemanden, der:die ihn schiebt, eine Bettpfanne und jemanden, der:die sie leert. Dann ist mein Verlangen, jedes Mal, wenn ich mich bewegen muss, den Akt »Bewegung« eine Stunde lang abzuwägen, dieses Ereignis der Bewegung im Kopf zu proben, jedes Körperteil darauf vorzubereiten, wie und in welchem Verhältnis zu den anderen es sich bewegen soll – nur um mich dann zu bewegen und festzustellen, dass die ganze mentale Vorbereitung die Schwierigkeit der Bewegung nicht hat erleichtern können. Bevor ich krank wurde, hatte ich Kraft, und war doch bald so schwach, dass schon kürzeste Strecken, wie die knapp zwei Meter vom Bett zur Schlafzimmertür, mich erschöpften. Erst ein ganzes Leben voller Appetit, und dann nicht in der Lage sein, zu essen oder Sex zu haben, und auch nicht zu wollen, was aber wenig ausmacht, weil man ohnehin nur mit allergrößter Mühe einkaufen oder Essen zubereiten oder die Hand heben könnte, um den:die Niemand, der:die hier wäre, zu streicheln; dann nicht schlafen, aus einer Erschöpfung heraus, die so zehrend ist, dass es den Körper zu sehr erschöpft, sie zu lindern – und die ganze Zeit über auch an verschiedenen Stellen unter starken Schmerzen leiden, über die ich wie über die Erschöpfung später schreiben werde, was aber, um Clarice Lispector zu paraphrasieren, sein wird, wie ein Foto vom Duft eines Parfüms zu machen.

Lispector beschreibt ihr Buch Aqua Viva als eine »Geschichte von Augenblicken, die entfliehen wie Gleise, die man aus dem Zugfenster sieht«17. Aristides beginnt seine Heiligen Berichte mit einer Erklärung der Schwierigkeiten beim Schreiben über die Erfahrung des Krankseins:

Vielmehr so oft mich auch schon meine Freunde gebeten oder ermahnt haben, davon zu berichten und zu schreiben, habe ich mich doch von keinem je dazu bestimmen lassen aus Scheu vor dem Unmöglichen. Denn das schien mir ein ähnliches Unterfangen zu sein, wie wenn ich unter Wasser das ganze Meer durchquert hätte und dann gezwungen würde, Rechenschaft davon abzulegen, wie vielen Strömungen ich im ganzen etwa begegnet sei, wie ich bei jeder einzelnen das Meer gefunden und was mir Rettung gebracht habe.18

GEBURT DES PAVILLONS

Stets befürchte ich, daß ich nur Seufzer niedergeschrieben habe, wo ich die Wahrheit aufzuzeichnen wähnte.

– Stendhal, Über die Liebe, 1821

Kommuniqué aus einer stadtnahen Satellitenklinik eines Krebspavillons, benannt nach einem Geldgeber

Reiß dein Haar büschelweise aus an Orten, wo es peinlich berührt: Sephora, Familiengericht, Bank of America, bei deinem Job, im Gespräch mit dem:der Vermieter:in, im Leavenworth-Gefängnis, wenn nur Männer hinschauen. Verhandle für das, was du brauchst, denn du wirst es jetzt mehr denn je brauchen. Wenn die Verhandlungen scheitern, reiß dir die Haare vor denen vom Kopf, die sich verweigern, lass Strähnen Haar im Wald, in der Prärie, auf QuikTrip-Parkplätzen, vor jeder Bar, wo deine feminine Art dir und deinen Freundinnen schon becherweise regionales Bier beschert hat.

Halt deinen Kopf aus dem Autofenster und lass dir vom Wind die Haare vom Kopf wehen. Lass deine Freund:innen Haarsträhnen pflücken, um sie anderen Freund:innen zu geben, die sie an Orten zerstreuen, wo es peinlich berührt: an Häfen, Nationaldenkmälern, in Architekturen, die darauf aus sind, dass normale Menschen sich klein und dumm vorkommen, und sie gegen Belästiger auf der Straße schleudern.

Reiß dein Schamhaar in Büscheln mit der Wurzel aus und schick es unfrankiert an Technokrat:innen. Hinterlass dein Achselhaar auf dem Superfund-Areal, bei dem du mal gewohnt hast, dein Nasenhaar für jede:n Personaler:in, der:die dir keinen Tag freigibt.

Wenn deine Wimpern ausfallen, schick sie als Umkehrwunsch an jede:n, der:die angesichts deiner Krankheit verschwand. Dein Haar wird auf jede Oberfläche fallen, der du dich näherst: Es fällt in neue Alphabete und neue Wörter. Lies diese Wörter, um die Ätiologie deiner Krankheit zu erfahren: Wenn du Glück hast, liest du ein Wort, das bedeutet »Die Krankheit hat dich gerüstet«. Aus den kahlen Stellen kannst du lesen, wie du deine absterbenden Zellen zu Waffen machst gegen das, was du hasst und was dich hasst.

Wenn du in deinem ausfallenden Haar eine Waffe erkennst, wirst du auch deinen Körper im Fall als Waffe erkennen, selbst wenn er nicht fällt. In dieser neuen Theorie vom Kranksein wird deine Freundin sagen, dass für dich zu sorgen jetzt Rüstungspflege ist. Du hast dein Zimmer in eine Waffenkammer verwandelt. Wer dir Wasser oder Essen bringt, lädt jetzt auch ein Gewehr.

1.

Der Krebspavillon ist eine grausame Demokratie des äußeren Scheins: der gleiche kahle Kopf, der gleiche zerstörte Teint, das gleiche steroidgeschwollene Gesicht, der gleiche Plastikportkatheter, sichtbar als Beule unter der Haut. Die Älteren wirken infantil, die Jüngeren handeln senil, die Mittelalten denken, dass alles Mittelalte an ihnen verschwindet.

Unsere Körpergrenzen brechen auf. Alles, was in uns bleiben sollte, scheint herauszuwollen. Blut von dem Nasenbluten, das die Chemotherapie verursacht, tropft auf Laken, Papiere, Apothekenzettel, Bücher aus der Bibliothek. Wir können nicht aufhören zu weinen. Wir dünsten üble Gerüche aus. Wir müssen uns übergeben.

Wir haben giftige Vaginas und giftige Spermien. Unser Urin ist so toxisch, dass Hinweisschilder im Bad die Patient:innen anweisen, zweimal zu spülen. Wir sehen nicht aus wie Menschen: Wir sehen aus wie Menschen mit Krebs. Wir sind einer Krankheit ähnlich, mehr als wir uns selbst ähnlich sind.

Sprache verliert ihre soziale Funktion. Wenn wir Worte gebrauchen, schwirren sie wie fehlgesteuerte Bomben. Jemand sagt etwas zum Wetter, die Antwort: eine vagabundierende Wendung aus einem Geistergespräch: »Wir müssen lernen, unsere Bedürfnisse zu akzeptieren.« Sätze bestehen gegen die Syntax. Vokabeln verbilden sich zu misslungenen Übersetzungen von Wörtern, die wir mal kannten, oder neuen Wörtern, die uns fehlen. Kinder, die von ihren Müttern das Sprechen gelernt haben, starren auf ihre kranken Mütter, die gestikulieren wie Babys beim Sprechenlernen, weil sie das Wort für »Fernseher« nicht aufrufen können oder das Wort für »Tasse«.

In den Wartezimmern trifft Fürsorgearbeit auf Datenarbeit. Ehefrauen füllen Formulare für ihre Ehemänner aus. Mütter für ihre Kinder. Kranke Frauen füllen ihre Formulare selbst aus.

Ich bin krank und eine Frau. Ich schreibe meinen eigenen Namen. Bei jedem Termin erhalte ich einen Ausdruck aus der zentralen Datenbank, den ich korrigieren oder bestätigen soll. Ohne uns wären die Datenbanken leer.

Rezeptionistinnen verteilen Formulare, drucken die Armbänder aus, die später von Scannern gelesen werden, die andere Frauen in Händen halten. Die Pflegehelferinnen stehen in einem Durchgang, aus dem sie nie recht heraustreten. Sie halten mit ihren Körpern die Türen geöffnet und rufen Patient:innennamen. Diese Frauen sind die Paraexpertinnen der Schwelle, wiegen die Patient:innenkörper auf Digitalwaagen, messen Vitalparameter an den Sammelpunkten weitläufiger Klinikflure. Dann führen sie die Patientin (mich) in ein Untersuchungszimmer und loggen sich ins System ein. Sie geben die Zahlen ein, die mein Körper generiert, wenn er Maschinen angetragen wird: Wie heiß oder kalt ich bin, wie schnell mein Herz schlägt. Dann fragen sie: »Auf einer Skala von 1 bis 10, wie groß ist Ihr Schmerz?« Ich versuche zu antworten, aber die richtige Antwort ist nie eine Zahl. Empfindung ist der Feind von Quantifizierung. Es gibt noch keine Maschine, die Empfindung aus einem Nervensystem auslesen und in einen hinreichend deskriptiven Messwert verwandeln kann.

 

Die heutige Medizin hyperreagiert auf die Renitenz eines Körpers, krank zu werden, indem sie ihn zu Daten verwandelt. Patient:innen werden nicht einfach durch die Mengen dessen, was aus ihren Körpern dringt oder sie durchfließt, zu Information, ganze Bevölkerungskörper und deren Empfindungen unterliegen Wahrscheinlichkeitsrechnungen (des Krankwerdens und Gesundbleibens, Lebens und Sterbens, Heilens und Leidens), auf denen Behandlung fußt. Die Körper aller Menschen sind Teil dieser Kalkulationen, aber es sind Frauen, zumeist, die die Vorarbeit leisten, indem sie das Nebulöse und Unzählbare am Kranksein in die technologisierte Mathematik der Medizin überführen.

»Name?« »Geburtstag?« Der Name einer Krebspatientin, von ihr selbst genannt, ist ein Anhängsel des Barcodes auf ihrem Identifikationsband, dann ein Anhängsel jeglicher Substanzen – abgenommenes Blut in Röhrchen, Chemotherapiemedikamente zur Infusion –, deren Ort und Identität bestätigt werden müssen. Von mir zu verlangen, meinen Namen zu wiederholen, obwohl mein Armband schon gescannt worden ist, ist der Sicherungsplan medizinischer Datenverarbeitung, das punctum jeder Übertragung in oder aus meinem Körper. Manchmal erinnere ich mich vielleicht daran, wer ich bin. Aber Wiederholung desensibilisiert. Sich selbst auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten? In der medizinisierten Abstraktion von Krebs wurde ich zum Kaummehr, drittrangig gegenüber den Empfindungen des Körpers und den Datensystemen der Medizin.

Nachdem ich meine Kleider gegen einen Kittel getauscht habe, empfangen mich die Schwestern im Untersuchungszimmer. Sie loggen sich ins System ein. Manchmal wurde mir Blut abgenommen und ich darf einen Ausdruck meines Blutbilds anschauen. Jede Woche fließt mein Blut mit mehr oder weniger Zellen oder Bestandteilen eines bestimmten Typs als in der Woche davor. Die Werte nehmen zu oder ab und bestimmen Umfang und Dauer künftiger Therapie. Die Schwestern fragen nach meinem Körpererleben. Sie geben die Empfindungen, die ich beschreibe, in einen Computer ein, klicken auf Symptome, die längst kategorisiert, bezeichnet und mit einem Versicherungscode versehen sind.

Beim Wort »Fürsorge« denkt man selten an Tastaturen. Die Arbeit derjenigen, die, oft schlecht oder unbezahlt, Fürsorge leisten (oder das, was auch »reproduktive Arbeit« genannt wird – sich selbst und andere als lebendige Körper jeden Tag neu zu erhalten, durch füttern, saubermachen, sich kümmern und so weiter), wird von vielen als nicht technologisch, sondern sehr affektiv und intuitiv verstanden. »Fürsorge« gilt als Sache des Gefühls, eng verwandt mit Liebe, was sie natürlich auch ist. Fürsorge scheint von Quantifizierung so weit entfernt wie das Empfinden von Schwäche und Schmerz der Versorgten vom Statistikunterricht. Ich sorge für dich legt eine andere Art Abstraktion nahe (eine des Gefühls) als das Messen der Zellteilungsrate eines Tumors (eine der pathologischen Tatsachen). Doch eine schwere Krankheit offenbart unverhoffte Umkehrungen. Beziehungsweise erweisen sich solche Umkehrungen als Klarstellung. Unsere einst festen, unberechenbaren, empfindlichen, atemberaubend chaotischen und animalischen Körper fügen sich – nicht gänzlich, aber intensiv – den Abstrahierungen der Medizin. Und Fürsorge wird anschaulich und materiell.

Die Rezeptionistinnen, Pflegehelferinnen, Labortechnikerinnen und Krankenschwestern müssen nicht nur die Daten meines Körpers in Datenbanken einspeisen, sie müssen dabei auch für mich sorgen. Im Krankenhaus werden meine Urinwerte von derselben Person gemessen und aufgezeichnet, die mich im Gespräch tröstet. Die Arbeiterinnen, die meinen Namen zweimal prüfen, mein Patient:innenarmband scannen und die Dosierungsmenge für meinen Portkatheter mit vier Augen checken, sind dieselben, die mich sanft am Arm berühren, wenn ich Angst bekomme. Die Arbeiterin, die mir Blut abnimmt, erzählt einen Witz. Fürsorgearbeit und Datenarbeit existieren in einer Art paradoxer Simultaneität: Was sie verbindet, ist, dass meist Frauen sie leisten, und wie so oft in der Geschichte wird das, was als Frauenarbeit gilt, leicht übersehen. Man bemerkt sie erst, wenn sie fehlt: Ein unordentliches Haus erhält mehr Aufmerksamkeit als ein ordentliches. Der mühelos scheinende Hintergrund erscheint nur mit Mühe: Fürsorgearbeit und Datenarbeit sind still, alltäglich, beharrlich und nie ganz getan. Eine Patient:innenakte ist wie ein Zuhause ein Ort der Arbeit, die währt, solange es Menschen gibt.

Während meiner Krebsbehandlung waren die meisten dieser Arbeiter:innen Frauen – Rezeptionistinnen, Hilfskräfte, Krankenschwestern. Die Ärzt:innen, manchmal Frauen, manchmal Männer, treffen mich erst, wenn mein Körper ein Hoch an Quantifizierung erreicht hat. Sie loggen sich ins System ein, tragen aber nichts oder fast nichts ein. Während ihre Augen über den Bildschirm wandern, der die aktualisierten Kategorien und Zahlenstände meines Körpers anzeigt, denke ich wieder an John Donne:

Sie haben mich gesehen und angehört, in diesem gefesselten Zustand vernommen und die Beweisaufnahme durchgeführt; ich habe meine eigene Anatomie eröffnet, mich selbst seziert, und jetzt halten sie gleich ihre Vorlesung über mich.1

Es sind Frauen, die Körper in Daten verwandeln, und Ärzt:innen, die diese Daten interpretieren. Die anderen Arbeiterinnen haben Informationen aus mir abgebaut und katalogisiert, und ich habe meine eigenen Empfindungen informatisiert. Und schließlich sind es die Ärzt:innen, die mich auslesen – beziehungsweise das lesen, was mein Körper geworden ist: eine Patientin, die aus Information besteht, produziert durch die Arbeit von Frauen.

In etwa 60 Stunden werde ich zum zweiten Mal durch einen Plastikport, der mir unter die Brusthaut implantiert und mit meiner Jugularvene verbunden wurde, eine Infusion Adriamycin erhalten. Adriamycin heißt so, weil es in der Nähe der Adria entdeckt wurde. Sein Freiname ist Doxorubicin, was sich wiederum von »Rubin« ableitet, weil es eine funkelnde, rubinrote Farbe hat. Dieses Gift ist der Rubin der Adria für mich, wo ich noch nie war, aber gern einmal hinmöchte. Es wird auch »roter Teufel« und »roter Tod« genannt, und ich denke, es sollte Des Teufels Sterblichkeitsjuwel von den Küsten Venedigs heißen.

Um mir das Medikament zu verabreichen, muss die Onkologieschwester, nachdem sie die Dosis mit einer Kollegin geprüft hat, aufwendige Schutzkleidung anlegen und das Adriamycin langsam und sehr sorgfältig eigenhändig durch den Portkatheter in meiner Brust injizieren. Das Medikament zerstört Gewebe, wenn es aus der Vene austritt: In manchen Fällen wird es sogar als zu gefährlich für alle und alles andere erachtet, um per Tropf gegeben zu werden. Es soll, geht das Gerücht, das Linoleum auf dem Klinikboden zerschmelzen, wenn es verschüttet wird. Noch mehrere Tage nach der Gabe werden meine Körperflüssigkeiten für andere giftig und für mein eigenes Körpergewebe zersetzend sein. Adriamycin kann für das Herz tödlich sein und hat eine Lebensdosis, die ich am Ende dieser Behandlung zur Hälfte erreicht haben werde.

In den USA wurde Adriamycin 1974 zugelassen, dem Jahr nach meiner Geburt, seine Anwendung bei Krebspatient:innen ist also, die Testjahre mitgerechnet, älter als ich. Wahrscheinlich ist es das Medikament, das Susan Sontag erhielt, bevor sie Krankheit als Metapher schrieb, eines der ersten Bücher, die ich geschickt bekomme, als ich erkranke. Adriamycin auszuhalten fühlt sich an wie ein sehr altes Ritual, das über Jahrzehnte bei vielen Arten von Krebs als Initiationsritus vollzogen wurde, egal ob ein:e Patient:in es braucht oder nicht. Weil es Zellen auf so klassische Weise abtötet – von Haarausfall bis Erbrechen –, fühlt sich seine Wirkung an wie die Bestimmung der Onkologie selbst. Sehr viele Menschen haben Krebs in einer Form, die kaum äußere Anzeichen hinterlässt, aber ein Krebsopfer – im filmischen Sinn – ist jemand, der:die eine solche Chemotherapie durchlaufen hat. Dass meine Behandlung damit beginnt, ist ein deutliches Signal dafür, wie wenig Fortschritt es gegeben hat.

Die Behandlung mit Adriamycin kann Herzversagen, Organversagen und Leukämie auslösen und wird höchstwahrscheinlich zu Unfruchtbarkeit und Infektionen führen. Weil Adriamycin, wie viele Chemotherapiemedikamente, so generalistisch zerstört, wirkt es auch auf das zentrale Nervensystem toxisch, und meine Mitochondrien werden drei Stunden nach der Gabe darauf zu reagieren beginnen. Die Reaktionen halten bis zu 27 Stunden an, aber die Schäden kaskadieren weit über die Behandlung hinaus, oft über Jahre. Während ich im Infusionsstuhl sitze, wird sich weiße und graue Substanz in meinem Gehirn abbauen. Wie mich das verändern wird, kann ich nicht wissen. Die Hirnschäden durch die Chemotherapie sind kumulativ und unvorhersehbar. Weil das Medikament die Bluthirnschranke nicht passiert, haben Ärzt:innen, obwohl es seit einem halben Jahrhundert im Einsatz ist, Patient:innen, die von kognitiven Beeinträchtigungen berichteten, häufig nicht geglaubt oder die Beschwerden als Ausdruck allgemeiner krebsbezogener Unzufriedenheit abgetan.

MRTs anderer Frauen mit Brustkrebs legen Schäden nach einer solchen Chemotherapie im visuellen Cortex, eine »signifikant reduzierte Aktivierung des linken mittleren dorsolateralen präfrontalen und prämotorischen Cortex« und eine »signifikant reduzierte Aktivierung im linken kaudal-lateralen präfrontalen Cortex, vermehrte perseverierende Fehler und verminderte Verarbeitungsgeschwindigkeit« nahe.2 Patientinnen berichten vom Verlust der Lesefähigkeit, des Wortgedächtnisses, der Fähigkeit, flüssig zu sprechen, Entscheidungen zu treffen und sich zu erinnern. Einige verlieren nicht nur ihr Kurzzeitgedächtnis, sondern ihr episodisches Gedächtnis: Das bedeutet, sie verlieren die Erinnerung an ihr Leben.

Diese Folgen, über die mich Dr. Baby nebenbei auf dem Weg zu meiner ersten Chemotherapieinfusion aufklärte, sind unvermeidbar, heißt es. Man könne nichts tun, als das eigene hirngeschädigte Leben »guter Dinge« hinzunehmen, ermuntert mich Meine Onko-Reise. Die Beeinträchtigungen können während der gesamten Behandlungsdauer auftreten, sich über ein Jahr hinziehen, in den Folgejahren verschlimmern, zehn Jahre andauern oder länger.3

Kranke sitzen in Wartezimmern, und wenn sie sich zurücklehnen, dann nur kurz, und wenn sie zu schwach zum Sitzen sind, sitzen sie trotzdem, Kopf Richtung Kinn gesackt. Egal wie krank sie sind, die Kranken, die im Krebspavillon behandelt werden, verbringen die meiste Zeit nicht dort: Sie sind krank auf der Arbeit und krank zu Hause, krank in der Schule und krank im Supermarkt, krank auf der Kfz-Zulassungsstelle, in ihren Autos, im Bus. Manche werden von ihren Kindern oder Partner:innen oder Freiwilligen oder Freund:innen im Rollstuhl hereingeschoben und wieder heraus, zu Autos, die sie zu Wohnungen oder Häusern bringen, die allesamt, wie die Krebsbehandlung, bezahlt werden müssen.

Das Wort »Klinik« stammt vom altgriechischen κλινική (kliniké), was »die Heilkunst für bettlägerig Kranke betreffend« bedeutet. Das Wort »Pavillon« wiederum meint eine völlig andere Struktur und erinnert an Ritterturniere und Schlachtfelder. Ein Pavillon ist ein Ort für Generäle und Könige, eine fast immer temporäre und luxuriöse Architektur, für die Zwecke der Mächtigen an etwas anderes angrenzend errichtet – im Fall von Krebs angrenzend an alles Übrige, was wir Leben nennen.

Der Philosoph Michel Foucault schrieb ein berühmtes Buch über die räumliche Organisation von Krankheit mit dem Titel Die Geburt der Klinik, aber ich finde kein Buch mit dem Titel Die Geburt des Pavillons. Es scheint undenkbar, dass ein Krebspavillon eine Mutter hat.

In dem großen, geschäftigen Raum, in dem ich meine Krebsmedikation erhalte, habe ich nie ein Bett gesehen. Die Aktivitäten im Pavillon sind flüchtig, abstrakt, unverortet, unbeständig. Die Kranken wie die Partner:innen, Kinder, Eltern, Freund:innen und Freiwilligen, die sich um sie kümmern, werden von Etage zu Etage, von Stuhl zu Stuhl in Umlauf gehalten. Den Ärzt:innen werden rotierend Behandlungszimmer und Winkel zugewiesen, und um zu wissen, wo sich die für einen selbst Zuständigen an diesem Tag befinden, muss man vorher anrufen.

Die Krebsbehandlung scheint zu jemandes Gewinnmaximierung organisiert – nicht der der Patient:innen –, was bedeutet, Krebspatient:innen werden bei maximaler Geschwindigkeit in maximalem Umlauf gehalten. Foucault schrieb, »daß die Klinik nur eine einzige Richtung gekannt hat: diejenige, die von oben nach unten, vom sicher verfaßten Wissen zum Nichtwissen geht«4. Der Pavillon wiederum ist ein Gewirr von Richtungen. Geld und Mystifizierung, nicht Wissen oder Nichtwissen, sind seine Dimensionen.

 

Wissenschaftler:innen entdeckten die als roter Teufel bekannte Droge in der Nähe des Castel del Monte, ein vom römisch-deutschen Kaiser Friedrich II. in den 1240er-Jahren im Südosten Italiens errichtetes Schloss. Da es weder Graben noch Zugbrücke hat und wahrscheinlich nicht vollendet wurde, geht man davon aus, dass es nie als Festung, sondern nur zur vorübergehenden Unterkunft diente. Das Schloss hat einen seltenen achteckigen Grundriss, wurde später Gefängnis und während der Pest zur Fluchtburg. Später trugen die Bourbonen seinen Marmor ab. Noch später entnahmen Wissenschaftler:innen Bodenproben. Zurück in Mailand fanden sie darin Streptomyces peucetius, das leuchtend rote Bakterium, das für meine Medikation sorgt. Adriamycin ist ein Anthracyclin, das heißt, es bindet ein Enzym namens Topoisomerase IIα. Indem es dieses Enzym bindet, verhindert es eine schnelle Zellteilung – von vielen Zellen, die wir brauchen, aber im Idealfall auch von den Zellen, die wir nicht brauchen.5

Ich erhielt das Adriamycin zusammen mit Cyclophosphamid, einem seit 1959 zugelassenen Medikament, in einer üblichen Kombinationstherapie, die dosisdichte AC-Chemo genannt wird. Cyclophosphamid ist die medikalisierte Variante eines Stoffes, der 1916 am deutschen Kaiser-Wilhelm-Institut unter dem Namen »Lost« als chemische Waffe entwickelt wurde.

Senfgas, wie es auch heißt, wirkt am verheerendsten nicht dann, wenn es tötet, sondern wenn es kampfuntauglich macht; aber Menschen töten kann es durchaus auch. Im Ersten Weltkrieg erfüllte Lost die Schützengräben mit leuchtend gelbem Rauch.6 Bei Krebs steckt es in Plastikbeuteln und niemand im Pavillon spricht offen darüber, was es ist. Seit 1925 als Waffe verboten, ist es eine Form von langsamer Vernichtung, die nur in der Chemotherapie und ihren Folgen fortlebt: Infektionen, Unfruchtbarkeit, kognitive Schäden. Nach Kontakt mit Cyclophosphamid empfiehlt es sich, in der Chemotherapie wie im Krieg, jemanden zu haben, der:die einem die Hand hält.

Obwohl vier Runden dosisdichter altmodischer Drogen vieles in mir erfolgreich eliminiert hatten, einiges davon noch immer halb tot, schien keine dieser Drogen meinen Tumor maßgeblich verkleinert zu haben. Als wir mit all der zellulären Vernichtung durch waren, war meine eigene Semi-Vernichtung offensichtlich, doch mein Tumor weiterhin intakt. Er blieb sein volles Schattenmaß im Leuchten des Bildschirms.

Ein:e Patient:in ist ein systemumfassendes Objekt innerhalb einer Reihe ineinander verschränkter Systeme voller anderer systemumfassender Objekte. Als Objekt kann ein:e Patient:in funktionieren (einwilligen) oder kaputtgehen (die Einwilligung einstellen). »Die Einwilligung einstellen« kann heißen »irgendein Potenzial von Handlungsfähigkeit zeigen« – etwa zu viele Fragen stellen, konfligierende Forschungsergebnisse einbringen, regelmäßig mindestens 15 Minuten zu spät im Wartezimmer erscheinen.

Wenn ich an diesem Krebs sterbe, sage ich zu meinen Freund:innen, schneidet meine Leiche in Stücke und schickt meinen rechten Oberschenkel an Cargill, meine linke Hand an Apple, meine Knöchel an Procter & Gamble, meinen Unterarm an Google.7

Ein:e Krebspatient:in mag glauben, dass, die Einwilligung in die Behandlung einzustellen, bedeute, dagegen zu revoltieren, wie das System der Medizin sie objektifiziert hat, aber das ist ein Trugschluss. Nichteinwilligung stellt für das System keinen Beweis dar, dass eine Person autonom und denkend und vernünftiger Nichtzustimmung fähig existiert, sondern wird als Eingriff anderer Systeme wahrgenommen – kontaminierender, wie etwa Falschinformation oder Aberglauben.

Das System der Medizin stellt sich für die Kranken als sichtbarer Schauplatz von Handlung dar, doch jenseits davon und dahinter und daneben wirken all die anderen Systeme, Familie, ethnische Zugehörigkeit, Arbeit, Kultur, Geschlecht, Geld, Bildung, und jenseits davon wirkt ein System, das alle anderen Systeme zu beinhalten scheint, ein so umfassendes und überwältigendes System, dass wir es häufig für die Welt halten.

Krebspatient:in zu werden heißt, ein systemumfassendes Objekt innerhalb eines anderen Systems zu werden, das es nur partiell erlaubt, die übrigen Systeme zu erkennen, in denen man als Knotenpunkt existiert, und das das machtvollste System der Ausgestaltung der Welt, wie sie ist, völlig verschleiert, und das auch in jenem Objekt, welches ein ganzes System bedeutet (womit ich »mich« meine), von vornherein als Teil des Problems herumgeistert, das unseres latenten Unwohlseins ebenso bedarf, wie es von unserem tatsächlichen Kranksein profitiert.

Dieses System, das wir fälschlicherweise für alles halten, siedelt auch in einem systemumfassenden Objekt wie einem Tumor innerhalb eines systemumfassenden Objekts wie einer Krebspatientin, die ein systemumfassendes Objekt innerhalb einer Klinik ist, die alle auch deren jeweilige Geschichtssysteme umfassen.

Und dann gibt es die Rückstände jenes grandiosen und leicht als alles misszuverstehenden Systems, eines Systems, das wir für ewig und unabänderlich und heillos und unfair halten, wie es außerhalb jener Patientin siedelt, sowohl in der Nähe, wo sie sehen kann, wie es sie verletzt, als auch in einer Ferne, die sie blinzeln und seine deutlichen Umrisse kaum erkennen lässt.

Dann gehen Menschen, Freund:innen machen sich rar, Geliebte verschwinden und mit ihnen jede Möglichkeit, dass du sie je wieder lieben könntest, Kolleg:innen gehen dir aus dem Weg, Konkurrent:innen fürchten dich nicht mehr, Twitterfollower:innen entfolgen dir. Für die Menschen, die dich verlassen haben, bist du möglicherweise entweder das objekthafteste aller möglichen Objekte (dass du für jemanden ein Ding bist, das entsorgt werden kann wie Müll) oder der menschlichste Mensch, der du im Moment dieser Krankheit sein kannst (dafür, wie verloren du dich fühlst beim Entsorgtwerden). Oder, denn du hast gelernt, dass bei katastrophischen Krankheiten alles möglich ist, du bist am menschlichsten und am objekthaftesten zugleich.

Diejenigen, die dich im Stich gelassen haben, die – jetzt, wo du krank bist – nicht mehr mit dir reden, nicht mehr vorbeikommen, auch nicht geradeheraus sagen, dass sie mit der Situation nicht umgehen können, die sagen, dass deine Krankheit, wie sie es nennen, »zu schwierig« für sie ist, tragen dazu bei, zumindest zum Teil, deine Existenz als jemand zu erschaffen, die immer, zumindest zum Teil, gesund bleiben wird. Für sie bist du statisch und beständig. Die Menschen, die gegangen sind, werden dich nicht leiden oder schwinden sehen, und damit bleibst du durch ihr Tun für immer, wie du im Moment der Diagnose warst. In ihren Erinnerungen lebst du strahlend und unverändert fort: Dein Haar ist voll, dein Geist ist rege, und deine Wimpern sind lang und fallen auf deine erröteten Wangen. Die Im-Stich-Lasser:innen sind Menschen, die dich nie als etwas anderes sehen müssen als dich selbst.

Bei dir, die noch nicht das Bewusstsein entwickelt hat, das für dein Leben als Objekt nötig ist, führt das Im-Stich-gelassen-Werden dazu, dass du dich weniger menschlich fühlst, zumeist so, dass du dir wie ein Tier vorkommst. Du fühlst dich wie die Art Tier, die melancholisch ist und jedes Objekt anstarrt und sich wünscht, es anstelle von sich selbst zu sein, sich wünscht, ein Kronleuchter zu sein vielleicht oder eine versilberte Gabel oder eine Machete an der Wand, sich wünscht, irgendwas zu sein (eine Sitzbank, ein abgebrochener Schuhabsatz, ein Heuschreckenpanzer, eine Taschenlampe ohne Batterien, ein Buch über Schiffe, eine Dielenritze, ein Eichblatt im Rinnstein, ein Skalpell, ein Partikel, ein Dachboden, ein Lager für große Kisten), nur kein krankes und verlassenes Tier, sich wünscht, irgendwas auf der Welt zu sein, nur nicht das, was einmal geliebt wurde und nun alleingelassen ist.

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