Themenorientierte Literaturdidaktik: Helden im Mittelalter

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Damit die Schülerinnen und Schüler das Verhalten des jeweiligen Helden beurteilen können, ohne dabei nur vom eigenen Gerechtigkeitsempfinden auszugehen, findet in den Einzelkapiteln an relevanten Stellen die Inszenierung des Helden durch seinen Erzähler gesonderte Berücksichtigung. Wie in modernen Erzähltexten arbeiten nämlich auch die mittelalterlichen Autoren mit den Effekten, die z.B. durch den Wechsel zwischen auktorial geprägten und personal präsentierten Erzählpassagen oder durch die ungleiche Verteilung von Figurenwissen und Leserwissen mit Blick auf die Leserlenkung entstehen. Die Anwendung gängiger Fachbegriffe der Erzählanalyse kommt also auch bei der Interpretation vormoderner Erzähltexte gewinnbringend zum Einsatz: Vorausdeutungen und Rückblenden, explizite Erzählerwertungen und Leseransprachen, aber auch Figurenreden und scheinbar neutral gehaltene Beschreibungen steuern die Rezeption damaliger wie heutiger Rezipienten.



Um Missverständnissen vorzubeugen, die sich aus der historischen Differenz ergeben, wird im Verlauf der Kapitel ein Grundinventar an mittelalterlichen Sachbegriffen erarbeitet. Die Begriffsklärungen ermöglichen auch Einblicke in das mittelalterlich-feudale Gesellschaftssystem. Querverweise sorgen dafür, dass nicht jeder Begriff in jedem Kapitel ausführlich erläutert werden muss. In einem Glossar werden außerdem die wichtigsten Begriffe verzeichnet und erklärt (Kapitel 9). Hier lässt sich eine literaturwissenschaftlich ausgerichtete Unterrichtsreihe ohne großen Aufwand um sprachgeschichtliche Elemente erweitern, indem Phänomene des Sprachwandels (Laut- und Bedeutungswandel) anhand der von uns dokumentierten Beispiele erarbeitet werden. So sind z.B. triuwe und ‚Treue‘, milte und ‚Milde‘, êre und ‚Ehre‘ diachron betrachtet dieselben Wörter. Sie haben aber sowohl hinsichtlich ihrer äußeren Gestalt (Lautwandel oder Wandel der Schreibweise) als auch ihres Konzepts (Bedeutungswandel) im Verlauf der Zeit für das Textverständnis wesentliche Veränderungen durchlaufen. Für weitere Begriffe, die in unserem Glossar nicht aufgenommen sind, verweisen wir auf die hervorragende, alphabetisch geordnete Sammlung wichtiger mittelalterlicher Begriffe mit ausführlicher Erklärung von Hilkert Weddige (Weddige 2010: 92–137).



In den Bereichen ‚Sprache‘ und ‚Eigenheiten der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung‘ mag die Andersartigkeit mittelalterlicher Literatur für die Schülerinnen und Schüler deutlicher spürbar werden.

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 Im Zentrum stehen jedoch die überzeitlichen Fragen danach, wie Einzelne mit ihren Besonderheiten in Gemeinschaft leben können, wie mit dem Anderen bzw. dem Fremden umzugehen ist, wie viel Gemeinsinn sein muss und wie viel Selbstprofilierung sein darf, welches Heldentum gemeinschaftsrettenden und welches gemeinschaftszerstörenden Charakter hat. Davon ausgehend werden die Schüler und Schülerinnen zwanglos Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Fragen wie z.B. der Inszenierung und Instrumentalisierung von neuen Heldenfiguren, der Beschäftigung mit Ego- oder Third-Person-Shooter-Spielen in den verschiedenen Modi oder der Verführungskraft von religiösem Fanatismus herstellen können. Grundlage dafür ist eine sorgfältige Erschließung der mittelhochdeutschen Texte mit einem didaktischen Schwerpunkt auf verschiedenen Ausformungen von Heldenfiguren, die eine differenziertere Bewertung von Helden-Taten ermöglichen. Dafür wollen die folgenden Kapitel die nötige Hilfestellung geben.





2.6 Literatur





Quellen



Heusler, Andreas / Koch, Max (1905): Urväterhort. Die Heldensagen der Germanen. Sammlung mit Einleitung und Anmerkungen. Berlin



Krügel, Gerhard (1937): Helden streiten, Götter ringen. Deutsche Helden- und Göttersagen. Mit Bildschmuck von Franz Stassen. Frankfurt/M.



Roethe, Gustav (1927): Deutsches Heldentum und deutsche Treue in Dichtung und Sage. Den Teilnehmern des 10. Verbandstages des Deutschen Philologenverbandes, Leipzig



Zitierte Literatur



Bohrer, Karl Heinz / Scheel, Kurt (Hrsg.) (2009): Heldengedenken. Über das heroische Phantasma. Stuttgart (Sonderheft Merkur)



Campbell, Joseph (2011): Der Heros in tausend Gestalten. Aus dem Amerikanischen von Karl Kroehne. Frankfurt/M. (New York 1949, dt. zuerst 1953)



Dahlke, Birgit (2006): Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900. Köln



Engster, Hermann (1986): Germanisten und Germanen. Germanenideologie und Theoriebildung in der deutschen Germanistik und Nordistik von den Anfängen bis 1945 in exemplarischer Darstellung. Frankfurt/M. (Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik 16)



Frevert, Ute (2009): Vom heroischen Menschen zum ‚Helden des Alltags‘. In: Heldengedenken. Über das heroische Phantasma, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer u. Kurt Scheel. Stuttgart (Sonderheft Merkur). S. 803–812



Fuchs, Stefan (1997): Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg (Frankfurter Beiträ ge zur Germanistik 31)



Haug, Walter (1999): Die Einsamkeit des epischen Helden und seine scheiternde Sozialisation. Zur Anthropologie eines narrativen Musters. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 128. S. 1–16



Heinzle, Joachim / Waldschmidt, Anneliese (Hrsg.) (1991): Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Frankfurt/M.



Kienitz, Sabine (2008): Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923. Paderborn (Krieg in der Geschichte 41)



Lau, Jörg (2009): Pathos des Eigensinns. Zivilcourage und Heldentum. In: Heldengedenken. Über das heroische Phantasma, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer / Kurt Scheel. Stuttgart (Sonderheft Merkur). S. 753–761



Müller-Funk, Wolfgang (2008): Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2., überarb. und erw. Aufl. Wien / New York (zuerst 2002)



Münkler, Herfried (2007): Heroische und postheroische Gesellschaften. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 61. S. 742–752



Schmitt, Arbogast (2009): Achill – ein Held? In: Heldengedenken. Über das heroische Phantasma, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer / Kurt Scheel. Stuttgart (Sonderheft Merkur). S. 860– 870



von See, Klaus (1991): Held und Kollektiv. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122. S. 1–35



Weddige, Hilkert (2010): Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. 8., durchgesehene Aufl. München (zuerst 1996)



Wunderlich, Werner (1991): ‚Ein Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend …‘ Zur pädagogischen Indienstnahme des Nibelungenliedes für Schule und Unterricht im 19. und 20. Jahrhundert. In: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum, hrsg. v. Joachim Heinzle / Anneliese Waldschmidt. Frankfurt/M. S. 119–150





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 Die Hinweise auf diese Initiativen sind angeregt durch den Beitrag von Birgit Schreiber, Was macht Menschen zu Helfern?, in: Psychologie heute, 38/7, 2011, S. 66-69. Vgl. auch die Diskussion von Heldentum und Zivilcourage bei Lau 2009.



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 Zahlreiche Hinweise bei Dahlke 2006, Kap. 4.3 ‚Jugend und Narration. Das Männlichkeitsnarrativ des Kriegers‘, S. 197–209, und Wunderlich 1991.



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 Wenn wir die Kapitel untereinander in Beziehung setzen, verwenden wir die Abkürzungen, die sich auch im Glossar finden, vgl. S. 158.



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 Zur Unterscheidung ‚unseres‘ Helden von der aus vielen Quellen zusammengesetzten Siegfried- Gestalt verwenden wir die im Nibelungenlied überlieferte Namensform Sîfrit.



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 Das Wichtigste ist übersichtlich zusammengestellt bei Weddige 2010: 1–41.



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 Detailliertere Informationen zur Andersartigkeit des mittelalterlichen Literaturbetriebs können anhand von Kurzreferaten wie z.B. zum Thema ‚Pergament und Papier‘ von den Schülern und Schülerinnen selbst erarbeitet werden. Material und weiterführende Hinweise dazu finden sich in jeder Einführung in die germanistische Mediävistik, so z.B. knapp und leicht verständlich bei Bein 2005: insb. 14–53.






3. Sîfrit





Heike Sahm





3.1 Einführung und didaktischer Schwerpunkt





Sîfrit ist der einzige Held im Nibelungenlied, für den sich mit Jugend, Schwertleite, Hochzeit, Krönung und Tod eine Biografie abzeichnet (vgl. Schulze 2002: 673). Nachdem der junge Xantener Königssohn von der Schönheit der burgundischen Königstochter Kriemhilt erfahren hat, macht er sich auf den Weg an den Wormser Hof mit der Absicht, um sie zu werben. Bei seiner Ankunft berichtet der Vasall Hagen – der ihn als Sîfrit erkennt, obwohl man ihn in Worms nie zuvor gesehen hat

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 – den burgundischen Königen davon, welche großen Taten Sîfrit bereits vollbracht hat: Er habe von den Nibelungenkönigen das Schwert Balmunc geschenkt bekommen, danach den sagenhaften Hort an sich gebracht und im selben Zug auch die Tarnkappe gewinnen können. Obendrein habe der Held einen Drachen getötet und in dessen Blut gebadet, sodass er nun unverwundbar sei. Seinen Bericht über die Jungsiegfriedabenteuer beschließt Hagen mit der Empfehlung, ihn in Worms angemessen zu empfangen, weil es keinen vergleichbaren Helden gebe. Die Könige Gunther, Gernot und Giselher, Kriemhilts Brüder, folgen diesem Rat. Sîfrit bleibt nun ein Jahr lang als Gast am Wormser Hof, ohne dass sich ihm jemals die Gelegenheit bietet, seine Werbung um Kriemhilt vorzutragen. Dann aber sucht Gunther seinerseits eine Braut und beschließt, um die Hand der Königin Prünhilt von Îsenstein anzuhalten, die er aber – weil sie so mächtig und gefährlich ist – nur mit der Unterstützung Sîfrits gewinnen kann. Als Lohn für diese Hilfe, so verabreden die Männer, soll Sîfrit Kriemhilt zur Frau bekommen. Dank der Tarnkappe (eines Mantels, der Sîfrit unsichtbar macht), gelingt die Werbung. Sîfrit siegt in den geforderten Wettkämpfen: Steinwurf, Weitsprung und Speerwurf, während der hilflose Gunther nur die entsprechenden Bewegungen ausführt. Um vor der Königin zu verbergen, dass er der Stärkste und damit der einzig angemessene Werber ist, arbeitet Sîfrit mit einer Täuschung, was seinen sozialen Status angeht (in der Forschung als ‚Standeslüge‘ bezeichnet): Er gibt sich vor Prünhilt als Vasall Gunthers aus. Da Prünhilt weder Lüge noch Betrug durchschauen kann, folgt sie Gunther als Braut nach Worms. Während der Doppelhochzeit kommt es zum Eklat, als Prünhilt darüber weint, dass Kriemhilt, die Schwester des Königs, einen Vasallen heiratet. Sie lässt es dann in der Hochzeitsnacht auf eine weitere Kraftprobe mit Gunther ankommen, bei der er kläglich versagt. Wieder kommt Sîfrit mit seiner Tarnkappe zur Hilfe und ermöglicht Gunther so den Vollzug der Ehe. Danach reist Sîfrit mit seiner Ehefrau Kriemhilt nach Xanten zurück, wo er Herrschaft und Krone von seinem Vater übernimmt und nun der mächtigste Herrscher ist.

 



Nach zehn Jahren fordert Prünhilt, die über den Ablauf von Wettkämpfen und Doppelhochzeit weiterhin beunruhigt ist, dass Kriemhilt und Sîfrit zu einem Fest nach Worms eingeladen werden. Auf diesem Fest kommt es zum Streit der Königinnen darüber, wessen Ehemann der mächtigere sei. Kriemhilt kann diesen Streit zwar für sich entscheiden, allerdings besteht Prünhilt in der Folge auf der Ermordung Sîfrits. Hagen will die Tat ausführen, und er gewinnt dafür sogar König Gunthers Zustimmung. Unter einem Vorwand entlockt Hagen zunächst Kriemhilt das Geheimnis von Sîfrits einzig verwundbarer Stelle (ein Lindenblatt hatte sich beim Bad im Drachenblut auf seinen Rücken gelegt) und tötet Sîfrit dann auf einer Jagd hinterrücks mit dessen eigenem Speer. Der Leichnam wird nach Worms gebracht und von der tief trauernden Kriemhilt in einem Sarg aus Gold und Silber bestattet. Sie ahnt, dass Hagen der Mörder ist, und will ihren Ehemann rächen, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Diese Rache für den erschlagenen Sîfrit, die ihre Brüder und Hagen sowie sämtliche Gefolgsleute und Knappen der Burgunden, ja auch Kriemhilt selbst schließlich das Leben kostet, ist Gegenstand des zweiten Teils des Nibelungenlieds.



Das um 1200 entstandene Nibelungenlied ist bei Reclam und bei Fischer in zweisprachigen Ausgaben erschienen, die den mittelhochdeutschen Text und seine neuhochdeutsche Übertragung enthalten. Bei der Anschaffung für die Schule kann man sich bei Verwendung der hier zugrunde gelegten Ausgabe des Fischer- Verlages auf den ersten Band beschränken, weil Sîfrit der Held nur des ersten Teils des Nibelungenlieds ist. Wenn der Text nur in Ausschnitten gelesen werden soll, bietet sich die ergänzende Lektüre einer Zusammenfassung an, wie sie sich beispielsweise auf der Homepage des Projekts mittelneu (s. Kapitel 1,: 13) findet.



Die Nacherzählungen, die durch Auguste Lechner und Franz Fühmann vorgelegt wurden, sind im Rahmen der hier vorgeschlagenen Diskussion des Heldenbegriffs weniger geeignet,

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 denn sie harmonisieren die divergente Stofftradition. Dies erscheint gerade im Hinblick auf die Rezeptionsgeschichte der Siegfriedgestalt problematisch. So steht das Nibelungenlied in einer mündlichen Erzähltradition, für die auch in anderen Volkssprachen literarische Zeugnisse überliefert sind. Als Sigurd (altnordische Edda), Sigemund (altenglischer Beowulf) oder eben Sîfrit (mittelhochdeutsches Nibelungenlied) hat ‚Siegfried‘ ganz unterschiedliche Gestaltungen erfahren. Das gemeinsame Substrat dieser Sagengestalt ist jener Superheld mit Schatz und Schwert, Kraft und vermeintlicher Unverwundbarkeit, der schon im 19. Jahrhundert in der Germanistik aus den überlieferten Textzeugen zusammengesetzt und als Nationalheld popularisiert wurde. Allerdings wird in keinem der überlieferten Texte aus dem 11. bis 13. Jahrhundert ein solch ‚idealer‘ Held präsentiert, ja ganz im Gegenteil: Siegfried hat im jeweiligen Text durchaus subversive oder gar zwielichtige Züge. Man mag auf diese Unterscheidungen in der Darstellung des Helden zugunsten sagenhistorischer Vollständigkeit verzichten wollen – so wie Fühmann, wenn er in seine Nacherzählung des mittelhochdeutschen Nibelungenlieds den Inhalt der altnordischen Edda-Lieder integriert. Doch mit einem solchen Aufsummieren von Taten und Eigenschaften der unterschiedlichen Siegfriedfiguren wird gerade jene Frage ausgeklammert, um die es in diesem Band zentral geht: Wie wird der Held im jeweiligen Text dargestellt? Es geht also nicht um eine aus verschiedenen Textzeugen der vormodernen Literatur gewonnene Sagengestalt eines Superhelden, sondern um eine Figur (Sîfrit) eines konkreten literarischen Werks (Nibelungenlied), deren Verständnis an historische und literarhistorische Voraussetzungen gebunden ist. Vor diesem Hintergrund geht dann auch der in Schulbüchern häufig angebotene Brückenschlag von der Siegfried-Gestalt zu Superhelden der Moderne und Postmoderne (z.B. Superman) nicht mehr auf. Diese gegenüber den Lehrplänen andere Perspektivierung der Heldenfigur Siegfried legt eine Verlagerung des Stoffs aus der Unter- in die Oberstufe nahe.



Das Nibelungenlied hat seit dem 19. Jahrhundert eine reiche und teilweise problematische Rezeptionsgeschichte erfahren (vgl. Kapitel 2, 18-20). Da die produktive Auseinandersetzung mit Stoff und Text in Film, Theater, Oper, Comic und Literatur anhält – vgl. die Nibelungen-Festspiele in Worms oder die Bayreuther Neu-Inszenierung von Wagners Ring des Nibelungen im Jahr 2013 – kann davon ausgegangen werden, dass die meisten Schülerinnen und Schüler ein gewisses Vorwissen zu Siegfried mitbringen.

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 Die Lektüre-Erfahrungen mit dem mittelhochdeutschen Text können daher nicht zuletzt auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Vorwissen und der Rezeptionsgeschichte der Siegfriedgestalt, vor allem mit dem Klischee des blonden und blauäugigen Helden, genutzt werden.





3.2 Die Vorausdeutungen auf den Tod des Helden





Bereits mit seinem ersten Auftreten in der zweiten →Aventiure – als Aventiuren werden die Gliederungsabschnitte des Nibelungenlieds bezeichnet – wird Sîfrit als strahlender Held entworfen: Der Xantener Königssohn ist schön und stark, er ist mutig und in seiner goldglänzenden Rüstung eine prachtvolle Erscheinung. Viele große Taten hat er schon vollbracht, und viele Frauen fühlen sich zu ihm hingezogen. Was der Erzähler in der zweiten Aventiure als Heldenbild zeichnet, wird in der dritten Aventiure bei der Ankunft Sîfrits in Worms bestätigt. Nachdem dieser sich und seine zwölf Begleiter für seine Werbung um Kriemhilt mit schönen Pferden, goldgeschmücktem Saum- und Sattelzeug und beeindruckend großen Waffen hatte ausstatten lassen, machen die Helden am Wormser Hof einen umwerfenden Eindruck: Niemals zuvor, so kommentiert der Erzähler, habe man in Worms derart prachtvoll ausgestattete Helden gesehen (72,4),

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 und so werden Sîfrit und seine Krieger von allen Seiten angestaunt:



74 Die goltvarwen zoume fuortens an der hant,



sîdîniu fürbüege: sus kômens in daz lant.



daz volc si allenthalben kapfen an began.



dô liefen in engegene vil der Guntheres man.



In der Hand hielten sie goldfarbenes Zaumzeug,



Brustriemen aus Seide: So kamen sie in das Land (der Burgunden).



Die Leute staunten sie überall an.



Viele Gefolgsleute Gunthers liefen ihnen entgegen.



Wenn man diese glanzvolle Einführung des Helden in die Handlung betrachtet, könnte man versucht sein, Andreas Heuslers Urteil über Sîfrit zuzustimmen: „ ist eine reine Idealgestalt, ohne Vorbild in der Geschichte.“ (Heusler 1905: 46). Doch diese verkürzte Betrachtung als Musterheld lässt unberücksichtigt, dass die Profilierung Sîfrits zur einmaligen Heldenfigur von Anfang an mit der Ankündigung seines baldigen und jammervollen Todes verbunden ist.





3.2.1 Erzählervorausdeutungen





Das Nibelungenlied ist durchzogen von Vorausdeutungen des Erzählers. Darin kündigt er wiederholt an, dass diese Geschichte ganz sicher kein gutes Ende nehmen wird. Bei diesen Vorwegnahmen handelt es sich um ein Gestaltungsmittel, das in der Epik des hohen Mittelalters durchaus verbreitet ist: Auch in Gottfrieds von Straßburg Tristan, im Rolandslied Konrads, im Herzog Ernst oder im Willehalm Wolframs von Eschenbach gibt der Erzähler solche Hinweise auf den weiteren Fortgang der Handlung. Aber kein Erzähler – so hat Burghart Wachinger (1960) gezeigt – setzt die Vorausdeutungen so zahlreich und gezielt ein wie der des Nibelungenlieds. Immer wieder und zwar bevorzugt an solchen Textstellen, an denen von Fest und Freude die Rede ist, prophezeit er die kommende Katastrophe. Schon in der zweiten Strophe wird darauf verwiesen, dass Kriemhilt schön sei, dass aber ihretwegen viele Helden das Leben verlieren werden:



2 Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn,



daz in allen landen niht schoeners mohte sîn,



Kriemhilt geheizen: si wart ein schoene wîp.



dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.



In Burgund wuchs ein so schönes Mädchen heran,



dass ihr an Schönheit kein anderes gleichen konnte.



Das Mädchen hieß Kriemhilt und wuchs zu einer schönen Frau heran.



Wegen ihr mussten viele Krieger das Leben verlieren.



Viele dieser Vorausdeutungen kündigen allgemein an, dass die geschilderte Festfreude nicht von Dauer sein wird; viele im ersten Teil des Nibelungenlieds beziehen sich aber auch konkret auf den bevorstehenden Tod Sîfrits. Als etwa die erfolgreiche Überwindung Prünhilts gefeiert wird, beschließt der Erzähler den Hinweis auf die Fahrt nach Îsenstein mit der Feststellung: dâ von im leide geschach (338,4 ‚daraus entstand ihm Leid‘). Und als Sîfrit und Kriemhilt im weiteren Handlungsverlauf zum Fest nach Worms reisen, weist der Erzähler auf die Folgen für ihr in Xanten zurückgelassenes Kind hin: sîn vater unt sîne muoter gesach daz kindel nimmer mêr (780,4 ‚niemals sollte das Kind seine Mutter und seinen Vater wiedersehen‘). Als dann der Tross vorgeblich zur →Jagd aufbricht, deutet er wiederum auf das drohende Unheil voraus: zeinem kalten brunnen verlôs er sît den lîp (917,3 ‚an einer kühlen Quelle verlor er später das Leben‘). Den nächsten Hinweis auf seinen baldigen Tod gibt der Erzähler, als Sîfrit sich von Kriemhilt verabschiedet: si gesach in leider dar nâch nimmer mêr gesunt (925,4 ‚danach hat sie ihn niemals wieder lebend gesehen‘). Und als Sîfrit schließlich bereits des tôdes zeichen (987,3) trägt, also bereits auf den Tod verwundet ist, da weist er ein weiteres Mal voraus, nun auf den Kummer, den sein Tod für die Gesellschaft am Hof bedeutet: sît wart er beweinet von schœnen frouwen genuoc (987,4 ‚später wurde er von zahllosen schönen Damen beweint‘). Die glanzvolle Gegenwart des Helden wird vom Erzähler durchgängig mit seiner Ermordung in naher Zukunft kontrastiert.





3.2.2 Warnungen durch Träume





Die Kontrastierung von Zukunft und Gegenwart wird durch Warnungen auf der Handlungsebene unterstützt. Denn auch die Figuren sprechen Mahnungen aus. So warnen zunächst Sîfrits Eltern ihn vor dem Aufbruch nach Worms, ihn könne die Wahl gerade dieser Braut teuer zu stehen kommen. Später äußert Kriemhilt Bedenken vor der Werbungsfahrt nach Îsenstein. Und sie warnt Sîfrit schließlich nachdrücklich davor, an der Jagd teilzunehmen. Aber alle diese Warnungen werden vergeblich ausgesprochen. Sîfrit lässt sich nicht beirren.



Die Mahnungen sind unterschiedlich motiviert. Die Eltern Sîfrits haben gehört, dass man am Wormser Hof besonders stolz sei (53); Kriemhilt weiß vor dem Aufbruch nach Îsenstein womöglich von der Gefährlichkeit Prünhilts (371–375). In den anderen vergleichbaren Fällen aber wird Kriemhilt ihrerseits durch Träume gewarnt. Der berühmteste Traum im Nibelungenlied ist der sogenannte Falkentraum Kriemhilts, mit dem die erste Aventiure abschließt und der also geschildert wird, bevor Sîfrit überhaupt in die Handlung eintritt.



13 In disen hôhen êren troumte Kriemhilde,



wie si züge einen valken, starc schoene und wilde,



den ir zwêne arn erkrummen. daz si daz muoste sehen!



ir enkunde in dirre werlde leider nimmer geschehen.



In dieser hohen Stellung träumte Kriemhilt,



wie sie einen schönen und wilden Falken aufzöge,

 



den ihr zwei Adler zerfleischten. Dass sie dies mit ansehen musste!



Das war das Schlimmste, was ihr jemals hätte zustoßen können.



14 Den troum si dô saget ir muoter Uoten.



sine kundes niht bescheiden baz der guoten:



»den valken den du ziuhest, daz ist ein edel man.



in enwelle got behüeten, du muost in schiere verloren hân.«



Von dem Traum erzählte sie ihrer Mutter Ute.



Diese hätte es ihrer Tochter nicht besser erklären können:



„Der Falke, den du aufziehst, das ist ein angesehener Mann.



Wenn Gott ihn nicht beschützt, musst du ihn bald wieder verlieren.“



15 »Waz saget ir mir von manne, vil liebiu muoter mîn?



âne recken minne sô wil ich immer sîn.



sus schoene will ich belîben unz an mînen tôt,



daz ich von mannes minne sol gewinnen nimmer nôt.«



„Was redet ihr da von einem Mann, liebe Mutter?



Ich will immer ohne die Liebe eines Recken sein



und so schön wie jetzt bleiben bis zu meinem Tod.



Denn niemals will ich durch die Liebe eines Mannes Leid erfahren.“



16 »Nu versprich ez niht ze sêre«, sprach aber ir muoter dô.



»soltu immer herzenlîche zer werlde werden vrô,



daz geschiht von mannes minne. du wirst ein schoene wîp,



ob dir noch got gefüeget eins rehte guoten ritters lîp.«



„Nun leg dich nicht zu sehr darauf fest,“ entgegnete ihre Mutter.



„Wenn du jemals in dieser Welt glücklich sein willst,



dann geschieht dies durch die Liebe eines Mannes. Du wirst eine schöne Frau,



wenn Gott dir einen vortrefflichen Ritter zuführt.“



17 »Die rede lât belîben«, sprach si, »frouwe mîn!



ez ist an manegen wîben vil dicke worden schîn



wie liebe mit leide ze jungest lônen kan.



ich sol si mîden beide, sone kan mir nimmer missegân.«



„Redet so nicht weiter, meine Herrin!“ sagte Kriemhilt.



„Es hat sich an vielen Frauen oft erwiesen,



dass am Ende Liebe mit Leid bezahlt wird.



Ich werde daher beides vermeiden, damit mir nichts Schlimmes geschehen kann.“



18 Kriemhilt in ir muote sich minne gar bewac.



sît lebte diu vil guote vil manegen lieben tac,



daz sine wesse niemen den minnen wolde ir lîp.



sît wart si mit êren eins vil küenen recken wîp.



Kriemhilt versagte sich jeden Gedanken an Liebe.



So lebte die junge Frau noch eine ganze Weile,



ohne dass sie sich je in einen Mann verliebt hätte.



Später aber wurde sie die angesehene Frau eines tapferen Kriegers.



Der Falkentraum wird von Kriemhilts Mutter Ute als Warnung ausgelegt: Ihr späterer Mann sei in großer Gefahr, wenn Gott ihn nicht schützen werde. Das soll Kriemhilt nach Utes Auffassung keineswegs davon abhalten zu heiraten, denn nur durch eine Heirat könne sie eine ‚schöne Frau‘, eine angesehene Königin, werden. Doch erst einmal sieht es so aus, als ob Kriemhilt sich – ganz anders als Sîfrit – warnen ließe. Nachdem sie Utes Traumdeutung gehört hat, erklärt sie, dass sie sich niemals verlieben wolle. Zum Abschluss der Aventiure aber wird vorausgedeutet, dass der Traum in Erfüllung gehen werde: Kriemhilt werde später einen vil küenen recken heiraten (18,4), bei dem es sich um jenen Falken handele, von dem sie geträumt hat (19,1f.: Der was der selbe valke, den si in ir troume sach, / den ir beschiet ir muoter). Dass sich auch der Rest des Traums, die Tötung des Falken, bewahrheiten werde, daran lässt der Erzähler in seiner die Aventiure beschließenden Vorausdeutung keinen Zweifel: wie sêre si daz rach / an ir næhsten mâgen, die in sluogen sint! / durch sîn eines sterben starp vil maneger muoter kint. (19,2–4 ‚Wie sehr rächte sie an ihren Verwandten, dass sie ihn später umbrachten. Für den Tod dieses einen Mannes mussten ungezählte andere sterben‘). Mit Traum und Deutung und deren Bestätigung durch den Erzähler wird somit schon in der ersten Aventiure des Nibelungenlieds die Wendung in die Katastrophe vorgezeichnet.



Der Falkentraum bleibt nicht der einzige Traum Kriemhilts. Auch als Sîfrit sich für die Jagd verabschiedet, beruft sie sich auf unheilverkündende Träume, um ihren Mann von der Teilnahme abzuhalten. Sie habe, so erklärt sie zunächst, von zwei Wildschweinen geträumt, die ihn überfielen, und sie deutet dies als Hinweis auf die Feindschaft ihrer Verwandten; Sîfrit aber erklärt: ine weiz hie niht der liute, die mir iht hazzes tragen. / alle dîne mâge sint mir gemeine holt (923,2f. ‚Ich kenne hier niemanden, der mich hasst. Alle deine Angehörigen begegnen mir gleichermaßen mit Wohlwollen‘). Auch als Kriemhilt ihre Warnung mit dem Hinweis auf einen zweiten Traum untermauert, in dem zwei Berge auf ihren Mann herabstürzen, lässt sich Sîfrit nicht abhalten. Er umarmt seine Frau, und der Erzähler stellt heraus, dass dies das letzte Mal ist, denn sie wird ihn nie wieder lebend sehen (vgl. 925,4). Dass Sîfrit sich um die Warnungen nicht schert, ist nicht nur seinem heldenhaften →Übermut geschuldet, sondern auch seiner Unkenntnis, dass Kriemhilt seine verwundbare Stelle verraten hat. Allein durch einen Hinweis auf ihre Indiskretion hätte sie ihren Mann tatsächlich vor dem Verrat Hagens schützen können. „Der Dichter begründet ihr Schweigen ausdrücklich“ mit fehlendem Mut (Wachinger 1960: 36 mit Verweis auf 920,1: sine torste ir niht gesagen – ‚sie traute sich nicht es zu sagen‘).



Wir können vorläufig festhalten, dass der Erzähler eine Reihe von Hinweisen auf die kommende Katastrophe gibt und dass auch die Figuren wiederholt Warnungen aussprechen oder ihrerseits durch Träume vor der Zukunft gewarnt sind. Dadurch steht alle im Text entfaltete Freude und Pracht von vornherein unter dem Stigma, dass sich Festfreude und Heldenpracht nicht verstetigen lassen, und dieser „pessimistische[] Grundton“ (Schulze 2003: 121) trifft auch den Helden: Seine Inszenierung als einzigartig strahlender Held ist von Anfang an rückgebunden an den Umstand seines baldigen Todes. Die durchgängige Betonung dieses Gegensatzes von überragender Gegenwart des Helden und künftiger Katastrophe fügt sich zur existenziellen Aussage des Textes: Kein Glück ist von Bestand, Freude ist niemals auf Dauer gestellt und markiert erst recht nicht den Ausgang dieser Geschichte (vgl. Wachinger 1960: 25f.).



Die Erzähltechnik der Vorausdeutungen kann im Unterricht in der Textarbeit ermittelt werden. An dem Zeitadverb (sît ‚später, danach‘) und an der Verwendung des Futurs lassen sich die Vorwegnahmen durch den Erzähler erkennen. Aus dieser Beobachtung erschließt sich auch die Frage nach der Erzählperspektive, denn nur ein allwissender Erzähler verfügt über das Wissen, was später passieren wird. Ferner lässt sich mit den Schülern und Schülerinnen die Frage diskutieren, welche Art von Spannung (‚Ob überhaupt‘- oder ‚Wie-Spannung‘) der Text aufbaut, wenn er das Ergebnis der Handlung fortlaufend mitteilt. In diesem Punkt ergibt sich eine Differenz zu aktuellen Textbeispielen der Jugendliteratur, in denen die Frage ‚Wie geht die Geschichte für den Helden aus?‘ in der Regel offen bleibt.

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Den Schülerinnen und Schülern sind Beispiele für Warnungen des Helden aus der Kinder- und Jugendbuch-Literatur bekannt. Harry Potter und Frodo aus Tolkiens Herrn der Ringe werden durch Träume oder Narben gewarnt, die sie in der Auseinandersetzung mit ihren Gegenspielern empfangen haben. Sobald sich die Gefahr verdichtet, nimmt der Schmerz in der Wunde zu. Auch Krabat aus dem gleichnamigen Buch von Otfried Preußler wird gewarnt: Die Klinge seines Messers verfärbt sich umso stärker, je drohender die Gefahr. Aber alle diese Helden nehmen – anders als Sîfrit – die Warnungen ernst und versuchen, durch erhöhte Vorsicht und Aufmerksamkeit das Risiko einer Gefährdung gering zu halten. Der Gegensatz zum unbekümmerten Sîfrit, der alle Warnungen in den Wind schlägt, könnte größer nicht sein.





3.3 Der Held und seine Hilfsmittel





Freilich gibt es für diese Unbekümmertheit gute Gründe: Sîfrit überragt alle durch Kraft, durch Schönheit, durch Mut und durch Vermögen. Er hat in der Anderwelt des Nibelungenlandes mit Horterwerb und Drachenkampf fantastische Heldentaten vollbracht, und eben dort hat er sich auch außergewöhnliche Gegenstände angeeignet, nämlich das Schwert Balmunc, die Tarnkappe, den unermesslich großen Hort und die aus d

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