Von einer, die auszog, einen Büstenhalter zu stehlen

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Da Jesus, so meine Gedanken, sicher das Überleben über meine Luxusforderungen stellen würde, wären ihm die Negerlein wichtiger. Also würde er nicht mit mir reden. Er würde mich fallen lassen und auch nichts sagen. Und auch dieses Nichtssagen wäre schwerer auszuhalten, als jede Schimpftirade meiner Eltern. Und die würden nicht nur schimpfen. Sie nannten es drüber hauen. In meiner Erinnerung wurde oft drüber gehauen.

Ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte – ich musste mir den Zugang zu diesem Büstenhalter ergaunern. Auf ehrlichem Weg war da nichts zu machen. Die Folgen, wie schlimm sie auch wären, musste ich in Kauf nehmen. Also plante ich den Einbruch. Was blieb mir übrig?

Meine Schwester und ich waren abends – gefühlt oft – alleine im kleinen Häuschen. Wenn meine Eltern ausgingen, machten sie einfach eine Kette von außen vor die Kinderzimmertür. Ich erinnere mich noch genau an die quälende Angst, die ich jedes Mal ausstand. Dieses Gefangensein im Kinderzimmer! Ich kann mich noch an mein Körpergefühl erinnern, meinen Herzschlag spürte ich jedes Mal in meinen Ohren. Meine Angst legte sich wie eine Hülle um mich herum, schwer und neblig. Es war, als wäre ich in meiner Angst gefangen und irgendwie kam ich mit dem Atemholen nicht mehr nach. Sie war grauenhaft, diese Angst.

Ich wusste, meine Schwester und ich würden in der Falle sitzen, falls ein böser Mensch, ein Spitzbov, ins Haus käme, zum Beispiel durch die niedrigen Fenster des Wintergartens, um zu klauen. Hatten meine Eltern überhaupt Silber und Gold? Es konnte auch ein Feuer ausbrechen und dann würden wir keine Chance zur Flucht haben. Das wusste ich von den Feuerwehrmännern, die kurz vor Weihnachten immer die riesige Tanne vor dem Haus mit einer Lampenkette schmückten. So etwas tat die Feuerwehr damals noch für einen Kasten Bier. Ich habe zugesehen und weiß noch, wie beeindruckt ich war, als sie die große Leiter ausfuhren, zu mehreren hochkletterten und die Glühbirnen anbrachten. Einer der Feuerwehrmänner erklärte mir lang und breit, dass unser altes Fachwerkhaus sehr schnell brennen würde. Und wir, meine Schwester und ich, würden aus dem Fenster unseres Kinderzimmers im ersten Stock nicht springen können.

Ich habe meine Eltern zwar angebettelt und gefleht, sie mögen doch bleiben oder uns mitnehmen, aber das haben sie wohl nicht gehört. Kindern hörte man nicht zu, damals in den 60ern. Die Erwachsenen waren mit sich und den wichtigen Dingen beschäftigt. Das hatte ich kapiert. Es war zum Verzweifeln. Wenn man wollte, dass einem jemand zuhörte, musste man wohl erwachsen sein. Ich hatte eine Ahnung, dass das noch lange dauern konnte.

Wenn meine Eltern abends also wieder einmal weggingen, meistens über die Straße zu Tante Sophie, dann müsste ich die Tür öffnen. Vorher müsste meine kleine Schwester eingeschlafen sein. Die würde sonst mitkommen wollen. Das wäre dann das Aus. Ich allein konnte vielleicht über die Mauer klettern und dann im Schatten der Häuserwand oder der Bäume auf den Wiesen entlang bis zu Gertruds Haus laufen. Aber mit Beatrix – ausgeschlossen. Also musste ich warten. Auf die eine Gelegenheit. Und wenn diese kam, durfte ich es nicht vermasseln. Es gäbe keine zweite Chance! Falls etwas schief laufen würde, müsste ich womöglich ins Gefängnis. Wahrscheinlich bis zu meinem zehnten Lebensjahr – dann würde es zu spät sein. Die Gelegenheit wäre unwiederbringlich vorbei und meine Sehnsucht, alles zu erfahren über mich, die anderen, das was nicht sichtbar war, die andere Welt, von der ich überzeugt war, dass es sie gab, wäre verloren. Für immer.

An den nächsten Abenden kam die Reklame wieder und mein Plan wurde konkret: Als Erstes musste die Kette weg.

Ich probte die Entfernung der Kette an der Kinderzimmertür tagelang, wochenlang, bis es klappte. Dazu stellte ich mich auf ein Höckerchen und ertastete mit der Hand durch den Türspalt die Kette. Vorsichtig schob ich den Kettenkopf entlang der Führung. Das war ein kritischer Moment. Der Kettenkopf durfte nicht herausfallen, denn wenn die Kette nicht mehr vorgelegt gewesen wäre, hätten meine Eltern Verdacht geschöpft. Das war gar nicht so einfach, aber ich war höchst motiviert und probierte tagelang, besser gesagt nächtelang, bis es klappte. Manchmal gelang es mir, manchmal nicht. Aber ich wurde immer geschickter.

Dann endlich, an einem Abend kurze Zeit später, spürte ich die Aufbruchstimmung. Meine Eltern rüsteten sich mal wieder zu gehen und ich war bereit. Sie brachten uns ins Bett, stießen noch ein paar wüste Drohungen aus für den Fall, dass wir nicht lieb wären, und gingen. Die Haustür fiel ins Schloss. Dann war es ruhig. Aber nur kurz. Meine kleine Schwester hatte bereits damals eine alle Materien durchdringende Stimme. Sie knöpfte sich den Schlafsack auf, stellte sich in ihrem Gitterbettchen auf, rüttelte an den Stäben und brüllte mich auffordernd an: „Bomm … bomm …“ Das hieß: Komm' und spiel` mit mir!

Ungeduldig kam ich dieser Aufforderung so lange nach, bis sie endlich erschöpft einschlief. Ich vergewisserte mich, dass sie auch wirklich eingeschlafen war, indem ich sie mehrfach anstupste. Sie nuckelte an einem nicht vorhandenen Schnuller. Nur ein Schmatzen war zu hören und die tiefen, regelmäßigen Atemzüge eines Babys.

Also los! Ich schob den Hocker bis zur Tür, kletterte hinauf und drückte die Klinke hinunter. Mit geübter Hand ertastete ich draußen die Kette, mit der anderen zog ich die Tür gefühlvoll etwas aus der Spannung – genauso viel, wie es brauchte, um die Kette langsam, Stück für Stück, aus der Führung zu schieben. Und siehe da: die Kette fiel herunter und klackerte außen gegen die Tür. Besorgt sah ich zu meiner kleinen Schwester. War sie aufgewacht? Nein, sie lag nass geschwitzt verkehrt herum in ihrem Bettchen und schnarchte regelmäßig. Erleichtert atmete ich auf.

Dann rutschte ich die steile Treppe am Geländer hinunter. Für die Treppenstufen war keine Zeit. Heute war nicht der Abend für Angst. Heute könnte ich es erfahren. Unten angekommen, schlich ich mich zur Haustür, öffnete sie, huschte hinaus und ließ sie leise hinter mir ins Schloss fallen. Ich lief über die Waschbetonfliesen, die mein Vater zu einem Weg ums Haus herum durch den Garten in den Rasen gelegt hatte. Mist! Ich hatte vergessen, meine Schuhe anzuziehen. Die Steinchen pikten mich in die Fußsohlen, aber ich konnte an diesem Abend nicht an alles denken. Dann musste es jetzt eben barfuß gehen. Indianer kennen keine Schmerzen! Heute Abend war ich eben ein Indianerkind.

Ich hatte die Kette besiegt, jetzt musste ich nur noch über die Mauer klettern und mich an der anderen Seite vorsichtig herunterlassen. Dumm nur, dass genau an diesem Abend, an dem alles wie am Schnürchen geklappt hatte, auf der anderen Seite der Mauer dieser Mann mit Hut und dunklem Mantel auf den Bus wartete. Der Mann war genauso überrascht wie ich. Er blickte auf mich herab und fragte mich in diesem keinen Widerspruch duldenden Ton, in dem man in den 60ern zu Kindern sprach, was ich auf nackten Füßen und nur mit einem Nachthemd bekleidet und überhaupt um diese Uhrzeit hier zu suchen habe. Mein Herz klopfte so, dass ich dachte, mein ganzer Körper zucke im Takt des Herzschlages und der Mann könne es schlagen hören. Was sollte ich sagen? Ich konnte ihm ja schlecht erklären, ich sei auf der Jagd nach einem Büstenhalter. Das ließ ich vorsichtshalber. Also stotterte ich, dass ich meine Eltern suchen würde und die seien bestimmt bei der Tante Sophie gegenüber.

„Aha, Tante Sophie! Na, das werden wir ja sehen!“ Entschlossen packte er mich mit Schraubstockhänden und brachte mich über die Straße. Ich hoffte, er würde mich nun loslassen und seiner Wege gehen. Leider sah er es als seine Pflicht an, mich persönlich bei Tante Sophie abzugeben. Ich musste ihm die Haustür zeigen, er klingelte und mit dem Öffnen der Tür brach in mir meine kleine Einbruchs-Büstenhalter-Klauen-und-endlich-wissen-woher-ich-komme-und-was-ich-hier-auf-Erde-eigentlich-soll-Welt zusammen und die Strafe über mich herein.

Mein Vater wartete noch, bis der hilfsbereite Herr in Schwarz über die Straße in Richtung Bushaltestelle verschwand, und ging dann auf mich los: „So, Frollein! Das darf doch nicht wahr sein!“, stieß er hervor und prügelte auf mich ein. Mein Vater verstand da keinen Spaß. Gewöhnlich legte er mich über seine Knie und hieb feste auf mein Hinterteil. Manchmal zog er mir noch die Hose aus und schlug mir auf den nackten Po. Jedes Mal dachte ich: Jetzt ist alles vorbei. Das Leben. Und sie werden mich nie wieder lieb haben. Das wird nie wieder gut. Es tat schrecklich weh. Es war demütigend und auf eine bestimmte Art auch sadistisch. Offensichtlich waren diese Grausamkeiten Kindern gegenüber alltäglich und wurden von jedem Erwachsenen gebilligt und gelebt.

Es war Tante Sophies Beschwichtigungen („Bruno, hör doch auf, es ist jetzt gut!“) zu verdanken, dass es diesmal einigermaßen glimpflich für mich abgegangen war. Aber ich fühlte mich, wie immer, sehr elend. Ich überlegte, ob das Sich-elend-Fühlen daher kam, dass ich eigentlich gar nichts Böses wollte? Und ob ich mich auch so elend fühlen würde, wenn ich etwas richtig Böses mit voller Absicht getan hätte?

Jedenfalls wurde ich unter Schimpfkanonaden („Das Kind ist doch wirklich schwierig und nervig! Nicht einmal abends können wir weggehen, ohne dass dieses blöde Stück uns das Leben schwer macht!“) und wüsten Drohungen für den Wiederholungsfall wieder in mein Bett verfrachtet. Was für eine Last war ich doch meinen Eltern! Fast hätte ich resigniert. Mir war nach Ruhe, nach Aufgabe zumute.

Am nächsten Tag ließ sich mein Vater zeigen, wie ich die Kette hatte entfernen können: „Los, Frollein, zeig' mir mal, wie einfach es ist, die Kette aufzumachen! Was glaubst du, warum ich die angebracht habe? Damit du wegläufst? Mädchen, Mädchen!“, drohte er mir mit erhobener Hand wie so oft und ich hoffte inbrünstig, die Hand würde diesmal nicht auf mich niedersausen. Dann schraubte er, immer noch schimpfend, die Kette so an, dass sie für mich nicht mehr zu erreichen war. Angeblich wegen der steilen Treppe – damit wir nicht hinunterfielen. Nachts war sie wahrscheinlich steiler als am Tage. Tagsüber gab es keine Kette. Was die Erwachsenen nicht wussten: Wenn es keiner sah, rutschte ich sowieso am Treppengeländer hinunter. Das schien mir sicherer, als die steilen Stiegen zu benutzen.

 

Als ich an einem der nachfolgenden Tage wieder einmal an der Hand meiner Tante bei Gertrud im Laden war, nahm ich all meinen Mut zusammen, fragte Gertrud nach dem Zauberbüstenhalter und erzählte von der Reklame im Fernsehen. Ihr Gesicht verzog sich zum Schmunzeln. Oh, den Büstenhalter, den führe sie gar nicht, sagte Gertrud. Man müsse nicht allen neumodischen Kram mitmachen. Tante Sophie pflichtete ihr bei und rasch waren die beiden in ein Gespräch über die Segnungen und Schattenseiten des modernen Lebens vertieft. Der moderne Kroom, wie sie es nannten, der aus Amerika und England herüber schwappte, nahm keine gute Entwicklung. Vor allem die Beatles seien sehr gefährlich mit ihren langen Haaren! Damals hielten sie jeden jungen Mann mit langen Haaren für einen Beatle. Ungepflegt. Bah! Was sollte nur aus dieser Welt werden, wenn die eines Tages an die Regierung kommen! Jetzt, wo Adenauer nicht mehr lebte und nun auch Bobby Kennedy brutal erschossen worden war! Die letzte Hoffnung der westlichen Welt! Was sollte nur aus uns werden! So lamentierten Tante Sophie und Gertrud voller Sorge und waren offensichtlich in allen wichtigen Punkten einer Meinung.

Als ich mit Tante Sophie aus der Tür des Ladens trat, fiel mein Blick geradewegs auf das große Wegkreuz gegenüber der Straßenkreuzung. Das war sicher ein Zeichen, durchfuhr es mich: Jesus hatte mir doch geholfen und mich davor bewahrt, ins Gefängnis geworfen zu werden. Und davor, meinen Eltern und Tante Sophie eine solche Schande zuzufügen. Schlimm genug, dass ich schwierig war, ohne dass noch alle im Dorf auf meine arme Familie gezeigt und getuschelt hätten: „Stell' dir vor, die Anna ist im Gefängnis!“ – „Ach, das ist das Kind mit dem Büstenhalter … ha, ha, dass ihr so ein Kind habt …“ Und meine arme Familie wäre sehr beschämt gewesen, weil sie so ein dummes, neugieriges und problematisches Kind in ihren Reihen hatte.

Vorsichtshalber, und voller Angst vor neuen Schwierigkeiten, verbat ich mir, weiter über neue Pläne der Büstenhalter-Beschaffung nachzudenken, denn der Teufelsgedanke kam immer wieder: Irgendwo muss es doch diesen Büstenhalter geben!, nagte es an mir. Es kaufen doch Frauen diesen Büstenhalter, die Frau im Fernsehen hat auch einen! So funkten die bösen Gedanken immer wieder in mein Bewusstsein hoch und ich hatte große Mühe meine unstillbare Neugier auf die Zeitreise zu unterdrücken und ein liebes Kind zu sein.

Alles in allem habe nicht verstanden, warum die Erwachsenen so gleichgültig gegenüber den wichtigen, existenziellen Fragen des Lebens sein konnten, wo doch die Antwort so einfach, mit dem richtigen Büstenhalter, zu finden war.

Als die Sommer grau wurden

Im Garten meiner Tante Sophie, bei der ich den meisten Teil des Tages verbrachte, weil meine Eltern arbeiteten, stand am Rand des Hofes ein großer Kirschbaum neben einem Rispenspierebusch. Den hatte sie zur Hochzeit geschenkt bekommen, erzählte Tante Sophie oft. Und so sah er auch aus: wie die Dekoration für eine Hochzeitsfeier. Ein weißes Blütenmeer auf dunkelgrünem Blätterarrangement.

Bauernstauden, Nutzgarten, alte Bäume, ein Teich und verwinkelte Beete gaben dem Garten ein ganz besonderes, fast verwunschenes Ambiente. Damals, als ich gerade einmal einen Meter maß und nicht über die Blumen und Pflanzen schauen konnte, war er ein Paradies und irgendwie auch ein Zuhause für mich.

Tante Sophie hatte Hühner, Kaninchen, Enten, manchmal auch Gänse. Sie lebten ein glückliches Tierleben bei Tante Sophie. Einmal hatte Tante Sophie einem Huhn ein Entenei zum Brüten untergeschoben. Als das kleine Entchen kaum geschlüpft war, sauste es schon los in den kleinen Teich. Der war im Krieg ein großes, rundes Waschbecken für die Soldaten gewesen, das mein Urgroßvater angeschafft hatte. Das Huhn, das dachte, es sei seine Mama, flitzte hinter ihm her und wirkte fassungslos. Aufgeregt und besorgt gackernd hastete es immer um den kleinen Teich herum. Das kleine Entchen dachte gar nicht daran, aus dem Wasser zu steigen und wunderte sich wahrscheinlich, warum seine Mama nicht auch ins Wasser kam. Ich war begeistert von dieser Vorstellung und liebte es, die Tiere zu beobachten.

Hin und wieder wurden die Tiere dann auch verspeist. Es gab Kaninchen mit Soße und Kartoffeln. Beim Anblick der gedeckten Tafel jauchzte mein Großvater entzückt: „Mhmm, lecker, Muckelchen!“, und rieb sich die Hände. Er hatte mal wieder einen Bärenhunger. Muckelchen nannte ich unsere Kaninchen zärtlich, wenn ich an den Käfigen stand und sie mit Salatblättern und Möhrchen fütterte. Seit ein paar Tagen fehlte eines der Kaninchen. Mir dämmerte etwas. Sollten die Fleischstücke, die in der Soße schwammen, etwa von diesem Kaninchen stammen? Ich brach in Tränen aus. Ich hatte das Kaninchen im Arm gehabt, hatte mein Gesicht in das weiche, warme Fell gekuschelt, es gestreichelt, gefüttert. Es war für mich ein Mitglied der Familie, das durfte man doch nicht töten und dann noch aufessen! Ich konnte nicht fassen, wie grausam die Menschen waren.

Mein Großvater, zuerst ganz erstaunt über meine Reaktion, schüttelte verständnislos den Kopf und fing an zu grinsen. Er fand es wohl lustig, dass ich wegen so etwas weinte. Manchmal konnte er richtig eklig sein. Als ich mich nach einer Weile immer noch nicht beruhigen wollte, wurde er ärgerlich: „Kenk, du weißt nicht, was Hunger ist. Mer hann im Kreesch de üvverfahrenen Kning von dr Stroß abjekratz.“ Er behauptete, sie hätten im Krieg die überfahrenen Kaninchen von der Straße abgekratzt, aber das half mir nicht.

Und gleich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Die Erwachsenen wollten, dass es mir besser ging als ihnen. Sie waren doch so liebe Menschen. Ich sollte keinen Hunger leiden wie sie und jetzt machte ich so ein Theater. Egal, mochten sie es auch noch so gut meinen, von diesem Fleisch brachte ich keinen Bissen herunter.

Mit der Zeit entwickelte ich einen immer größer werdenden Widerwillen, ja Ekel gegen Fleisch, als mir bewusst wurde, dass alle unsere Haustiere, ausgenommen die Hunde und Katzen, nicht nur zum Streicheln und Liebhaben, zum Eierlegen oder zum Entsorgen von Essensresten gehalten wurden, sondern auch dafür, geschlachtet und verspeist zu werden.

Ich weiß nicht genau, wer die anderen Tiere schlachtete, die Hühner und Enten wurden jedenfalls von Herrn Patkany getötet, der das offensichtlich sehr ernst nahm. Er wartete mit dem Töten, bis ich im Garten spielte, und achtete darauf, dass ich zusah. Daran erinnere ich mich, weil er immer schaute, wo ich denn blieb. Wenn ich zum Spielen in den Garten abkommandiert wurde, fing er das Huhn, sah zu mir und erklärte mir mit seiner singenden Stimme genau, was er tat: „So, jetzt leg ich es mit dem Kopf auf den Baumstumpf, halte es hier fest. Siehst du, da muss ich jetzt hinschlagen, dann ist es tot“, lachte er leise in sich hinein, legte es mit dem Kopf auf einen Baumstumpf und hieb ihm den Kopf ab. Dabei machte er ein wichtiges, entschlossenes, für den Bruchteil einer Sekunde auch ein unglaublich grausames Gesicht. Es war wie ein Blitz auf seinem Gesicht. In meinem inneren Dialog nannte ich das den Blitz der Wahrheit. Er schleuderte das Huhn in die Luft, sah freudig und erwartungsvoll zu mir und freute sich an meinem Entsetzen, wenn es kopflos flatterte. Meine Gefühle – noch heute – sind durchaus sehr körperlich.

Ich habe geweint und versucht, ihn abzuhalten. Das mochte er offensichtlich, vor allem seine Rolle als Tröster fand er gut. Zumindest habe ich das so in Erinnerung. Er sagte dann zu mir – und dabei wurde seine Stimme wieder ganz leise, singend und unheimlich: „Was weinst du? Das ist doch nicht schlimm! Die Tiere sind doch da, um getötet zu werden.“

Das konnte ich nicht glauben. Ich war so furchtbar ohnmächtig! Auch meine Freunde, die Entchen, tötete er hingebungsvoll. Er stach ihnen langsam und bedächtig ein Messer in den Kopf und legte sie dann nebeneinander. Ich empfand das als unvorstellbar grausam.

Herr Patkany war in seiner aktiven Arbeitszeit Wachmann gewesen. So lief er auch. Er ging nicht wie ein normaler Mann, er stolzierte immer. Langsam, gemächlich schritt er, leicht nach hinten gebeugt, majestätisch, wie ein kleiner, dicker König. Und immer klimperte er mit seinen Schlüsseln in der Hand, wirklich fast immer, sodass jeder wusste, er war im Anmarsch. Nur manchmal klimperte er nicht. Dann nicht, wenn keiner merken sollte, dass er im Garten war. Da er so klein war, vielleicht höchstens ein Meter fünfundsechzig, wirkte er auf Menschen oft komisch. Ich fand ihn absolut nicht komisch. Und dass er verhältnismäßig klein war, habe ich nicht so wahrgenommen. Ich war ja viel kleiner. Als wenn ich noch hätte lachen können, wenn er in der Nähe war! Obwohl er offensichtlich doch so ein friedfertiger Mensch war und seine rohe Gewalt doch eigentlich nur die Hühner und Enten zu spüren bekamen.

Niemand nannte ihn beim Vornamen, jeder sprach immer von oder mit Herrn Patkany. Er wohnte viele Jahre bei meiner Großtante zur Miete, mähte hin und wieder den Rasen oder tötete die Tiere. Wenn er etwas mit Tante Sophie zu besprechen hatte, klimperte er erst mit seinen Schlüsseln in der rechten Hand, dann bewegte er die linke Hand genau gleich, nur ohne Schlüssel. Danach redete er sie auf eine merkwürdige Art an. Er sagte nicht einfach nur: Frau Ellerstrom, sondern Ell'stroms Mutter. Offensichtlich redete man dort, wo er herkam, Mütter so an. Erst mit dem Nachnamen, dann mit dem Familientitel.

An einem Tag im Sommer gegen Ende der Sechzigerjahre war dann plötzlich alle Farbe weg und auch die Luft wurde unatembar. Er lag da, der Herr Patkany. Bräsig auf seinem Liegestuhl. Mitten im Garten. In dem Garten, in meinem Garten. Dort, wo ich spielen wollte. Wenn ich im Garten spielen soll, muss ich an ihm vorbei, dachte ich. Er wandte sich mir langsam und genüsslich zu und zog das Hosenbein seiner Shorts hoch, sodass sein Penis wie ein gekrümmter Wurm hervorkam und deutlich zu sehen war.

„Du darfst das keinem sagen“, beschwor er mich. „Setz dich hierher zu mir.“ Achtsam schaute er zum Haus. Er wollte offensichtlich sicherstellen, dass wir nicht gesehen werden.

Weglaufen und es Tante Sophie erzählen, das hätte ich mich nie getraut. So war es völlig überflüssig von ihm, mir zu drohen. Ich wäre im Boden versunken und hätte mich vorher in die Erde eingebuddelt, bevor ein Wort über meine Lippen gekommen wäre, so geschämt habe ich mich. Ich fühle die Peinlichkeit und auch Schuld heute noch. Die Erwachsenen hatten doch immer recht. Wenn ich ihnen davon erzählt hätte, wer hätte mir geglaubt? Sie haben mir ja auch sonst nicht einmal zugehört. Ich war doch erst vier Jahre alt. Wie hätte ich denn irgendetwas erklären, die richtigen Wort finden sollen? Die Worte hatte ich damals nicht und auch keine Chance. Außerdem war ich ja, so die allgemeine Meinung, ein schwieriges Kind mit zu viel Fantasie. Und ich hätte auch nichts erzählen wollen. Meine Mutter hätte mir höchstens Vorwürfe gemacht, die Lippen gekräuselt und mit ihren knochigen Fingern zum Schlag ausgeholt. Der hätte mich dann, wie so oft, nicht nur mitten ins Gesicht getroffen. Was hätte ich dann gewonnen? Mein Vater hätte entweder betreten zu Boden geschaut oder weggeguckt oder mir gedroht, wie ich so etwas nur sagen könne. „Kind, Kind, was erzählst du denn da?“, hätte Tante Sophie mehr gesagt als gefragt. „Wie kannst du nur? Schämst du dich denn gar nicht?“

Doch, doch, ich schäme mich! Ich schäme mich! Ich schäme mich! Es tut mir leid, es tut mir leid .

Ich wusste sehr genau, dass es absolut tabu war, über Sexualität zu sprechen oder gar sexuelle Handlungen vorzunehmen. Als meine Schwester geboren wurde, war ich gerade drei Jahre alt geworden. Ich habe ein kurzes Erinnerungsblitzlicht an ihre Taufe, nur wenige Wochen nach ihrer Geburt. Damals wartete man mit der Taufe nicht so lange, wie heutzutage. Ich stand an der Hand meiner Tante Sophie nach der Zeremonie im Eingang unserer Dorfkirche und wartete auf meine Eltern. Sie standen im Mittelgang vor dem Pastor, meine Mutter hielt den Säugling auf dem Arm. „Was machen die da noch?“, fragte ich meine Tante. Sie sah zu mir hinunter und meinte mit einem Gesichtsausdruck, den sie immer hatte, wenn sie nach Worten und Erklärungen rang: „Sie werden ausgesegnet.“ Ach, dachte ich und nahm die peinliche Stimmung meiner Tante auf, da ich keine Ahnung hatte, was aussegnen bedeutete. So fragte ich weiter und sie wand sich: „Deine Mutter hat ja ein Kind bekommen. Das ist sehr schön, aber weißt du, dann muss man trotzdem ausgesegnet werden.“ Mehr sagte sie nicht. Und ich erinnere mich genau, ich hatte verstanden. Weniger durch Worte, als mehr durch ihre Mimik und ihre Gestik, durch ihr Sich-Winden und ihre Verzweiflung, die ich in ihrem Gesicht lesen konnte und an der Stellung ihrer Hände. Sie hielt die Hand dann wie einen Fächer, so als wollte sie das Kleinkinderlied Wie das Fähnchen auf dem Turme mit den Händen begleiten. Ich war mit meinen drei Jahren weder aufgeklärt noch hatte mir irgendjemand etwas erzählt. Und dennoch war die Situation ein von Scham durchsetztes Debakel für mich. Für meine Tante offensichtlich auch. Ich konnte diesen Widerspruch, der da gelebt und hier regelrecht zelebriert wurde, spüren und auch meinen tiefen Widerstand dagegen. Meinen Widerwillen gegen etwas Verlogenes. Hier stimmt etwas nicht habe ich damals sicher eher als ein diffuses Gefühl wahrgenommen. Ein Kind in den Armen zu halten, ist das Schönste auf der Welt, so die allgemeine Meinung. Es in diese Welt zu holen, das war verdorben, zum Sich-tot-Schämen und böse. Ich war zutiefst verunsichert und erinnere mich genau, wie sich das anfühlte. Und an die Botschaft, die sie mehr nonverbal transportierte und an die Aussegnung, die danach auch nie wieder Thema in unserer Familie war.

 

Den Sommer über war Herr Patkany oft im Garten. Fast jeden Tag. Und ich war fast jeden Tag bei Tante Sophie. Wenn sie in der Nähe war, ließ er mich in Ruhe. War sie im Haus beschäftigt, zitierte er mich zu sich.

Diese Situationen mit Herrn Patkany waren tief schambehaftet und unerträglich. Sie waren wie eine immer wiederkehrende Qual. Manchmal dachte ich auch, dass ich es nicht überleben würde, weil mir die Kraft ausgehen könnte, der Atem nicht reichte. Ich überlegte dann, ob ich wohl den Nikolaus dieses Jahr noch einmal sehen könnte? Ob ich die tanzenden Flocken, die im Winter vom Himmel fielen und die die Luft für mich zu einem großen Aquarium machten, noch einmal sehen sollte? Ob das Christkind mich wohl wiedererkennen würde, wenn es nachts schaute, ob ich schlief? Aber selbst bei diesen Gedanken war mir auch deshalb schlecht, weil ich dachte, wie böse sie alle, meine Familie, mit mir wären, wenn ich einfach sterben würde. Es war ein elendiges Gefühl. Wann hörte es auf? Hörte es überhaupt irgendwann auf? Nicht nur das Ausgeliefertsein, sondern auch die Gewissheit, dass ich keine Hilfe bekäme. Dass mir niemand glauben würde, dass ich doch so gar nichts dafürkonnte. Oder konnte ich das doch? Diese stickige Luft, wenn der Garten grau wurde …

Wenn hin und wieder die Goldfische des Gartenteiches an Land lagen und zappelten, beobachtete ich das entsetzt und dachte: „Ich weiß, wie du dich fühlst, Fisch. Ich weiß es.“ Die Fische starben, es sei denn, jemand setzte sie zurück in den Teich. Falls es jemand tat. Ich hätte sie niemals angerührt. Dafür, dass ich ihr Leben nicht retten konnte, weil sie anzufassen mich so unsagbar ekelte, dafür hasste ich mich. Ich hätte den Fischen so gerne gesagt: Es tut mir leid! Es tut mir leid! Aber ich kann dich nicht anfassen, ich kann es nicht! Als ich es einmal versuchte, fühlten sie sich an wie der Penis des Herrn Patkany. Fische ekelten mich an. Und konnten doch nichts dafür! Die Macht über Leben und Tod bedrückte mich. So einfach war es also, zu sterben. Ob ich auch einfach so sterben würde, wenn ich keine Luft mehr bekam? Wo bist du, lieber Gott, wenn ein Fisch stirbt? Warum hilfst du ihm nicht? Oder den armen, armen Vögeln, die sich im Netz, das mein Großvater um seine Brombeeren gezogen hat, verfangen und sich zu Tode quälen. Diese armen, armen Vögel. Ich fühlte mich schlecht, schuldig und schmutzig.

So war ich mit Herrn Patkany und dieser unheilvollen Situation, den Hunderten Situationen im Laufe der Jahre, ganz allein. Und hilflos. Immer und immer wieder. Und fühlte absolut niemanden an meiner Seite, der mir geglaubt hätte und souverän genug gewesen wäre, hilfreiche Maßnahmen einzuleiten. Ich erinnere mich, wie er da lag, auf seinem Liegestuhl, und sich die Hose aufmachte. Er hat meine Hände genommen und sie zu seinem Penis geführt. Ich weiß noch ganz genau, wie widerlich es sich anfühlte, so knochenlos und weich und warm mit den vielen Hautschichten. Ein fieser, dicker, warmer Wurm. Außerdem stank er auch entsetzlich. Ich weiß noch, wie beklemmend es war und wie verzweifelt und ohnmächtig ich mich fühlte, wenn er meinen Kopf auf seinen Penis drückte. Meinen Mund füllte dieser amorphe, warme stinkende Wurm so aus, dass ich würgen musste. Jedes Mal in diesen Momenten wollte ich sterben. Aber wünschen, dass man stirbt, war ja auch nicht erlaubt. Da war es fast nicht mehr so schlimm, wenn ich ihn nur mit der Hand befriedigen musste. Wie ich mich fühlte, als ich diesen Wurm in den Mund nehmen musste, kann ich nicht beschreiben, ich habe keine Worte. Ich konnte ja nicht schreien, ich hatte ja den Mund voll. Es schmeckte so gallig. Und stank. Und Schreien war unmöglich. Die Schreie gingen nach innen und fanden keinen Ausgang. Eine Schrei-Ansammlung in meinem Körper. Wo sollte ich sie noch hin stopfen? So viel Körper hatte ich ja damals noch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie je einen Ausgang aus meinem Körper gefunden haben.

„Du musst die Haut so hoch und runter schieben, siehst du, so“, forderte er sehr deutlich. Er nahm meine Hand und legte sie um seinen Penis.

Ich wäre so gerne in der Erde versunken. Ich war schlecht. Ich war jetzt verunreinigt und böse. Von innen und von außen. Da war ich mir sicher. Ich war schuld im Sinne der Erwachsenen, des Gesetzes, aller Regeln dieser Welt. Und nach denen des lieben Gottes. Was, wenn er mich jetzt nicht mehr wollte, der liebe Gott? Dreckig und schuldig, wie ich war!

Herr Patkany sah mich drohend an. „Mach schon!“ Dann legte er sich zurück auf seinen Liegestuhl.

In meiner Erinnerung wird um mich herum alles grau. Die Blüte, die eben noch rot war, wird grau. Die Wiese, die Blumen, alles wird schwarz-weiß, nichts hat noch Farbe. Ich kann meinen Ekel heute noch fühlen, als ich die Hautschichten an diesem ekeligen warmen, großen Wurm hinauf und hinunterschieben musste. Ich kann mich auch noch an die weiße, übel riechende Flüssigkeit erinnern, die aussah, wie weißer Brei. „Siehst du“, höre ich ihn noch sagen, „das ist der Samen.“ Beklemmend und stickig war mir zumute. Ich getraute mich kaum zu atmen und wartete, dass es vorbei ging.

Samen?!? , dachte ich immer entsetzt. Tante Sophie setzte Samenkörner in den Boden. Sie kaufte kleine, bunte Tütchen mit den unterschiedlichsten Sämereien und Körnern. Daraus wuchsen Blumen und Gemüse. Ich half ihr oft, sie zu setzen, und kannte mich aus mit Samen. Dachte ich. Ich überlegte, was wohl Ekeliges aus diesem weißen, stinkenden Schleim wachsen könnte. Ich fragte nicht. Ich wollte es nicht wissen. Auf keinen Fall.

Ich wollte die Farbe zurück und den Wind. Die Sonne und die Hitze des Gartens mit seinen Grautönen wurden unerträglich. Er fuhr mir mit der Hand unter das kleine, blaue Röckchen mit der goldenen Schnalle an der Seite. Er hat das Röckchen, das ich so mochte, entweiht. Ich wollte es danach nicht mehr anziehen. Seine dicken Finger zogen meine Unterhose zur Seite und er fummelte in meiner Scheide herum. Ich wand mich. Wenn ich mich vorsichtig entziehen wollte, bohrte er seine dicken Finger in meine kleine Scheide und fauchte mich an. Ich bin umgefallen und stützte mich mit meinen Händen ab.

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