Buch lesen: «Die Hoffnungsvollen»

Schriftart:

ANNA SPERK

DIE HOFFNUNGSVOLLEN

ROMAN

mitteldeutscher verlag

Gefördert vom Land Sachsen-Anhalt


Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Die Personen, wie sie geschildert werden, leben in der Vorstellung und haben mit tatsächlich existierenden Menschen so viel gemein wie Kupferplatten und Radiernadeln mit einer Druckgrafik.

2017

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagabbildung: © khalaziy – Fotolia.com

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-95462-831-5

Den Hoffnungsvollen

und ihren Kindern

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Erstes Buch - Auf dem Weg

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Zweites Buch - Erfüllung

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Drittes Buch - Akademia

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Dank

Die Autorin

Prolog

Strahlender Sonnenschein und purpurblauer Himmel begleiteten den 1. Mai, zu dem sich die 6a der POS „Hans Beimler“ versammelte. Die Leute munkelten, dass die ‚Freunde‘ oder Sowjets, wie sie offiziell hießen, mit ihren Flugzeugen Kondensationsmittel in die Luft sprühten, um vor der Stadt den Regen auszulösen, der dann den „Internationalen Kampf- und Feiertag“ nicht mehr stören konnte. Obwohl nicht anzunehmen war, dass diese teure Prozedur auch in der Industrie- und Arbeiterstadt durchgeführt wurde, in der Alex lebte, hielt sich das Gerücht. Die Demonstranten freute der Sonnenschein. Der Marsch vorbei an der Tribüne kostete nur den Vormittag.

Der Treffpunkt lag gegenüber dem Centrum-Warenhaus in der Otto-Grotewohl-Straße und die Schüler standen in losen Gruppen herum. Auf dem Boden lagen rote, zusammengerollte Fahnen, blaue Tücher in Tüten und im Werkunterricht aus Holzleisten und Krepppapier gebastelte Nelken, für die sich die Schüler viel zu erwachsen fühlten, und die ihre Lehrerin zum Spaß aller Wink-Elemente nannte. Nach und nach strömten weitere Klassen zum Sammelpunkt und vor der Runden Ecke wurde es enger.

Alexandra Sanger war gerade zwölf Jahre alt. Ihre Pionierbluse hatte sie unter ihrem schönsten Pullover mit Fledermausärmeln versteckt, sodass nur der weiße Kragen heraussah. Gut sichtbar musste das rote Halstuch der Thälmannpioniere mit einem Pionierknoten gebunden sein. Ihre Jacke hatte sie lässig über die Schultern gehängt. Sie fühlte sich gut, wenn nur die Karottenjeans nicht wären, die sie inbrünstig hasste. Im Gegensatz zu einigen Mädchen in der Klasse, die auch zur Mai-Demonstration in Westjeans erschienen, hatte sie drüben keine Verwandten. Ihre Sachen waren aus der „Jugendmode“.

Alex stand mit zwei Freundinnen, die auch blaue Karottenjeans trugen, abseits der Klasse. Zu dritt verhandelten sie den Austausch neuer Bücher, die Anjas Vater besorgt hatte und die man, wenn überhaupt, nur unter dem Ladentisch bekam. Er war Parteisekretär bei der Wismut und Offizier der Staatssicherheit, weshalb er regelmäßig in speziellen Läden einkaufte, die für die Normalbevölkerung nicht zugänglich waren. Und hin und wieder bedachte er seine Tochter mit Geschenken, auf die nicht nur Anja, sondern auch Andrea und vor allem Alex spitz waren.

Die aktuellsten Bände von Erich Wustmann und Miloslav Stingl standen in ihren Regalen, Bücher, die es noch nicht einmal in der Stadtbibliothek auszuleihen gab. Wenn sie darin blätterte, fesselten sie die exotischen Bilder. Farbexplosionen, die Kontraste setzten zum schlichten Grau-Braun, in das die DDR gekleidet war, als würde der ‚real existierende Sozialismus‘ das Bunt aus der Landschaft saugen. Selbst das Grün der Bäume wirkte vor den Plattenbauten ihres Wohngebietes fade. Die Kleider einer Afrikanerin vor ihrer Lehmhütte oder die nackte, rot bemalte Haut eines Amazonasindianers im Urwald leuchteten dagegen so intensiv, als wäre die Sonne nur dafür geschaffen, um von ihnen reflektiert zu werden. Sie träumte davon, einmal in die Farben der Welt einzutauchen, und wenn sie es schaffte, dann wollte sie sie beschreiben und zu Menschen tragen, die zu wenig davon hatten. Wie sie selbst.

Ihr blieben nur die Abbilder dieser Welt, das Leuchten der Fotos, und wenn sie nach der Schule nicht las und sich Notizen machte, zeichnete sie die Motive der Abbildungen nach. Erst letzte Woche hatte sie die melancholischen Gesichter eines Mannes und einer jungen Frau vom Amazonas übertragen. Beide hielten die Blicke gesenkt, als würden sie stumm über die Abholzung des Regenwaldes klagen. Und dabei waren sie von einer verletzlichen Schönheit, dass Alex sich nicht mehr von ihnen lösen konnte. Wollten die beiden nicht einfach nur leben? Aber die Welt, in der sie wohnten, wurde gerodet. Und sie begann über das Leben nachzudenken, über ihr eigenes und über das anderer. Es schien in einen steinernen Tunnel gegossen, in dem Abzweigungen und die Wahl eines eigenen Weges nicht vorgesehen waren. Sie mussten in der steinernen Röhre entlanglaufen. Wer stehen blieb, wurde von der Masse geschoben.

Die farbenfrohen Bücher dagegen brachten Licht in ihr Leben. Ihr schillerndes Bunt, wie gern würde sie es einfangen und vervielfältigen. Doch es blieb in den Büchern, die sie irgendwann zuklappen musste, um sie zurückzugeben.

„Mein Gott, tun mir die Beine weh. Wann geht es endlich los?“ Andrea, die Christin im Bunde, riss sie aus ihren Gedanken. Das Warten zerrte an den Nerven, und genau dies stand den Schülern ins Gesicht geschrieben. Die Straße hatte sich dicht gefüllt. Neben der Klasse 6a umstand eine jüngere Gruppe mit den blauen Halstüchern der Jungpioniere ihre Lehrerin, die streng, aber mit freundlicher Stimme Anweisungen gab und dabei immer wieder ordnend ihre Hand auf die Schulter des einen oder anderen Schülers legte. Einige Arme reckten sich in die Luft. Die Jüngeren strahlten die freudige Pflichterfüllung aus, die auch Alex noch aus der Zeit kannte, als die Teilnahme an der Demonstration ein Zeichen dafür war, dass sie zu den Großen gehörte.

Endlich unterbrach Frau Rudolf ihr Gespräch und blickte über die Runde der sechsten Klasse. „Kinder“, gab sie das Kommando und wartete ab, bis die Pioniere sie ansahen. „Es geht los!“

Dann rief sie einige Jungen zur Ordnung und traf Anweisungen, sich zu einem Block zu formieren. Sie verteilte die ‚Wink-Elemente‘ nach einem geometrischen Plan an die Schüler. Der Marsch begann. Im Reißverschlusssystem verband sich nun ihre Klasse mit weiteren Schülerblöcken, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite arrangiert hatten. In einem geschlossenen Marsch bogen sie in die Karl-Marx-Allee ein. Die Marschmusik wurde immer lauter und der Schritt der Marschierenden fester, bis sie den 13 Meter hohen und 40 Tonnen schweren Karl-Marx-Kopf vor der „Parteisäge“ erreichten, der dieser Stadt ihren Namen gegeben hatte. Vor dem „Nischel“ war eine schlichte, circa 20 Meter breite Tribüne gezimmert worden, deren Stufen aus Stegen und Bänken bestanden. Blumengirlanden an den Seiten verdeckten nur teilweise die helle Farbe frisch gesägten Fichtenholzes. Die Männer darauf waren wohl die wichtigsten Leute der Stadt. Bedeutungsvoll winkten sie in die Menge. Laute Marschmusik aus Dutzenden Lautsprechern schwappte über Alexandras Formation, und vor der Tribüne durchströmte sie ein angenehm euphorisches Glücksgefühl. Willig ließ sie sich davon treiben. Sie waren einzelne Sandkörner in einer wogenden Menge, in der jedem sein Platz zugeordnet war, mit dem einzigen Ziel, diese Menge zu bewegen.

Der Vorbeimarsch an der Tribüne dauerte nur wenige Sekunden. Alex sah, wie sich die Teilnehmer am Ende der Prozession schüttelten, als wären sie aus einem Traum erwacht. Einige Transparente flogen auf die Bürgersteige, wo sie Haufen mit roten Fahnen, Mainelken und Tüchern sah. Dann zückten die Leute ihre Teilnehmermarken und stellten sich an einer der Schlangen an, um sich eine kostenlose Bratwurst abzuholen. Wer seine hatte, lief mit hastigen Schritten davon. Der Spuk löste sich so schnell auf, dass am Ende der Karl-Marx-Allee gähnende Leere herrschte.

Alex beschloss, noch eine Weile zu bleiben. Mit ihrer Bratwurst in der Hand mischte sie sich unter die Leute und lief die Treppe zum Interhotel hinauf. Das Kongreß war mit seinen 29 Etagen und 97 Metern das höchste Haus der Stadt. Direkt gegenüber der Tribüne fand sie einen Platz auf einer von Zuschauern eng besetzten Mauer am Fuß des Hotelbaus. Von dort hatte sie einen guten Blick über das ganze Spektakel. Im Rhythmus der Musik wippte sie mit den Beinen und aß die Wurst, dabei beobachtend, wie die laute Marschmusik die vorbeiziehenden Massen für kurze Zeit in Verzückung versetzte.

‚Was für ein komischer Zauber ist das, der die Leute da derart in Stimmung bringt?‘, fragte sie sich. ‚Für die meisten‘, das wusste sie, ‚ist die Teilnahme eine lästige Pflicht. Dennoch scheinen sie begeistert.‘

Menschen, die aus Überzeugung für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft kämpften, hatte sie kaum erlebt. Die, die sie kannte, meckerten und klagten über Mangel und die Sprüche ihrer Vorgesetzten. Die Bevölkerung rebellierte hinter vorgehaltener Hand, aber so umfassend, dass Alex über ihr sozialistisches Vaterland kaum ein gutes Wort hörte, außer in der Schule, wo die Zufriedenheit im Lehrbuch stand. Aber selbst Anjas Vater, der Stasioffizier, hielt ihr keine Vorträge. Nie machte er Stimmung für das System. Er begrüßte sie hemdsärmelig an der Tür, ließ sie ein und verschwand im Wohnzimmer vor dem Fernseher.

Alex amüsierte sich gerade über die deutlichen Erschöpfungserscheinungen der Parteioberen auf der Tribüne, als sie plötzlich einen Schrei hörte. Sie sah nach rechts, in die Richtung, von der sie den Lärm gehört hatte. Einige Meter von ihr entfernt beugten sich Leute über eine liegende Gestalt.

„Da ist jemand die Mauer runtergestürzt!“, hörte sie die Stimme einer Frau. Tumult entstand am Fuß der Mauer, und um den Gestürzten bildete sich ein Kreis von Neugierigen. „Ist er gesprungen?“, fragte jemand. „Es springt doch niemand von einer fünf Meter hohen Mauer“, erwiderte ein Mann. „Dann hätte er schon vom Kongreß springen müssen!“ – „Das hat er sich vielleicht nicht getraut.“ Ein anderer Mann lachte. Und noch ein anderer erklärte: „Da oben lassen sich die Fenster nicht öffnen. Das hat schon seinen Sinn.“

Alex wollte etwas sehen und beugte sich weit nach vorn. Die Diskussion der Leute irritierte sie.

Erstes Buch

Auf dem Weg

1

Der Zug fuhr ihrer Zukunft entgegen, wäre da nicht die Angst vor dem Unbekannten, wie immer, wenn durch eine Zäsur ein Lebensabschnitt von einem neuen abgelöst wurde.

Mit ihrer Reisetasche in der Hand und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken hatte sie 16 Uhr den Zug aus ihrer Heimatstadt nach Linden bestiegen und eine halbe Stunde vorher hatte sich die Tür der elterlichen Wohnung hinter ihr geschlossen. Noch nie war ihr so bewusst gewesen, dass sie nun erwachsen war, endgültig, unwiderruflich.

In Linden fuhr der Zug in eine riesige Halle ein, wohl um das Doppelte größer als der provinzielle Bahnhof, den sie gewohnt war. Beim Aussteigen zögerte sie auf der Treppe. Ihr neugieriger Blick überflog den Bahnsteig von links nach rechts. Dann erst wagte sie den Schritt in die Freiheit.

Ein erfrischender Luftzug durchwehte die Halle und streifte ihr Gesicht. Tief atmete sie ein. Der Duft eines der letzten regnerischen Septembertage. Einige Schritte weiter blieb sie stehen und spürte, wie sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Kurz schloss sie die Augen und genoss ihre Unabhängigkeit. Fast hätte sie die Arme ausgebreitet und ihren Kopf in den Nacken gelegt, um zu fliegen wie die Tauben in den riesigen Eisenbögen des Kopfbahnhofs.

Der Bahnsteig leerte sich unter den eiligen Schritten der Menschen. Jetzt musste sie selbst den Entschluss fassen, vorwärtszugehen. Ihr war plötzlich bewusst, dass sie bislang niemanden kannte, der ihr Leben fortan prägen würde. Sie musste sich mit Menschen umgeben. Dann würde sich vielleicht das Gefühl einstellen, auch an diesem Ort angekommen zu sein.

Doch erst einmal stand sie hier, sie hatte ein Ziel, sie war zum Studium nach Linden gekommen. Und sie wollte sich nicht entscheiden. Ihre Eltern, Ingenieur und Informatikerin, hatten ihr ein technisches Studium nahe gelegt. Informatik war ein zukunftsfähiges Fach, ein sicherer Arbeitsplatz, Einkommen, Familie. An Begabung mangelte es auch nicht, Mathematik und Physik waren ihre Lieblingsfächer gewesen. Aber eigentlich wollte sie doch etwas anderes, mehr als nur Beruf und Familie, den vorbestimmten und sicheren Weg.

Alex blickte auf ihre Reisetasche, in der sich die Mappe mit den völkerkundlichen Abschriften befand, ihre Sammlung von Texten und Zeichnungen aus Büchern, die sie sich jahrelang über viele Umwege organisiert hatte. Heute, im Jahr 1992, könnte sie sich die Bücher einfach kaufen. Auf allen Märkten standen Antiquariatstische und boten all die Werke feil, die zu DDR-Zeiten nicht zu bekommen gewesen waren. Und die handgeschriebene Mappe war eine eigenwillige Form eines Tagebuches, ein Zeugnis ihrer Träume davon, die Welt zu bereisen. All die Bücher, aus denen sie abgeschrieben hatte, die Fenster in die Ferne, die ihr enges Kinderzimmer in der Platte eines Neubaugebietes aus den Siebzigerjahren unerreichbar umgaben.

Die Wende vor drei Jahren hatte alles geändert. Jetzt stand ihr die ganze Welt offen. Wer sollte sie jetzt noch daran hindern, sie zu bereisen – wie in den Sechziger- und Siebzigerjahren Erich Wustmann? Sie könnte nun Völker studieren, wo immer sie lebten, eigenes Material sammeln und Bücher veröffentlichen, wenn sie am Institut für Ethnologie studieren würde, an demselben Institut, an dem die „Völkerkunde für Jedermann“ entstanden war, die sie als Kind im Schrank ihrer Großmutter gefunden hatte.

In ihrem achtzehnten Lebensjahr war Deutschland seit zwei Jahren wiedervereinigt, und sie fühlte, dass ihr Leben mit allen Chancen vor ihr lag. Noch nichts war unumgänglich. Sie konnte ihre Zukunft wählen. Nur der innere Streit, zwischen Traum und Vernunft, Hoffnung und Angst, blockierte sie. Zur Sicherheit hatte sie sich deshalb für zwei Studienfächer entschieden, und diese konnten gegensätzlicher nicht sein – Informatik und Ethnologie.

Sie nahm energisch ihren Rucksack auf den Rücken und ihre Reisetasche in die rechte Hand, um ihren Weg zum Wohnheim zu finden, für das sie bereits im Juli einen Platz ergattert hatte. Damals hatte sich das Gerücht verbreitet, dass jährlich zu Semesterbeginn die Plätze ausgingen und Studenten, die zu lange zögerten, in Turnhallen untergebracht werden mussten.

Sie verließ den Bahnhof durch einen der zwei Hauptausgänge. Stadtlärm schlug ihr entgegen und sie stand direkt vor den Haltestellen der Straßenbahnen.

Fröstelnd wartete sie. Ihr Blick hing an dem imposanten Bahnhofsgebäude mit seiner symmetrischen Fassade, die von zwei riesigen Bögen dominiert war. Die Straße vor dem Bahnhof war mehrspurig und die Autos fuhren zügig, für ihren Geschmack viel zu schnell vorbei. Die Gebäude rund um die Haltestelle waren um mehrere Etagen höher als sie es kannte und verrieten mit ihren üppig verzierten Fassaden den bürgerlichen Reichtum der einstigen Handelsmetropole. Kein Vergleich mit der Arbeiterstadt, aus der Alex kam.

Die abendliche Kühle ließ die Menschen zittern. In ihren hochgeschlossenen Jacken und Mänteln traten sie von einem Fuß auf den anderen. Neben ihr standen zwei Frauen, die sich laut unterhielten. Mehr und mehr zog ihr breiter Dialekt ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die Mundart, eine Variante des Sächsischen, sprach auch sie seit ihrer Kindheit. Doch die Tönung in ihrer Aussprache nahm sie wahr, obwohl man doch kein Ohr für seinen eigenen Dialekt hatte? Warum harmonierte der sächsische Klang nicht mit ihrem eigenen, gewohnten Klang, sodass er in ihr unterging, für sie unhörbar wurde?

Naja, das Sächsische war farbenfroh, auch wenn es sich nur in den dunklen Tönungen bewegte. Und weil sie sich langweilte, gab sie dem Städtedreieck ihrer Heimat spontan neue Namen und ergänzte die verräterische Floskel „Nicht wahr?“. Als Kind hatte sie „nor“ gesagt, in der Handelsmetropole, die sie nun Linden nannte, sagten die Menschen „newor“ und in der Kulturstadt hörte man allenthalben das kleine Wörtchen „nu“. Aber in einem waren alle Dialektvariationen gleich, in der Verdunkelung fast aller Vokale hin zum „O“. Nicht umsonst war die Mundart sprichwörtlich in der DDR gewesen. Alexandras Heimatstadt hieß kurz die Stadt mit den drei „Os“, Korl-Morx-Stodt, worüber sich die ganze Republik lustig gemacht hatte.

Diese Republik und den Namen ihrer Heimatstadt gab es nicht mehr. Ihr Dialekt dagegen hatte nichts von seinem dümmlichen Klang verloren. Peinlich hatte sie die überschwänglichen Sachsen im Westfernsehen gefunden, die sich lauthals freuten, endlich Tempotaschentücher benutzen zu dürfen. Warum nur hatte sie nicht die klingende, melodische Sprache ihrer Großeltern gelernt, die im tiefen Vogtland lebten? Stattdessen hatte sie sich in der Schule blamiert, damals, als sie in Deutsch ein Gedicht aufsagen sollte, und ihre Lehrerin dies mit den Worten kommentierte: „Für das Erlernen gebe ich dir eine Eins, aber für die Deklamation kann ich dir nur eine Drei geben.“ Danach hatte sie von ihr verlangt, vor der versammelten Klasse einen Satz mit einer Ansammlung von Zischlauten aufzusagen, die Sachsen regelmäßig zu einem breiten „sch“ verzerrten. Mit hochrotem Kopf hatte sie sich bei jedem auszusprechenden Wort angestrengt dessen Schreibweise in Erinnerung gerufen: „In der Küche auf dem Tisch, steht ein Schälchen Milch.“ Bei dem Wort „Milch“ waren ihr die Nerven durchgegangen und sie hatte ihre Deklamation mit einem wütenden „Mülsch“ abgebrochen, um puterrot zu ihrem Platz zu laufen und unter dem Gekicher ihrer Mitschüler hinter ihrem „Tisch“ zu verschwinden.

Doch nun fuhr sie in der Straßenbahn durch ihr unbekannte, enge Straßen nach Süden und da sie alle paar Minuten anhielten, schien die Fahrt endlos zu sein. Erst als sich die Straßenbahn nach und nach geleert hatte, die Straßen weiter und das Grün der Anlagen üppiger wurden, signalisierte ihr ein Schild die richtige Haltestelle. Sie stieg aus und während das metallische Quietschen der weiterfahrenden Bahn verklang, realisierte sie, dass sie sich am südlichen Stadtrand befinden musste, dort wo eine zehngeschossige Platte den Abschluss der städtischen Bebauung vor einer flachen, öden Wiese bildete, die nur von verwildertem Strauchwerk durchbrochen war. Die heimischen sanften grünen Hügel eines Ausläufers des nördlichen Erzgebirges vor ihrem inneren Auge, erschien ihr die Gegend trostlos.

Alex ging über die Straße auf die Platte zu und musste einige Zeit suchen, bis sie das Schild „Studentenwerk“ fand. Die Tür stand offen und eine ältere Frau, die im Flur das abgescheuerte Linoleum wischte, nannte ihr die Zimmernummer des Hausmeisterbüros im Erdgeschoss.

Das Institut für Informatik befand sich im Hauptgebäude der Universität, einem rechteckigen Kasten mit Blechverblendungen unter großen Fenstern. Über dem Portal prangte ein riesiges Relief, auf dem das Konterfei desjenigen kommunistischen Vordenkers dominierte, der der Universität zu DDR-Zeiten seinen Namen gegeben hatte. Überlebensgroß überragte er eine Gruppe enthusiastisch kämpfender Arbeiter. Das Gebäude sah direkt auf einen der zentralen Plätze der Stadt herab. Neben dem Hauptgebäude ragte ein riesiger Turm in die Höhe, der einem aufgeschlagenen Buch nachempfunden sein sollte und den die Studenten kurz den „Weisheitszahn“ nannten. Auch das Hochhaus gehörte zur Universität.

Alex betrat die Alma Mater und fragte den Portier nach dem Institut für Informatik.

„Dritte Etage, links“, sagte der, nachdem er in einem Buch nachgeschlagen hatte, und Alex stieg in den Paternoster. Der Versuch, den richtigen Moment für den Sprung in die oder aus der Kabine zu finden, ließ ihr Herz auch mit achtzehn Jahren noch klopfen.

Auf den ersten Blick war das Institut für Informatik ein langer grauer Flur. Alexandra studierte die Namensschilder an den verschlossenen Türen. Die Ansammlung von akademischen Graden schüchterte sie ein. Sie klopfte an einem Sekretariat und fragte, ob sie hier richtig sei.

„Was wünschen Sie denn?“, fragte eine freundliche Sekretärin mit blond gefärbten Haaren, die wegen Alex ihre Unterhaltung mit einem älteren Herrn unterbrach.

„Ich möchte Informatik studieren und suche die Stundenpläne.“

„Stundenpläne?“, lachte der graumelierte Herr. „Die gibt’s nur in der Schule. Sehen Sie in den Vorlesungsplan. Dort finden Sie alle Vorlesungen, Seminare und Übungen.“

Sein Blick wanderte Alex’ Gestalt auf- und abwärts. Er verstörte sie. Scheinbar schien er zu überlegen, ob ihre Erscheinung im Sekretariat mit richtigen Dingen zugehe. Doch ehe sie ihrem Antrieb folgen konnte, vor seinen Blicken zurückzuweichen, fragte er schon: „Sie wollen wirklich Informatik studieren? Schaffen Sie das denn?“

Wie eine Sprungfeder richtete sich Alex auf. Ihr Vater hatte es ihr beigebracht, Rücken gerade, Brust raus, und sie antwortete etwas zu heftig: „Ich war in den Naturwissenschaften sehr gut.“

Doch der Graumelierte zwinkerte nur belustigt der Sekretärin zu. Alex’ Bekenntnis schien ihn wenig zu beeindrucken. „Das hat überhaupt nichts zu sagen. Studieren Sie doch lieber Geisteswissenschaften oder Pädagogik, wie alle Frauen.“

„Na!“, wies ihn die Sekretärin zurecht.

„Na gut, ich habe nichts gesagt. Wenn Sie es unbedingt wollen, dann tun Sie es eben.“ Er wendete sich ab und legte seiner Mitarbeiterin ein paar Blätter auf den Tisch: „Wenn Sie damit fertig sind, unterschreibe ich noch.“ Dann sah er sich nochmals zu Alex um: „Man sollte endlich wieder Aufnahmeprüfungen einführen“, und verschwand in dem Raum, der an das Sekretariat angrenzte.

Alex sah auf das Schild neben der Tür und las „Prof. Dr. Hinrich, Direktor“. Die Sekretärin suchte den Semesterplan heraus und sagte sanft: „Machen Sie sich nichts draus. Das Studium haben schon ganz andere geschafft. Wenn Sie fleißig sind, dann schaffen Sie es auch.“

Als Alex wieder unter dem Bronzerelief des Hauptgebäudes hindurchlief, atmete sie auf. Nun musste sie noch das Institut für Ethnologie suchen. Neben einer Litfaßsäule fand sie einen schattigen Platz und studierte ihren Stadtplan. Das Institut musste ganz in der Nähe sein. Nach einigem Suchen sah sie schließlich das grüne Schild mit der Aufschrift „Institut für Ethnologie“ an einem spätklassizistischen Bau. Sie drehte sich um und lief auf die andere Straßenseite, um die Fassade zu betrachten. Das Gebäude schien einem florentinischen Palazzo nachempfunden. Es zeigte selbstbewusst den Stolz einer reichen und mächtigen Bürgerschaft. Und während Alex das Haus betrachtete, musste sie an die schmucklosen Fassaden ihrer Heimatstadt denken. Selbst die Vorkriegsgebäude waren reine Zweckbauten, Unterkünfte für Arbeiter, die in den Fabriken der Stadt geschuftet hatten. Bei der Sanierung zu DDR-Zeiten hatte man den Häusern etwas Farbe gegeben, aber mit den imposanten Stuckarbeiten an den Gebäuden in Linden’s Zentrum waren sie bei Weitem nicht zu vergleichen. Noch viel deprimierender hatten auf Alex die Plattenbauten gewirkt, mit denen die Stadtarchitekten zu DDR-Zeiten den Zerfall der Innenstädte auszugleichen versuchten. Die „Arbeiterschließfächer“, wie sie genannt wurden, hatten für Alex den Charme von aufeinandergetürmten Karnickelbuchten.

Ein hupendes Auto riss sie aus ihren Gedanken, und sie gab den Weg frei. Dann tastete ihr Blick wieder nach dem grünen Schild. „Dritte Etage“ stand neben dem Institutsnamen. Sie öffnete die schwere hölzerne Tür, die mit Schnitzereien bedeckt war, stieg das Treppenhaus aus Holz hinauf und bewunderte die gedrechselten Geländerstäbe. Auf jeder Etage standen die Flügeltüren zu den Fluren der Institute weit offen. In der dritten Etage endete die Holztreppe in einem weiten Raum, von dem eine kleine Steintreppe weiter nach oben führte. Unter der Treppe sah sie eine Sitzgruppe, in der einige Studenten saßen, rauchten und sich unterhielten. Links und rechts von diesem Raum gingen die Türen zum Institut für Ethnologie ab.

„Wo finde ich das Sekretariat?“, fragte sie, von den offenen Flügeltüren mutig geworden, und bekam prompt Antwort: „Diesen Flur entlang und die letzte Tür links.“ Freundlich wies eine Studentin in die angegebene Richtung und Alex betrat einen langen Flur, von dem mehrere Räume abgingen. Die letzte Tür links stand weit offen.

Aus dem Sekretariat klang geschäftiges Stimmengewirr, das sie verlegen machte. Verwirrt blieb sie auf der Schwelle stehen und klopfte an den Türrahmen. Vor der Sekretärin stand eine Studentin und redete. Daneben diskutierte eine ältere Frau mit zwei weiteren Studenten. Eine vierte Studentin heftete gerade Blätter in einem Ordner ab. Niemand schien sie wahrzunehmen. Sie wartete und betrachtete die Frau hinter dem Schreibtisch. Sie war vielleicht Ende fünfzig und trug ihre grauen Haare mit einer Föhnwelle, die typisch für Frauen ihres Alters war. Ihr Gesicht und ihre Sprache wirkten gutmütig. Geduldig schien sie der Studentin ihr Anliegen zu erklären. Als diese sich endlich verabschiedete, blickte sie zu Alex. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich hätte gern den Vorlesungsplan.“ Alex trat an den breiten altertümlichen Schreibtisch heran.

Die ältere Frau beendete das Gespräch mit den beiden Studenten und gab ihnen die Hand, als Zeichen, dass sie nun gehen sollten. Dann öffnete sie einen Schrank und begann etwas zu suchen. „Wir haben keine Karteikarten mehr“, lenkte sie die Sekretärin von Alex ab. Die zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich kann erst nächsten Monat wieder welche bestellen, Frau Dr. Heller, das Geld ist schon wieder alle.“

„Wie soll man denn so arbeiten? Ich muss doch meine Vorlesung vorbereiten“, regte sich die Dame auf. „Es hat sich doch wirklich gar nichts verändert!“ Alex sah ihr nach, als sie empört den Raum verließ.

„Ich kann doch auch nichts dafür!“, rief ihr die freundliche Sekretärin bedrückt hinterher und schüttelte den Kopf. Dann wendete sie sich wieder Alex zu: „Ach so!“ Beflissen stand sie auf und nahm einen Stapel Hefte von einem Tisch an der Wand. „Sind Sie neu hier?“ Doch sie wartete Alex’ Antwort nicht ab. „Wir haben ein Vorlesungsheft“, erklärte sie und drückte ihr eines der Hefte in die Hand. „Das kostet eine Mark.“

Alex zahlte, nahm das Heft und verließ das Institut.

Erleichtert schlenderte sie über das Universitätsgelände, sah sich die Gebäude an und beobachtete die Studenten, die in Grüppchen plappernd oder zielstrebig an ihr vorbeiliefen. Dann stand sie vor unverputzten Fundamentresten, von denen Treppen abwärts führten. Der Name eines Studentencafés stand in rostigen großen Lettern an einer Mauer und Studenten liefen in den Keller der – wie sie nun bemerkte – ausgebaut war.

Alex folgte ihnen und kam durch die Tür in ein warmes, nach Zigaretten und Kaffee duftendes, weitläufig verzweigtes Tonnengewölbe. Überall saßen sie, an kleinen Tischen und in bequemen Stühlen. An den ziegelroten Wänden hingen Comic-Zeichnungen und die Fronten der Gewölbe waren mit einer großen gläsernen, halbrunden Fläche aus Türen und Fenstern verschlossen, die viel Licht in die Räume ließen.

Wohlig warm war es hier, vielleicht einen Kaffee? Sie stützte ihren Kopf auf die rechte Hand und betrachtete ihren Stundenplan. Ihre Gedanken wanderten zurück in das Neubaugebiet ihrer Kindheit. Sie hätte erwartet, dass sie Wehmut fühlen würde. Doch von solcher Nostalgie war sie weit entfernt. Selbst als sie an Jörg dachte, an seine stahlblauen Augen, seine weiße Gesichtsfarbe und seine lockige Mähne, die ihn in ihren Augen stets einem Engel gleichen ließen, blieb sie kalt. Wie lange hatte sie nicht an ihn gedacht? Dabei hatten sie sich doch erst vor einigen Tagen am Bahnhof verabschiedet, und sie hatte versprochen, bald zu schreiben. Und nun schien er weit weg, so weit, dass ihr alle Lust abhandenkam, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

Ihm jetzt zu schreiben, das hieße, wieder in der Vergangenheit zu versinken, und dagegen sträubte sich alles in ihr. Ja, es kam sogar so eine Art Widerwillen in ihr auf, als sie an ihn dachte. Hier in Linden sah sie ihn, ihren Freund, plötzlich mit nüchternem Abstand. Kühl betrachtete sie seine schlanke, sportliche Gestalt vor ihrem inneren Auge. Er war engelsgleich in seinem Aussehen, das stimmte, aber er war es nicht in seinem Wesen. Denn konnte ein Engel stolz auf sich sein? Und Jörg war nicht nur stolz auf seine Erscheinung, er war geradezu eingenommen von ihr. Manchmal hatte Alex das Gefühl, er gefiele sich selbst besser, als sie, Alex, ihm jemals gefallen konnte. Dieser Gedanke hatte sie seit ihrer ersten Begegnung gereizt, ihn zu beeindrucken, sein Gefallen zu erkämpfen, und sie hatte sich die verrücktesten Ideen einfallen lassen, um ihm zu zeigen, was sie für ihn sein konnte.

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