Die dritte Hälfte des Lebens

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Die Rosa hat einige Tage

Die Rosa hat einige Tage zuvor versucht, sich in Kreativität zu üben, damit

 – Wir, also der Jackson und ich, uns ein bisschen Zeit erkaufen können. Lorenz, bitte.

 – Glaubst du, alle sind deppert? Der Jackson folgt dir rund um die Uhr. Und du ihm.

 – Aber vielleicht, es könnte ja sein.

 – Was?

 – Dass ich mich heimlich für dich entschieden hab und jetzt von dir ein Kind krieg und es dem Jackson nur noch nicht gesagt hab.

 – Rosa, ich mach alles für dich. Aber dieses Kind hat ein Recht auf seine Wahrheit.

 – Ich weiß.

 – Was tun wir, wenn er ausschaut wie der Jackson.

 – Muss nicht sein.

 – Stimmt. Aber was, wenn doch?

 – Kannst du mich jetzt einfach nur halten?

 – Okay.

 – Eigentlich ist es schade, dass nur einmal im Jahr Sommer ist. Die Menschen sind netter im Sommer, sagt die Rosa nach einer Weile.

Darauf weiß der El-Kah-Ih nichts zu erwidern. Er denkt an seine Claudia, dann an die Rosa und überlegt, wie er aussehen würde als Frau. Ob er frei wäre und was die Leute dann sagen würden.

Nicht die erste, aber die eindringlichste

Nicht die erste, aber die eindringlichste Ohrfeige, die die Tochter vom Vater in Empfang genommen hat, hat ein Echo durch ganz Krimmwing gestreut und wieder zurück.

Die Eltern von der Rosa haben sich lange beraten.

Wie man vorgehen müsse, um der Schmach zu entgehen. Oder diese wenigstens zu mildern. Der Rosa war klar, wenn der Vater ruft, mit der Vaterstimme, dann gibt es keinen Spielraum. Nur mehr: das Ertragen, das Sich-Verschließen vor den Messerstichen.

Eine stumme Mutter mit lila-gelblichen Flecken unter dem Hauskleid. Ein Ehemann nach dem Vorbild ihres eigenen Vaters. Und dessen Vater und dem davor.

 – Ihr kommt’s jetzt beide her, hat der Josef Steinlachner an einem Freitagabend Anfang Dezember gesagt, gerade als die Rosa und der Jackson bei der Türe hinauswollten.

 – Du hast versprochen, dass du ihm eine Anstellung auf unserem Hof gibst, hat die Tochter den Herrn Vater adressiert und ihre Finger in denen ihres Freundes verhakt.

 – Ihr könnt nicht einfach so davonlaufen, sagt die Mutter, was soll denn aus euch werden?

 – Mama. Wehr dich. Nur ein Mal.

 – Pass auf, wie du mit der Mutti sprichst, geht der Vater dazwischen, so alt kannst du nämlich gar nicht werden, dass ich dir keine runterhau.

 – Ich hab dich fünf Monate lang angebettelt, uns zu helfen, und du bist direkt zu ihm gegangen, hast alles erzählt.

 – Ihr könnt das nicht, erwidert die Mutter schniefend, sich stützend auf einen Holzstuhl.

 – Mein Leben geht niemanden etwas an und dieses scheiß Dorf schon gar nicht.

 – Still bist, Rotzdirndl. Wegen dir und – er funkelt den Jackson an – dem sind wir überhaupt erst in dieser Lage. Hätt euch nicht umgebracht, mit dem katzerln zu warten, bis ihr verheiratet seid. Und jetzt stehen wir da mit der Schande. Hoffnungen haben wir an dich gehabt, Kind. Alles hättest du haben können.

Rosa sieht zu Jackson. Wie er Wort für Wort aufnimmt und dabei keine Miene verzieht. Er versteht das meiste, kann auf Deutsch allerdings kaum etwas erwidern.

 – Family is the most important thing, you know.

 – Ich weiß das. Du weißt das und meine Eltern wissen das. Genau das ist das Problem.

 – They are racist.

 – Nein. They are afraid.

 – Of what?

 – The villagers.

 – You will have to make a choice, Rosa. For you and our baby.

 – In meinem Haus wird Deutsch geredet, fuchsteufelnocheinmal!

 – Beruhig dich, Josef. Ich bitt dich, sagt die Mutter und legt ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter.

 – Du bist sechzehn. Weißt du, was das heißt?

 – Ja, Papa.

 – Reiz mich nicht mit deinem Ja, Papa. Wir werden es so sagen: Er hat dich geschwängert und dann sitzen gelassen. Oder du gehst mit ihm. Dann kannst du dir was wünschen, minderjährig, arm und mit einem arbeitslosen Kindsvater, irgendwo im Busch. Und eins schwör ich dir: Wenn dich die Polizei zurückbringt, nehm ich dich nicht mehr. Das ganze Dorf wird dich nicht mehr zurücknehmen. Was die Leut jetzt schon hinter unserem Rücken reden. Was wir Tag für Tag ertragen. Wegen dir.

 – Du bringst mein Glück um, hat die Rosa gesagt und ab diesem Zeitpunkt nur mehr ihre gefalteten Hände auf dem Tisch angeschaut.

 – Promise me, if it’s a boy, you will name him Peter, like my grandfather.

 – Heißen wird er Josef, wie ich, da kannst dir sicher sein. So viel Englisch versteh ich grad noch, und jetzt schleich dich. Meine Tochter hat nichts zu entscheiden.

 – Please, Jack. Please. Can you stay?

Ein Wimmern, keine eigentlichen Worte mehr.

 – Take me with you, please?

 – Baby, I can’t. They will send the police after me. Us.

 – Du solltest gehen, Jackson. Das ist das Beste für alle, sagt die Mutter, den Blick auf ihre Hausschuhe und die krummen Zehen darin geheftet.

Der Jackson ist aufgestanden, hat dem alten Steinlachner in die Augen geschaut und gesagt:

 – Aufwiedersehen, Sir. I love your daughter, but I cannot take this shit anymore.

Die Eltern haben sich hinter die sitzende Tochter gestellt. Zu dritt haben sie dem Jackson durch das Küchenfenster nachgesehen, als er vom Hof gegangen ist, bis seine Umrisse weniger geworden und schließlich gänzlich von der Schnee-Landschaft verschluckt worden sind.

Zum damaligen Zeitpunkt hätte nicht mit Sicherheit gesagt werden können, ob der Jackson nicht einfach von Krimmwing gefressen wurde und nie in Südafrika angekommen ist. Manchmal passiert genau das, wenn man versucht, sich diesem Dorf zu entziehen.

Wie oft der alte Steinlachner

Wie oft der alte Steinlachner seine Tochter mit Bauch, Koffer und aus den verschiedenen im Haus stehenden Rumtöpfen der Eltern gestohlenen Tausend-Schilling-Scheinen noch rechtzeitig am Bahnhof abgefangen hat, daran kann sich keiner mehr erinnern.

Immer derselbe Dialog auf dem Bahnhofsparkplatz. Die Rosa hält sich den Bauch, der klobig-braune Koffer rechts neben ihr. Die Augen verquollen und die Wangen gerötet.

Der Vater bietet an:

 – Steig ein.

 – Nein.

 – Steig ein.

 – Nein.

 – Willst deinem Kind nicht was Besseres bieten als eine wackelige Zukunft?

Es hat sich etwas verschoben bei ihr. Irgendwo zwischen Herz und Seele. Dann hat sie beschlossen: Gefühle tausche ich ein gegen Stärke. Und als die schwangere Tochter so stark war, wie sie nur sein konnte, ist das Kind auf die Welt gekommen. Die Stärke hat nicht mehr viel erlaubt. Im Gegensatz zum Jackson, hat die Stärke sie wenigstens nie verlassen oder gar verraten.

Und dann. War er plötzlich da.

Der Vorgang der Geburt selbst eine Abfolge von gezischten Worten des weiblichen Krankenhauspersonals: Stell-dich-nicht-so-an, Zum-vögeln-alt-genug-aber-bei-den-Schmerzen-hört-der-Spaß-auf-stimmt’s, So-schlimm-kann’s-schon-nicht-sein, Augen-zu-und-durch und Hausverstand-zum-Stillen-benutzen-würd-nicht-schaden.

Jedes Mal, wenn man ihr den Säugling in die Arme geben und an die Brust legen wollte, ist die Rosa in ein konsequentes Kopfschütteln verfallen, das erst wieder aufgehört hat, wenn man sie von dem Gewicht in ihren Armen befreit hat. Und das Baby: Es hat geschrien, geschrien und noch ein Stück mehr geschrien. Als könne es nicht glauben, dass man ihm das natürlichste verwehrt. Der Rathbauer ist sie jeden Tag besuchen gekommen. Die Steinlachner-Tochter hat den Rathbauer machen lassen, stumm und mit abwesendem Blick. Er hat sich um das Kind gekümmert, das zusammen mit ihrem eigenen Kind im Kinderzimmer der Eltern gewohnt hat.

 – Rosa, ich will dir helfen, hat der Rathbauer gesagt.

 – Ich brauch keine Hilfe.

 – Lass uns heiraten.

 – Nein.

 – Aber es wäre ein Weg hinaus aus all dem.

 – Ich lieb dich nicht.

 – Ich dich auch nicht. Aber: Wir können einander helfen.

 – Wie?

 – Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?

 – Ja.

 – Sicher?

 – Ja.

 – Es darf niemand erfahren.

 – Sag schon.

 – Nimm den Seppi und komm mit.

Das war der Tag, an dem der Rathbauer die Rosa in sein buntes Braunbärchenleben eingeweiht hat und sie, die junge Mutter, plötzlich erfüllt war von Neid, der sich wie ein Dämon an ihrer Wirbelsäule entlanggekrallt und tief in ihrem Kopf vergraben hat.

Die Steinlachner-Eltern, die Wastinger-Großeltern und das gesamte Dorf haben wohlwollend dabei zugesehen, wie die Rosa und der Lorenz mehr, immer mehr Zeit miteinander verbracht haben. Und für eine Weile schien alles darauf hinzudeuten, dass Krimmwing bereit war, zu vergessen.

 

Der kleine Seppi soll nicht

Der kleine Seppi soll nicht stehlen. Aber er stiehlt alles.

Hauptsächlich Sachen, die verpackt sind. In Einkaufshäusern zur Weihnachtszeit zum Beispiel. Da gibt es künstliche Weihnachtsbäume, bedeckt mit noch künstlicherem Sprühschnee, an denen kleine, quadratische Styroporwürfel hängen, verpackt in wunderschön glänzendem Geschenkpapier. Damit macht sich der kleine Seppi die dunkelblauen Latzhosentaschen voll. Die Kunst des Stehlens ist an einen delikaten, schrittweise stattfindenden Lernfortschritt gebunden. Es können Objekte sein, die ihn faszinieren, aber ebenso Geld. Farben und Formen der Münzen und Scheine ziehen ihn an wie funkelnde Diamanten. Im Sommer hat der Seppi einen Fünfhundert-Schilling-Schein aus der Geldbörse der Mutter genommen, in die Brusttasche seiner blauen Latzhose gesteckt und ist barfuß quer durch die Wiese, über die Straße bis zur Tankstelle marschiert und hat:

 – Grüß Gott.

 – Grüß Gott, ich kaufe Sachen, gesagt.

Man muss sich wie ein Erwachsener verhalten, wenn man etwas kaufen will, damit niemand merkt, dass man ein Kind ist. Der Tankstellenwart hat ihn beobachtet. Das geschäftige Persönchen hat sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nach einiger Zeit hat der Tankstellenwart hinten vom Büro aus seine Mutter angerufen, mit der er jeden Freitagabend im Wirtshaus Zum Grausamen Weib Dart spielt.

 – Du schaust jetzt auf der Stelle, dass du nach Hause zur Mama kommst und das Geld zurückbringst, du kleiner Dreck.

Der Seppi, zuerst erschrocken durch die laute Stimme des Tankwartes, der plötzlich aus dem Büro geschossen ist, lässt alle Süßigkeiten auf den Boden fallen, stemmt die Hände in die Hüften und schreit:

 – Und du, du sagst mir gar nix. Du bist nicht meine Mama!

Der Tankstellenwart erwischt ihn am Ohrläppchen und zieht ihn mit Daumen und Zeigefinger bis vor den Eingang. Eine Prozedur, die der kleine Seppi von den Nonnen kennt. Die dürfen alles. Und die Eltern, die schauen in die andere Richtung, als würden von dort ganz laute Geräusche kommen. Geräusche, die so laut sind, dass sie ihre eigenen Kinder nicht mehr weinen hören können.

Fünfzigmal hat das siebenjährige Kind vor versammelter Gemeinde zu Beginn der Ostermesse in der Kirche laut

 – Ich bin ein schlechtes Kind, ich habe gestohlen!

aufsagen müssen.

Noch Monate danach ist er von Krimmwing, seinen Henkern und Richtern mit herabwürdigenden Blicken bedacht worden. Ein Dorf wie jedes andere, das nichts und niemanden vergisst.

Zum Geburtstag hat der Seppi seine Lieblingstorte von der Mutter bekommen – der Rathbauer hat die tiefgekühlte Leckerei sogar persönlich vorbeigebracht – und wirklich sehr fest gepustet. Er hofft, dass er wegen des gestohlenen Geldes nicht in die Hölle kommt, sicher ist er sich nicht. In der katholischen Privatschule muss er beten. Morgens, mittags und zu Hause abends. Manchmal tun ihm die Knie weh. Die Hüfte. Und die Mittelknochen der Finger.

 – Zu dick, sagt die Mutter beim Mittagessen, fortwährend derselbe Sermon aus ihrem Mund, während der Seppi genüsslich an seinem Sonntags-Schnitzel kaut.

Er denkt sich zu der halbgegessenen Torte unter seinem Bett. Wenn der kleine Sepp erwachsen ist, wird er die Erfinderin der Krimmwinger Festtagstorte finden und sie zwingen, ihn zu heiraten. Wenn sie sich widersetzt oder unwillig ist, die genötigte Ehefrau, wird er sie zwicken und beißen. Er rutscht von der Eckbank und huscht ins Zimmer.

 – Es wird erst vom Tisch aufgestanden, JOSEF, schreit sie ihm nach, es wird erst vom Tisch aufgestanden, wenn alle mit dem Essen fertig sind!

Alle, das sind er und die Mutter. Die selten isst und dafür die meisten Mahlzeiten durch Zigaretten ersetzt, während das Kind eingenebelt von Rauch sein Essen zu sich nimmt.

Er hat die Torte hervorgeholt – ein wenig Staub hat sich über die Sahnehäubchen gelegt – und hält sie mit beiden Händen fest umklammert wie einen Preis vom Kirchtag.

 – Du legst das sofort auf den Boden, sagt die Mutter, und unausgesprochen fügt sie hinzu: Sonst hau ich dir den Hintern aus.

Er hält den Augenkontakt. Breitbeinig steht er da, wie ein Cowboy bei einem Duell. Mit seiner kleinen, pummeligen Hand schiebt er sein T-Shirt – das an den Oberarmen und dem Bauch sichtbar spannt – bis zum Kinn hoch.

 – Wag es nicht, sagt die Mutter.

Mit einem Mal hat er das große, weiche Tortenstück auf seinen nackten Bauch geklatscht und genüsslich verrieben. Es fällt in kleinen und größeren Stücken auf das Parkett. Nachdem die Mutter aus dem Zimmer marschiert ist, die Türe zugeknallt und abgesperrt hat, widmet er sich in aller Ruhe den Resten auf dem Boden. Das Kind steigt mit den Füßen hinein, isst Sahne und Dessertkirschen von den kleinen Zehen, die abwechselnd in gelb, blau und grün lackiert sind.

Nachdem ihm schlecht und er sicher ist, nie wieder, das heißt, nie und nimmer in seinem ganzen, weiten Leben Süßes essen zu können, sieht er zu dem großen Teddybären neben seinem Bett, dem bereits ein Auge fehlt, und sagt:

 – Und du, du sagst mir gar nix. Blöde Sau.

Freundschaften sollten im

Freundschaften sollten im Besonderen dann von beruhigender Dauer sein, wenn sie damit beginnen, dass man sich auf die nackten Kleinkind-Baucherl klopft, Indianerschreie ausstößt und einander über die Felder jagt, die Münder rot und klebrig von Kirschsaft. Suchen nach Ostereiern und Schokolade, die Eltern anbetteln um Brathähnchen und Langos mit Knoblauch am Kirchtag, Zuckerwatte danach, weil immer unbedingt Zuckerwatte danach, übergeben auf dem Karussell eine Unausweichlichkeit. Dazwischen: endlose, nach Wiesen, Freibad, Wassermelone und Brotjause duftende Kindersommer. Rauf und runter mit glänzend neuen Fahrrädern auf den Krimmwinger Kirschkernhügel zum Apfelbaum. Im Winter: Abhänge runterrodeln durch knisternden, halbmeterhohen Pulverschnee, am Ofen aufgekochte, schaumige Milch mit Honig und Zimt von den Großmüttern. Kekse, Kekse, Kekse. Gehen mit der Laterne. Warten auf das Christkind. Bleigießen und daraus deuten. Fischschwänzchen abbeißen. Warten auf die Feuerwerke um Mitternacht, und alles verschlafen. Dann, im neuen Jahr, wieder alles von vorne.

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