Buch lesen: «Bewusst atmen, besser leben»
Bewusst atmen, besser leben
Übungen für mehr Energie und Gelassenheit
Anna Paul, Annette Kerckhoff
Inhaltsverzeichnis
*Zeit für eine Atempause*
Wir atmen ...
Einleitung
*Zeit für eine Atempause*
I. Atem ist Leben
Einige Gedanken zu Beginn Der Lebenshauch Eine besondere Kraft Das Wunder des ersten Atemzuges
Zur Physiologie des Atmens Die äußere Atmung Die innere Atmung Sauerstoff und Blut Das Zwerchfell – Die treibende Kraft des Atems Brust-, Bauch- und Flankenatmung Einatmen – ausatmen Der Atemrhythmus Atemregulation
*Zeit für eine Atempause*
Die Wechselwirkungen von Atmen und Stress Atmen und Gefühle Atmen und Nervensystem Die Stressantwort Der physiologische Stressablauf Bin ich gestresst? Stress und Konstitution Gedanken, Gefühle und Stress Dauerstress und Burnout Die Entspannungsantwort Atmen und Gehirn
*Zeit für eine Atempause*
II. Heilsames Atmen
Energie oder Ruhe – Wie wir mit dem Atmen in jede Richtung regulieren Erstmal tief durchatmen 15 Minuten am Tag
Atemarbeit in der Heilkunde Naturheilkunde und Mind-Body-Medizin Yoga Qigong Meditation und Religion
Atemtherapie Atem und Atemwegserkrankungen Atem und Stress Atem und Schmerzen Palliative Atemtherapie Schulen der Atemarbeit
*Zeit für eine Atempause*
III. Praxisteil
Allgemeine Hinweise Vorbereitungen Die tägliche „Atempause“ Aufbau der Übungsabfolge
Übungen zum Einstieg Ankommen im Atem Recken, strecken und gähnen Tiefe Atemzüge Meridiane klopfen und ausstreichen Ohren kneten
Gezielte Atemübungen Zwerchfellatmung – Die Basisübung Vollatmung Minis – Einfache Entspannungsübungen Wechselatmung – Den Geist beruhigen Tuna-Atemübung: Zwerchfellatmung in Kombination mit Bewegungen Reguliere den Atem, beruhige den Geist, stütze den Himmel, zerteile die Wolken und lasse die Sonne in dein Herz
Atemmeditationen Den Atem beobachten Atemmeditation Mantrameditation
Übungen für Körper, Atem und Stimme Der Löwe Gehen in verschiedenen Geschwindigkeiten Gelenke durchbewegen Koordinationsübung Der Baum Der Faden am Brustbein Die Marionette Schwerpunkt suchen Die Achsen ausrichten Schnuppern und ffff aus
Bewährte Übungsabfolgen Die tägliche „Atempause“ Die Stärkung von Atem und Stimme
Übungen für bestimmte Situationen
Stress ALI und stimmhaftes Ausatmen Lockermachen
Schlafstörungen
Atemwegserkrankungen Lippenbremse Kutschersitz Torwartstellung
Schwere Krankheit Atemlenkung Hauchübung Klopfübung
Die Atemwege pflegen Allgemeine Hinweise Regelmäßige Anwendungen Vorbeugung von Infekten
Literaturverzeichnis
Adressen Atemtherapie Kliniken und Abteilungen für Naturheilkunde und Integrative Medizin
Die Autorinnen
*Zeit für eine Atempause*
In diesem Buch geht es um die segensreiche Wirkung des bewussten Atmens. Dabei soll es nicht bei theoretischen Ausführungen bleiben. Vielmehr werden Sie immer wieder dazu aufgefordert, schon beim Lesen oder Blättern eine kleine Atempause einzulegen und praktisch zu üben.
Halten Sie auch jetzt einen Moment inne, legen vielleicht das Buch wieder beiseite und achten auf Ihre Atmung. Vielleicht wollen Sie das Fenster öffnen und bewusst die frische Luft einatmen. Oder Sie setzen sich entspannt hin und atmen ein paar Mal tief ein und aus. Vielleicht mögen Sie die Augen schließen und zehn Atemzüge mitzählen. In Ihrem Inneren öffnet sich jetzt ein Raum, in den Sie sich ganz kurz zurückziehen können. Wenn Sie am offenen Fenster stehen, können Sie die Arme anheben und ein paarmal tief ein- und ausatmen. Nun ist Ihr Körper mit frischem Atem gefüllt.
Wir atmen ...
… jede Minute, jeden Tag und meistens, ohne es zu bemerken oder darauf zu achten. Mit dem Atem versorgen wir uns mit Sauerstoff und Energie. Atmen ist Leben und das Leben untrennbar mit dem Atem verbunden. Mit dem ersten Atemzug beginnt das Leben, mit dem letzten Atemzug endet es.
Dies bedeutet auch: Solange wir leben, haben wir den Atem „immer dabei“. Auch wenn alles andere fehlt, auch wenn wir krank sind oder gebrechlich – atmen tun wir immer.
Das ist etwas Besonderes. Es gibt viele Dinge, die man für die Gesundheit und das Wohlbefinden tun kann: sich gesund ernähren, Sport treiben, Hausmittel oder Arzneimittel nutzen. Nicht immer aber sind diese Ressourcen vorrätig. Das ist beim Atem anders: Er ist ein kraftvolles Instrument, um sich in angespannten Situationen zu entspannen oder in erschöpften Momenten für etwas mehr Energie zu sorgen. Man muss nur wissen, wie das geht.
Genau dazu dient dieses Buch. Wir möchten Ihnen den Atem als „Heiler“, als einen wichtigen und konstanten Lebensbegleiter für Jung und Alt, Arm und Reich vorstellen. Wir möchten Ihnen erklären, wie der Atem „funktioniert“, wie er mit unserem Nervensystem korrespondiert. Vor allem möchten wir Ihnen praktische Übungen an die Hand geben, um gezielt den Atem zu trainieren und dann in Belastungszeiten auf das Erlernte zurückgreifen zu können. All das braucht nicht viel Zeit und kostet nichts – und ist gleichzeitig unglaublich wirkungsvoll. Unsere Übungen ermöglichen jeder und jedem, zuhause oder auf Reisen, innezuhalten und den Atem als innere, stärkende Kraft zu entdecken.
Wir, die Autorinnen, kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Anna Paul leitet die Ordnungstherapie in der Essener Klinik für Naturheilkunde & Integrative Medizin. Sie hat eine jahrelange praktische Erfahrung mit der Atemarbeit im Kontext der Integrativen Medizin. Annette Kerckhoff arbeitet seit vielen Jahren als Fachjournalistin und Dozentin für Gesundheit, Komplementärmedizin und Naturheilkunde und schätzt den Atem nicht zuletzt als wichtige Säule, wenn es um Atem und Stimme im Sinne einer Gesundheitsförderung geht.
Unser Blickwinkel ist damit stark von der Komplementärmedizin geprägt mir ihrem ganzheitlichen Verständnis des Menschen im Brückenschlag zwischen traditionellen Konzepten aus Ost und West und der modernen Medizin. Und so widmet sich auch dieses Buch vor allem dem Atem in seiner Bedeutung in der Heilkunde und der Frage, wie die verschiedenen Systeme der Heilkunde mit dem Atem arbeiten. Es ergänzt damit die bereits bestehenden Atemratgeber um die Facetten wichtiger alter und neuer komplementärmedizinischer Strömungen.
Wir hoffen, dass dieses Buch dazu beiträgt, den Atem als Spiegel des Befindens wahrzunehmen, als Möglichkeit, sich zu „entstressen“. Wir hoffen, dass es dazu anregt, täglich eine kurze „Atempause“ einzulegen und damit einen effektiven Hebel für das eigene Wohlbefinden kennenzulernen, der jedem Menschen, unabhängig von Herkunft, Stand oder Gesundheitszustand, ein Mehr an Selbstbestimmung ermöglicht.
Sie werden merken: Mit nur etwas mehr Aufmerksamkeit, etwas mehr Achtsamkeit dem Atem gegenüber und regelmäßigen kleinen Übungseinheiten werden Sie im Alltag deutlich mehr Ruhe, Gelassenheit, Wohlbefinden und Energie gewinnen.
Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre und den Übungen viel Freude.
Einleitung
Der Atem ist uns selbstverständlich, und wir achten kaum auf ihn. Und genau deshalb möchten wir Sie hier dazu einladen, sich etwas genauer mit dem Atem zu befassen, mit all dem, was ihn ausmacht.
Der Atem ist eng mit vielen Körperfunktionen, die unwillkürlich ablaufen und von unserem unwillkürlichen (autonomen) Nervensystem gesteuert werden, verbunden: Kreislauf, Herzschlag, Blutdruck, Erregungszustand etc. Diese Körperfunktionen lassen sich nicht willkürlich beeinflussen.
Der Atem macht die Situation des unwillkürlichen Nervensystems sicht- und hörbar – am Atem können wir erkennen, wie es uns geht: Wenn wir angestrengt und gestresst sind, atmen wir flach. Wenn wir erschreckt sind, halten wir den Atem an. Manchmal sind wir außer Atem, erschöpft und kraftlos. Wer belastet ist, sich unwohl fühlt, der atmet schwer oder hat den Wunsch, einmal tief durchzuatmen. Wir atmen ruhig, wenn wir entspannt sind. Wer sich wohl fühlt, der atmet frei und leicht. All das läuft in aller Regel völlig unbewusst ab.
Der Volksmund kennt viele Ausdrücke, die zeigen, wie eng der Atem mit unserem seelischen Befinden verbunden ist: Wir holen Atem, sorgen damit für Energie und für ein kurzes Innehalten. Wir schöpfen Atem. Und wir haben – im besten Falle – einen langen Atem.
Auf den Atem zu achten, sich für den Atem zu sensibilisieren, ist eine hervorragende Möglichkeit, einen Einblick in das eigene Befinden zu bekommen, in Kontakt zu sich selbst zu treten, wieder bei sich selber anzukommen. Der Atem ist die Schaltstelle zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, dem Geist und dem Körper.
Anders als den Blutdruck oder den Herzschlag können wir den Atem willkürlich beeinflussen. Das kann, muss aber nicht in Richtung „Ruhe und Gelassenheit“ gehen, auch wenn dies gerade in Stresssituationen sehr nützlich ist. Man kann mit einer tiefen Atmung auch für mehr Sauerstoffzufuhr und damit für mehr Energie sorgen. Es gibt bestimmte Atemtechniken, die ganz gezielt die Aktivität steigern und uns wacher werden lassen.
Wenn wir auf den Atem achten und bewusst atmen, können wir unser Wohlbefinden verbessern – an jedem Ort, zu jeder Zeit und dazu noch ganz ohne Kosten.
Das hier Geschriebene erscheint selbstverständlich, ja fast banal. Und doch wissen sehr viele Menschen nicht davon. Unsummen werden für Gesundheit und Wellness ausgegeben, wo doch die Beschäftigung mit dem Atem eine einfache, seit Jahrtausenden bewährte und zudem praktikable Methode ist. Ein gigantischer Gesundheitsmarkt ist etabliert, aber das Wissen über einfache, selbstbestimmte Möglichkeiten der Gesundheitsförderung – wie zum Beispiel das bewusste Atmen – wird kaum weitergegeben.
Dabei sind die Effekte der Atmung, wenn man sie einzusetzen weiß, enorm: Bewusst atmen beruhigt, es hilft dabei, dass das Herz flexibler auf Stress reagieren kann, bringt Frische und Energie, verbessert körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sowie die Abwehrfähigkeit des Immunsystems. Es steigert die Vitalkapazität um 20 %. Bewusstes Atmen verbessert die Körperhaltung, damit die Ausstrahlung, massiert die inneren Organe, z.B. die Verdauungsorgane, und sorgt nicht zuletzt dafür, dass die Stimme besser trägt.
Im krassen Widerspruch zu den Möglichkeiten und Effekten der Atmung, wie sie in Fachkreisen bekannt sind, steht die Realität. Experten schätzen, dass zwei Drittel der Erwachsenen das natürliche Atemmuster verloren haben. Viele von ihnen atmen zu flach und zu hastig – sie atmen quasi schon wieder ein, bevor die Lunge ganz entleert ist. Damit aber werden die Möglichkeiten, die unsere Atmung bietet, nur zum Teil ausgeschöpft – wie wenn man eine Fahrradpumpe nur zur Hälfte aufziehen, eine Flasche nur zur Hälfte füllen würde. Da der Atem eng mit Gefühlen verbunden ist, kommt es leicht zu einem Teufelskreis: flache Atmung – wenig Energie – schnell gestresst – noch flachere Atmung. Die Folgen ungesunder Atemmuster sind vielfältig: Verspannungen, Fehlhaltungen, Müdigkeit, Schlafprobleme, Angstzustände.
Diesen Teufelskreis kann man mit einer einfachen Atemschulung durchbrechen. Wir glauben: Kinder sollten von klein auf „richtiges Atmen“ lernen. In der Schule sollte Atemarbeit als Stressmanagement trainiert werden, später im Erwachsenenalter zur Vermeidung von stressbedingten Erkrankungen und im Krankheitsfall, bei Schmerzen und in Belastungssituationen sowieso. Wird das Atmen im therapeutischen Regime berücksichtigt und trainiert, können Schmerzen gelindert, Beschwerden leichter ertragen werden, liegen die Nerven nicht ganz so blank, ist der Schritt zu einem gesundheitsfördernden Lebensstil leichter.
Eine kurze tägliche Auszeit, die unsere Aufmerksamkeit auf den Atem lenkt – eine Atempause –, kann die Tür öffnen zu vielen anderen Verhaltensweisen, die das Wohlbefinden verbessern.
*Zeit für eine Atempause*
Lassen Sie bewusst ein paar tiefe Atemzüge durch Ihren Körper fließen.
Schließen Sie die Augen und nehmen Sie für diesen Moment wahr, was Sie spüren.
I. Atem ist Leben
Von den drei Dingen, die für die Existenz eines Menschen unentbehrlich sind, nämlich Luft, Wasser und Speise, ist die erste das wichtigste. Damit sie allen Menschen ohne Entgelt zugänglich sei, hat Gott sie in so großer Menge erschaffen.
(Mahatma Gandhi)
Einige Gedanken zu Beginn
Der Lebenshauch
Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm steht zum Stichwort „Athem“:
ATHEM [atem], m. spiritus, halitus. (...) Alle Sprachen leiten [das Wort] aus den sinnlichen Begriffen des wehens, hauchens, blasens, athmens [ab], da die Seele dem Menschen eingeblasen und wieder von ihm ausgeblasen wird, auch die Vorstellung des Geistes und der Seele. (...) odem für athem wurde von Luther überall in der Bibel gesetzt und ist dadurch wie unter das Volk auch in die höhere Dichtersprache eingegangen.
Atmen ist gleichbedeutend mit Leben. Der Atem ist das, was uns leben lässt und was uns – auch spirituell – belebt. Nicht umsonst geht er, wie der Eintrag aus dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm zeigt, auf das lateinische Wort spiritus zurück: Die „In-spiration“ ist das, was uns auf geistig-seelischer Ebene belebt, die Eingebung, der künstlerische und kreative Impuls.
Im Altgriechischen gab es zwei Ausdrücke für den Atem. Der eine war odem. In der Bibel finden wir ihn zum Beispiel in dem alttestamentarischen Psalm „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!“ Der andere altgriechische Begriff ist pneuma. Pneuma bedeutet Atem im Sinne von Lufthauch, Hauch, aber auch, im übertragenen Sinne, Geist oder Seele. Bisweilen findet sich auch der Begriff „Atemseele“ oder „Hauchseele“.
In der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments heißt es: „Da bildete Gott, der Herr, den Menschen aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele“ (1. Moses 2,7). Diese Vorstellung des Lebenshauches, mit dem der physische Körper belebt wird, der ihn dann mit dem Tod wieder verlässt, findet sich in westlichen wie östlichen Religionen. So ist er vergleichbar mit dem indischen Begriff prana, der wörtlich Atem, Lebensodem bedeutet. Gemeint ist „die kosmische Energie, die den Körper durchdringt und erhält und sich in den Geschöpfen am deutlichsten als Atem manifestiert“ (Lexikon der östlichen Weisheitslehren). Die Traditionelle Chinesische Medizin spricht vom Qi als einer universellen Lebensenergie. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten, dieses Qi nach der Geburt aufzufüllen: durch die Nahrung – was wir essen und wie wir essen – und durch die Atmung – was wir atmen und wie wir atmen.
Der deutsche Begriff Atem geht möglicherweise noch viel weiter zurück: auf den Sanskrit und das Wort atman. Es bezeichnet nach hinduistischem Verständnis das wirkliche, unsterbliche Selbst des Menschen, das der Westen als Seele bezeichnet. Der Körper beherbergt atman, bis er stirbt. Dann geht atman wieder in die Weltenseele ein.
Atem ist mehr als die Sauerstoffversorgung des Körpers. Atem belebt. Nicht umsonst sagt man „einer Sache Leben einhauchen“.