Ewigkeit

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Ewigkeit

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© Anke Grohmann

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Printed in Germany Dies ist ein privates Projekt. Kontakt: grohmanna@arcor.de Titelbild: Privatfoto von Andreas Grohmann

Inhaltsverzeichnis

Ewigkeit

Ewigkeit

Ich erwache! Wieder ist eine Nacht mit seltsamen Träumen vorbei. Der Regen trommelt, wie wild, gegen das Fenster. Meine Familie schläft noch. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Im Spiegel sehen mich Augen an, die mich an den Saturn mit all seinen Ringen erinnern. Seltsam, seit dem wir hier sind, habe ich Träume. Ich laufe, ich weine und wenn ich aufwache, schmerzt mein Hals, als ob ich die ganze Nacht geschrien hätte. Ich kann mich aber an nichts erinnern. Meine Füße schmerzen, als würde ich jede Nacht einen Marathonlauf absolvieren. Was nicht möglich ist, da wir uns seit drei Tagen nur im Hotel aufhalten, da der Regen wie eine neuerliche Sintflut niederfällt. Wir sind gereizt, und wenn wir nicht bald aus diesem Hotel herauskommen, dann fällt auch dieser Urlaub, so wie schon viele vor ihm, im wahrsten Sinne des Wortes, ins Wasser. Mein Mann meinte: „Vielleicht soll das so sein, das ist die Ruhe vor dem Sturm!“ Warum er das sagte, konnte er mir nicht erklären. Wir sind auf dem Lande, raus aus der Großstadt. Die Kinder sollten einen Bauernhof einmal live erleben, nicht immer nur aus Büchern oder aus dem Fernsehen. Wie sind wir eigentlich hier hergekommen? Ich kann mich kaum noch daran erinnern. Wie sind wir nur auf diesen Ort gekommen? Bis vor drei Monaten wussten wir noch nicht einmal, dass es ihn gibt. Im Internet unter der Rubrik Urlaub mal anders wurde uns dieser Ort empfohlen. Ein seltsames Kribbeln erfüllte mich, als ich das erste Mal seinen Namen las Ewigkeit.

Ich hatte vorher nie von diesem Ort gehört, und auch mein Mann kannte ihn nicht. Neugierde packte mich, und so überredete ich meine Familie, hierher zu fahren. Ein kleiner Ort, mit gerade zweitausend Einwohnern. Erstaunlich, dass ein Viersternehotel hier seine Gäste empfängt. Wir fuhren mit unserem Auto erst Autobahn und dann die Landstraße entlang. Obwohl ich noch nie in dieser Gegend war, führte ich uns ohne Umwege hier her. Wir verpassten keine Ausfahrt oder Abfahrt, keine noch so kleine Abzweigung verfehlten wir. „Du warst hier schon einmal. Vielleicht als Kind?“, versuchte mein Mann meine Verwunderung zu erklären. Doch daran kann ich mich nicht erinnern.

Als ich unsere Zimmer über das Internet buchte war ich erstaunt, dass ich nur meinen vollständigen Namen angeben musste. Doch als wir nach gut drei Stunden Autofahrt in unser Hotel eincheckten, wurden wir alle mit unseren Vornamen angesprochen. „Seltsam, woher sie wohl eure Vornamen kennen?“, fragte ich meinen Mann. „Warum seltsam“, sagte er: „Ist doch nett! Irgendwie familiär und du wirst sie ganz automatisch mit angegeben haben.“ Unsere Kinder, ein Mädchen und ein Junge, äußerten sich dazu nur mit einem kurzen: „Cool! Scheint doch nicht so ein Kaff zu sein!“

Am Abend unserer Anreise gab es einen kleinen Gästeempfang für insgesamt drei Familien! Sehr wenig, für ein so großes Hotel! Nun ja, es sind nicht alle auf Kleinstädte erpicht, wie wir. Der Clou dieser Veranstaltung war eine kleine Theateraufführung, an deren Ende eine Wahrsagerin auftrat. Sie stellte sich in den Saal und schaute in alle Richtungen, dabei ließ sie sich sehr viel Zeit. Sie sah allen Anwesenden sekundenlang ins Gesicht, als sich unsere Blicke trafen, überzog eine Gänsehaut meinen Körper. Sie lächelte mich an und dann verkündete sie: „Ab heute weinen die Engel für drei Tage!“ Da auch die anderen Hotelgäste diese Einlage als seltsam empfanden, wurden wir durch das Hotelpersonal mit den Worten beruhigt: „Sie ist eine alte Frau, die diese Auftritte liebt. Früher war sie Schauspielerin, jetzt glaubt sie daran, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen. Haben sie keine Angst, bisher ist keine ihrer Vorhersagen eingetroffen.“ Dieses mal scheint ihre Vorhersage allerdings ins Schwarze getroffen zu haben, denn wie gesagt, seit drei Tagen regnet es ununterbrochen.

„Liebling bist du noch da? Ich muss mal! Auch wenn das hier ein Viersternehotel ist, haben wir leider nur ein Klo!“ Ich sehe auf die Uhr und erschrecke. Ich bin seit fast zwei Stunden im Bad? Wie ist das möglich? Ich öffne die Tür, und davor steht mein ach so geliebter Mann und hält beide Hände an seine Blase. „Ich klopfe seit fast einer halben Stunde an die Tür! Was hast du gemacht? Hast du geschlafen?“, fragt er vorwurfsvoll. „Nein“, antworte ich. „Ich musste halt auch mal!“ Er verschwindet, und ich sehe ihn jetzt ebenfalls eine halbe Stunde lang nicht. Zeit genug, um den Kindern guten Morgen zu sagen!

Ich bin auf dem Weg in ihr Zimmer, da höre ich schon von weitem Gekreische. Vielleicht war es doch keine gute Idee, sie zusammen in einem Zimmer unterzubringen. Mit vierzehn möchte man seine Freiräume haben. Obwohl die Beiden sich bisher immer gut verstanden. Daran wird wohl auch das Regenwetter schuld sein. Auch ihre Laune ist auf dem Nullpunkt! Als ich vor der Tür stehe, geht gerade das Zimmermädchen vorbei und wünscht einen guten Morgen. Dann setzt sie hinzu: „Ist es nicht schön, die Sonne scheint?“

Ich sehe aus dem Fenster am Ende des Ganges und tatsächlich, es regnet nicht mehr. Endlich! Nun können wir unsere Umgebung erkunden. Ich betrete das Zimmer und kann gerade noch rechtzeitig meinen Kopf zur Seite ziehen, bevor ein nasses Handtuch auf ihm landen kann. Nun beendet es seinen Flug stattdessen auf einem kleinen Tisch, der nur von einigen Gummibärchen belegt ist. Meine Kinder kommen angerannt und jeder gibt dem anderen die Schuld. Ich sehe sie an und sage: „Habt ihr Glück, dass die Sonne scheint! Macht euch fertig, nach dem Frühstück geht es auf Entdeckungstour!“

Wir gehen durch den Ort. Dabei werden wir gegrüßt und nett angesprochen. Mich beschleicht ein seltsames Gefühl und ich frage mich: Woher kennen sie uns? Unsere Füße tragen uns wie selbstverständlich zum Friedhof. Wir sind eine Familie, die gerne auf alten Friedhöfen spaziert. Die Kinder eher aus Neugierde und immer mit der Hoffnung, eine alte Gruft zu entdecken. Mein Mann liebt die Ruhe und den Frieden, den diese Orte ausstrahlen. Und ich? Ich bin wohl immer auf der Suche, nach mir selbst. Bis auf ein paar Gastauftritten bei Pflegefamilien, wuchs ich im Waisenheim auf. Niemand weiß, wer meine Eltern sind, oder wann mein Geburtstag ist. Ich wurde als Säugling auf den Stufen einer Kirche in unserer Stadt abgelegt.

Man fand mich in eine alte Decke gehüllt und mit nur einem dünnen Hemdchen bekleidet. Ein kleines Medaillon hing um mein Handgelenk. Es war nur ein Wort eingraviert Erle. Da sonst nichts weiter beilag, wurde ich auf diesen Namen getauft. Mein Geburtstag wurde der Tag, an dem man mich fand. Früher gab mein Name oft Anlass für Hänseleien. Diese verletzten mich und machten mich sehr traurig. Heute allerdings finde ich ihn ganz toll, sicher auch, weil mein Mann mir immer wieder sagt: 'Es ist ein Name für einen ganz besonderen Menschen.' Ich schleiche also auf Friedhöfe herum, in der Hoffnung, irgendwann einmal einen Hinweis dafür zu finden, wo sich meine Wurzeln befinden. Bisher war meine Suche erfolglos.

„Erle komm schnell! Die Kinder schreien um Hilfe!“ Mit diesen Worten reißt mein Mann mich aus meinen Gedanken. Tatsächlich, die Kinder rufen nach uns. Wir laufen so schnell wir können, in die Richtung, aus der die Rufe zu uns gelangen. Unser Lauf findet vor einem Grab, ein jähes Ende. Der lange Regen hatte die Erde aufgeweicht, und als unsere Kinder dort umherliefen, rutschten sie in einen Hohlraum, der sich unterhalb des Grabes gebildet hatte. Nun lagen sie etwa drei Meter tief, in einem Meer aus Schlamm und Erde. Und es fühlte sich so an, als ob sie noch immer nicht auf dem Grunde der Gruft angekommen waren. Gerade, als mein Mann zu ihnen hinunter will, gibt das Erdreich nochmals nach, und nun rutschen auch wir mit hinein und landen direkt neben unseren Sprösslingen. Nachdem der erste Schreck überwunden ist, und wir uns davon überzeugt haben, dass niemand eine schwere Verletzung davongetragen hat, überkommt uns ein Lachkrampf. Erst viel zu spät erinnern wir uns wieder, wo wir eigentlich gelandet sind. Plötzlich erscheinen über uns mehrere Köpfe und wir werden mit ziemlich dunklen Mienen darauf hingewiesen, dass wir uns auf einem Friedhof befinden. Obwohl es uns sehr peinlich ist, können wir nicht aufhören zu lachen. Jeder Versuch an die Oberfläche zu gelangen, wird sofort zum Scheitern verurteilt, da unsere Kräfte durch die ständigen Lachsalven aufgebraucht werden. Immer, wenn wir fast oben ankommen, rutschen wir wieder hinunter. Dadurch wird unsere Moorbadewanne immer größer und tiefer, und plötzlich entdecken wir Knochen. Ich bin gerade wieder auf meinen Hintern gefallen, als ich unsanft von meinem Mann in diesen gekniffen werde. Denke ich zumindest und beschwere mich bei ihm. „Ich kneife nicht in deinen Hintern. Ich habe meine Hände hier!“, ruft er mir im beleidigten Ton zu. Als ich ihn anschaue gibt er mir mit entsetztem Gesichtsausdruck zu verstehen, dass ich mich umschauen soll. Ich drehe mich langsam um und dann sehe ich eine Hand, die gleich wieder in meinen Hintern kneifen will. So sieht es für mich jedenfalls aus. In Wirklichkeit ist es ein Skelett. Schlagartig ist unsere Heiterkeit vorbei, und wird von Panik abgelöst. Nun wollen wir nur noch raus hier. Wir schreien um Hilfe und rufen: „Holt uns raus!“ Nach einigen Augenblicken, die uns wie eine Ewigkeit vorkommt, wird eine Leiter hinab gelassen. Wir steigen nacheinander hoch und kehren unter bösen Blicken der Umstehenden sofort ins Hotel zurück. Nachdem wir geduscht und uns wieder beruhigt haben, wollen wir an der Hotelrezeption erfragen, bei wem wir uns, für unsere Rettung bedanken können.

 

Wie sich herausstellt, ist unser peinlicher Ausrutscher schon bekannt geworden. Die anderen Gäste sehen uns etwas von oben herab an und meinen: „Eigentlich sollte man ja wissen, wie man sich auf einem Friedhof verhält!“ Wir überhören diesen Vorwurf und bitten nur um Namen und eventueller Anschrift, um am nächsten Tag persönlich bei unserem Retter vorbeigehen zu können. Wir erfahren, dass er der Friedhofswächter ist, und im alten Pfarrhaus wohnt.

Als wir am nächsten Tag, nach einem guten Frühstück, mit vielen neugierigen Blicken der anderen Hotelgäste und lauten Flüsterstimmen über unseren gestrigen Ausrutscher, dort ankommen, ist er gerade dabei, den durch uns entstandenen Schaden zu beheben. Mein Mann bietet seine Hilfe an, doch er bedankt sich und lehnt mit folgenden Worten ab: „Bevor das Grab wieder hergestellt wird, wollen sich der Pfarrer und der Pathologe die Gebeine ansehen. Denn wie sich herausstellte, ist das Grab nicht mit einer, sondern mit zwei Leichen belegt. Seltsam insofern, dass auf dem Stein nur ein Name geschrieben steht.“ Wir sehen uns diesen genauer an und plötzlich werden meine Knie weich. Ich lese: „Hier ruht für die Ewigkeit bis zum dritten Tag, wenn die Engel nicht mehr weinen, ERLE!“

Als ich wieder zur Besinnung komme, finde ich mich auf einem alten Sofa wieder und ein kaltes nasses Tuch liegt auf meiner Stirn. Meine Familie sieht sehr besorgt aus und dann fragt mein Mann: „Geht es wieder?“ „Nein!“, schreie ich. „Was geht hier vor? Das kann kein Zufall sein!“ Ich bringe mich in eine sitzende Position und schaue den Friedhofswächter erwartungsvoll an. Von ihm erfahren wir, dass der Teil des Friedhofs, auf dem unser Missgeschick passierte, schon vor vielen Jahren stillgelegt wurde. Dort ruhen die Gründer dieser Stadt. Die ältesten Gräber sind über eintausend Jahre alt. Während er dies erklärt reicht er mir ein Glas. Ich führe es ganz automatisch an den Mund und leere es in einem Zug. Es ist ein starker Whisky! Ich trinke sonst keinen Alkohol, aber jetzt verlange ich noch nach einem zweiten Glas. Meine Familie sieht sich an, sagt aber kein Wort. Auch dieses Glas leere ich, ohne es abzusetzen. Ich verziehe nicht einmal das Gesicht. Ich frage den Wächter, ob es noch irgendwelche Aufzeichnungen über dieses Grab gibt. Er verspricht beim Pfarrer nachzufragen, und wird mir dann Bescheid geben. Wir verabschieden uns und kehren zurück ins Hotel. Durch den Alkohol, und sicher auch wegen der Ereignisse des Tages, gehe ich sofort ins Bett. Mein Mann und die Kinder gehen noch ein wenig spazieren und fragen, ob sie mich zum Abendessen wecken sollen. Ich verneine und schlafe sofort ein.

Ich erwache! Es ist mitten in der Nacht. Habe ich nicht eben meinen Namen gehört? Vollkommen atemlos fühle ich, dass mein Hals und auch meine Füße wieder schmerzen. Kaum dass ich das Bett verlassen habe, verschwinden diese Eindrücke. Ich trinke ein Glas Wasser und gehe dann auf den Balkon. Es ist eine wunderschöne milde Nacht. Nichts stört die Ruhe des Ortes. Kein Geräusch dringt an meine Ohren.

Müsste nicht etwas wahrzunehmen sein? Hundegebell oder Katzenmiauen? Gespräche zwischen Menschen, die von der Arbeit oder von einer Feier nach Hause kommen? Ich sehe einen Vollmond, aber die Häuser werfen keine Schatten! Aus meiner beginnend aufsteigenden Angst wird Panik. Ich laufe zu meinem Mann und brülle ihn an: „Es gibt keine Schatten hier! Was ist das nur? Steh auf, wir müssen fort von hier!“ Er öffnet seine Augen, dann schaut er mich verständnislos an. Nach einigen Sekunden klärt sich sein Blick und er antwortet: „Mann sollte eben keinen Alkohol trinken, wenn man ihn nicht verträgt!“ Danach dreht er sich um und schläft weiter. Für mich ist die Nacht beendet und ich denke darüber nach, ob uns hier eventuell Gefahr droht. Irgendwann lege ich mich wieder hin und schlafe erschöpft ein. Am Morgen fragt mich mein Mann: „Was meintest du heute Nacht damit, es gibt keine Schatten?“ Nachdem ich meinen Bericht beendete, meinte er: „Du hast den Urlaub wirklich nötig. Ab jetzt gehen wir auf keinen Friedhof mehr.“ Beim Frühstück rät er den Kindern, nicht auf das zu hören, was ich sage, angeblich hätte ich einen Kater. Wir planen unseren Tag und wollen nach dem Frühstück die Schlüssel an der Rezeption abgeben, da erfahre ich, dass eine Nachricht für mich bereitliegt. Der Wächter hatte Wort gehalten und sich beim Pfarrer über alte Aufzeichnungen erkundigt. Wie sich herausstellte, gibt es noch einige. Leider seien diese nicht geordnet, aber wenn ich Interesse hätte, dann könnte ich sie am Nachmittag einsehen. Ich bin sofort hellauf begeistert und will schon zum Telefon greifen, um mein Kommen anzumelden, als mein Mann mich zur Seite nimmt und sagt: „Bitte lasse es bleiben! Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Vielleicht erfährst du etwas, was dir nicht gefallen wird. Wir wollten doch einen Familienurlaub machen?“ Ich sehe ihn an, und da er in diesem Moment so verletzlich aussieht, nehme ich von meinem Vorhaben Abstand.

Wir verbringen einen wunderschönen Familientag. Wir laufen durch die Wälder, sehen uns alte Ruinen an und haben endlich den Urlaub, den wir uns gewünscht hatten. Es hätte bis zum Ende so weitergehen können, aber das Schicksal wollte etwas anderes. So kam es, dass wir am Abend eine Überraschung im Hotel erlebten. Da ich mich nicht beim Pfarrer gemeldet hatte, nahm er an, dass ich seine Botschaft nicht erhalten hatte und so schickte er die Unterlagen in unser Hotel.

Als wir nun zurückkommen, liegen die Akten auf unserem Zimmer und ich kann nicht umhin, einen Blick auf sie zu werfen. Schon bei der ersten Durchsicht wird mir klar, dass ich für den Rest des Urlaubs in diesen Akten wühlen werde. Auch wenn ich nichts über meine Vergangenheit erfahre, so ist es doch interessant, in diesen zu lesen. Denn schon bei der Sichtung der ersten Akte fällt mir ein seltsames Muster auf einem Pergament auf. Es sieht aus, wie ein Familienwappen. Die Form erinnert mich sehr an die Stickerei auf meiner Decke, in die ich eingehüllt war, als man mich fand. Diese habe ich aufbewahrt und ziert viele Jahre schon eine kleine Kommode in unserem Schlafzimmer. Nun bin ich mir sicher, hier finde ich zumindest einen Hinweis darauf, wer meine Eltern waren. Ich vertiefe mich so sehr in diese Akten, dass meine Familie ohne mich zum Abendessen geht, was von nun an zur Gewohnheit wird.

Erst, nachdem mein Rücken einfach nicht mehr zu schmerzen aufhört und meine Beine mit ständigen Krämpfen mitteilen, dass es Zeit wird, eine andere Lage einzunehmen, wird mir bewusst, dass ich wieder über Stunden so vertieft war, dass ich erst um Mitternacht ins Bett gehe. Zwei Stunden später sitze ich wieder über die Akten und ordne sie weiter. Das heißt, soweit es möglich ist, nach Datum oder Namen zu sortieren. So kommt es, dass mein Mann am Morgen denkt, ich hätte die ganze Nacht gearbeitet. Darum bittet er mich ins Bett zu gehen und sagt: „Bitte schlafe ein wenig. Ich verbringe den Tag mit den Kindern wie geplant, aber versprich mir, dass du für heute aufhörst und der Abend der Familie gehört!“ Ich verspreche es.

Der Tag vergeht genauso schnell, wie er begann. Meine Familie ist kaum fort, da sind sie auch schon wieder zurück und mein Mann begrüßt mich gleich mit einem Vorwurf.

„Erle, an der Rezeption sagte man mir du wärst den ganzen Tag nicht aus dem Zimmer gekommen. Du hättest auch nichts zu essen bestellt! Was ist los mit dir? Hast du mal in den Spiegel geschaut?“ Ich sehe ihn an und im ersten Moment verstehe ich gar nicht, was er sagt. Dann antworte ich: „Du wirst nicht glauben was ich heraus gefunden habe! Ich habe endlich einen Anhaltspunkt, der mich vielleicht zu meinen Vorfahren führt!“ Mein Mann will nichts davon hören. Er ergreift meinen Arm und zieht mich vom Stuhl. Mich hinter sich her ziehend, bringt er mich ins Bad. Als mein Blick auf mein Spiegelbild fällt, wird mir übel. Ich habe nicht nur Ringe unter den Augen wie der Saturn, ich sehe aus wie ein Gespenst. Meine Haut ist weiß, fast durchsichtig. Meine Wangenknochen treten hervor, man könnte meinen, ich hätte seit Tagen keinen Bissen mehr zu mir genommen. Dann fällt mein Blick auf die entsetzten Gesichter meiner Kinder. Sofort ergreift mein schlechtes Gewissen von mir Besitz und mir wird klar, wie verantwortungslos ich gehandelt habe. Nachdem ich sie beruhigt habe, dusche ich, ziehe mich an und gehe dann in die Hotelküche. Dort bitte ich um ein verfrühtes Abendessen. Als ich eine halbe Stunde später wieder ins Hotelzimmer komme, sitzt meine Familie zusammen und sieht sich die Filmaufnahmen des Tages an. Ich setze mich dazu, und bemerke bald, dass ich keine Ruinen oder alte Kirchen oder Pferde auf einer Koppel sehe. Auch nicht meine Kinder, wie sie versuchen, auf eines dieser Pferde zu reiten. Nein, meine Gedanken verselbständigen sich, und ohne es zu merken, stehe ich auf, und setze mich wieder an die Akten. Ich höre auch nicht, wie sie das Zimmer verlassen, eben so wenig, wann mein Mann zurückkommt. Hätte ich damals gewusst, dass ich meine Familie bald nie mehr um mich haben würde, dann wäre ich sofort mit ihnen ins Auto gestiegen und nach Hause gefahren. Aber wie gesagt, manchmal lenkt das Schicksal unsere Schritte in eine ganz andere Richtung.

Wieder finde ich um Mitternacht erst den Weg ins Bett. Und wie in den Nächten zuvor, erwache ich zwei Stunden später atemlos und mit schmerzenden Füßen. Ich denke an die Entdeckung der letzten Nacht, der Vollmond, der keine Schatten hinterlässt, und bleibe deshalb im Bett. Ich kuschle mich an meinen Mann und er versteht diese Geste quasi zur Aufforderung zum Kuscheln. Wir verbringen eine Stunde in vollkommener Harmonie und Innigkeit. Nach intensivsten Liebesspielen schlafen wir erschöpft, aber mit einem Gefühl tiefster Zuneigung ein. Wir erwachen am Morgen zum ersten Mal seit fast zwei Tagen ausgeruht und glücklich. Nach dem Frühstück gehen wir spazieren und anschließend in das öffentliche Freibad. Es ist ein wunderschöner Tag und für ein paar Stunden vergesse ich die Akten in unserem Hotelzimmer. Wir spielen mit unseren Kindern Wasserball, nehmen an Tauchwettkämpfen teil und rutschen ausgelassen, wie Kleinkinder, die Wasserrutsche hinunter. Auf einmal steht die alte Frau, die als Wahrsagerin im Hotel aufgetreten war, vor mir und sagt: „Erle, du bist zurückgekommen. Jetzt erfüllt sich die Prophezeiung. Genieße den Tag mit deiner Familie, denn bald wirst du bei deiner wahren Familie sein. Sei nicht traurig, dass du diese verlierst, sie werden weiterleben und immer an dich denken. Deine Aufgabe in dieser Welt ist beendet. Gehe zurück ins Hotel und siehe in die Akten. Deine Fragen werden dort beantwortet!“ Dann dreht sie sich um, und verschwindet genauso plötzlich, wie sie erschienen war.

Mein Mann kommt angerannt und schreit: „Erle, was ist mit dir? Du bist weiß wie eine Wand! Was hast du?“ Ich sehe ihn an und frage: „Hast du denn die alte Frau nicht gesehen? Die Wahrsagerin aus dem Hotel?“ Er schüttelt den Kopf und auch alle Umstehenden sehen mich fragend an. Dann begreife ich. Ich hatte eine Vision. Ich erzähle meinen Mann was ich erlebt habe. Er schüttelt nur den Kopf und sagt: „Erle, das hast du geträumt. Die Akten spuken noch immer in deinem Kopf herum. Bitte mach diesen Tag nicht kaputt. Er war bisher so wunderschön!“ Ich kann nicht länger im Freibad bleiben und deshalb sage ich: „Seit nicht böse, ich denke ich gehe zurück ins Hotel und werde ein wenig schlafen. Wir sehen uns dann heute Abend!“

Im Hotel angekommen setze ich mich sogleich an die Akten. Gestern hatte ich ein Stück Pergament in den Händen, welches wie eine Familienaufstellung aussah. Ich nehme es jetzt mit an den Schreibtisch, krame eine Lupe hervor und beginne dieses zu entziffern. Es ist so alt, dass es bei jeder unachtsamen Bewegung zerfällt. Deshalb schiebe ich es vorsichtig in eine Klarsichthülle, die ich mir von der Rezeption geben ließ. Nun, nachdem das Pergament weitestgehend geschützt ist, schaue ich es mir genauer an. Der erste Eintrag stammt aus dem Jahr 989 nach Christus. Ein Gutsbesitzer namens Roald ehelichte eine Gutsbesitzertochter mit Namen Erle. Sie bekamen Zwillinge. Ein Mädchen mit Namen Ibke und einen Jungen mit Namen Jarl. Das ist nichts Ungewöhnliches. Wenn man allerdings bedenkt, dass meine Kinder ebenfalls Ibke und Jarl heißen, ebenfalls Zwillinge sind und auch am siebenundzwanzigsten des Monats September geboren wurden, dann wird man meine Überraschung verstehen können. Nachdem meine Verwunderung der Neugierde gewichen ist, lese ich weiter. Leider ist das Papier genau an einer Stelle beschädigt, an der ich etwas über deren Kinder hätte erfahren können. Nun kann ich erst zweihundert Jahre später fortfahren. Roald und Erle müssen noch mehr Kinder gehabt haben, denn der Stammbaum ist sehr verzweigt. Interessant ist, dass in jeder Generation entweder ein Roald und eine Erle Zwillinge bekamen mit Namen Ibke und Jarl, oder ein Paar mit Namen Ibke und Jarl gaben ihren Zwillingen die Namen Erle und Roald. Diese Eheschließungen fanden selbst unter Verwandten des ersten Grades statt. Dies kann ich bis ins Jahr 1573 verfolgen. Hier enden dann plötzlich die Aufzeichnungen, als würde diese Familie nicht mehr existieren. Nur ein kleiner Strich deutet darauf hin, dass es zumindest noch einen Abkömmling gegeben haben muss. Aber wie der hieß, oder was aus ihm wurde, ist nicht ersichtlich. Vielleicht ist aber auch die letzte Erle während der Schwangerschaft verstorben, sodass es nie einen weiteren Abkömmling gegeben hat. Dann drängen sich mir nur die Fragen auf: „Wer bin ich? Wieso trage ich diesen Namen? Warum heißen auch meine Kinder Ibke und Jarl?“

 

Als wir damals erfuhren, dass ich Zwillinge bekommen würde, sind mir sofort diese Namen durch den Kopf gegangen. Mein Mann war begeistert und er sagte, wenn es dich glücklich macht, dann nennen wir unsere Kinder so. Du hast auch einen besonderen Namen, also scheint mir das für unsere Kinder auch richtig zu sein. Weil wir gerade bei Namen sind. Ich glaube ich habe bis jetzt nicht erwähnt, wie mein Mann heißt. Er heißt Robert. Seine Wurzeln liegen in Amerika. Ich beende gerade diesen Gedanken, da kommen meine Kinder angerannt und schreien laut: „Mutti, du hast noch was verpasst! Wir haben den ersten Preis beim Tauchwettkampf gewonnen. Ein Preisgeld von einhundert Euro war damit verbunden. Können wir das Geld als Taschengeld bekommen?“ Ich will gerade antworten, da kommt Robert herein und sagt: „Ich habe schon mein Einverständnis erklärt!“ „Na“, sage ich, „dann kann ich ja wohl nicht Nein sagen!“ Unsere Kinder drehen sich um und beim Verlassen des Raumes rufen sie über die Schulter: „Wir sind einkaufen!“ Mein Mann beugt sich über mich und beginnt mein Nacken zu streicheln. Dann flüstert er meinen Namen und sagt: „So schön wie letzte Nacht, war es noch nie!“ Ich lächle ihn an und biete ihm meine Lippen zum Kuss. Er beugt sich vor, doch plötzlich hält er in seiner Bewegung inne und schaut auf das Pergament. „Was hast du da?“ Ich antworte: „Es ist ein Stammbaum. Er beginnt im Jahr 989 und endet 1573.“ Als er die Namen liest, zieht er sich einen Stuhl heran und sagt erstaunt: „Die haben ja alle eure Namen?“ Plötzlich springt er auf und geht zu den Akten. Er nimmt sich einen Stapel und beginnt ihn durchzusehen, nachdem er sich auf den Boden platzierte. Ich sehe ihn fragend an, dann sagt er: „Ich will jetzt wissen, mit wem ich eigentlich verheiratet bin. Vielleicht kommst du aus einer steinreichen Familie und hast hier noch Besitz!“ Mit einem Stapel in der Hand nehme ich ebenfalls nun auf dem Boden Platz. Wir bemerken nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als unsere Kinder ins Zimmer stürmen und uns daran erinnern, dass es Zeit für das Abendessen ist, unterbrechen wir unsere Tätigkeit. Da ich keinen Hunger habe und vorgebe am Nachmittag ein großes Stück Kuchen gegessen zu haben, bleibe ich im Zimmer und sortiere weiter. Zwei Stunden später bringt mir Robert einen kleinen Imbiss und bleibt bei mir sitzen, bis ich diesen verzehrt habe. Dann sagt er: „Ich kann verstehen, warum du so begierig bist und erfahren möchtest, wo deine Wurzeln liegen. Lass dir Zeit beim Durchsehen dieser Akten. Wenn ich kann, werde ich dir helfen. Doch ich möchte, dass du mir eines versprichst. Bitte nimm wenigstens drei Mahlzeiten am Tag ein. Ich habe mit der Hotelküche abgesprochen, dass man dir täglich diese ins Zimmer bringt. Sie bieten dir auch einen extra Raum für die Akten an, damit der alte muffige Geruch aus unserem Zimmer verschwindet, denn es ist sehr ungesund, hier zu schlafen. Ich werde mit den Kindern den Urlaub so verbringen, wie wir es geplant haben und wir möchten nur, dass du trotz dieser Arbeit auch an deine Erholung denkst.“ Ich springe auf und schlinge meine Arme um meinen Mann, ziehe ihn zu mir und küsse ihn, bis er mich sacht wegdrückt und sagt: „Ich kann dir nicht mehr helfen, wenn du mich jetzt erstickst!“ Wir lachen beide, dann beginnen wir die Akten in den Raum zu tragen, den man mir zur Verfügung gestellt hat.

Als wir das Zimmer betreten, liegen bereits Aktenberge dort. Das Zimmermädchen, welches gerade herauskommt, zeigt auf die Stapel und sagt: „Die sind alle heute gekommen. Im Pfarrhaus hat man sie auf dem Dachboden entdeckt. Der Pfarrer meinte, sie fänden hier vielleicht die richtigen Antworten!“ Robert und ich sehen uns an und lachen los, dann sagt er: „Der Pfarrer denkt wohl: Jetzt habe ich endlich einen Dummen gefunden, der mir die Unterlagen sortiert!“ Lächelnd küsse ich ihn und sage: „Ich liebe dich!“ Er dreht sich um, und ruft: „Dennoch gehört dir dieser Spaß ganz allein!“, und schon fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Ich bleibe zurück in einem Zimmer voller Papier und fühle mich auf einmal sehr einsam. Plötzlich bekomme ich Angst und mein Brustkorb zieht sich zusammen, so dass ich kaum noch Luft bekomme. Ich öffne ein Fenster und nach einigen Augenblicken kann ich wieder tief durchatmen. Die Panikattacke ist vorüber. Ein plötzlicher Windhauch löst einen Zettel von einem Aktenberg und trägt ihn schwebend, wie durch Geisterhand getragen, zu mir. Die Wahrheit ist natürlich, dass im Bad ebenfalls ein Fenster offen steht und die Zugluft hat dieses Papier erfasst. Da alle anderen fest verschnürt und verpackt sind, konnte der Wind eben nur diesem einen Blatt Flügel verleihen. Ich nehme es und schon beim Lesen der ersten Worte überkommt mich ein seltsames und unheimliches Gefühl. Ich halte kurz inne und schaue mich im Zimmer um. Nur um mich davon zu überzeugen, dass nicht doch ein Geist sein Unwesen hier treibt. Als ich nichts Ungewöhnliches entdecke, konzentriere ich mich wieder auf das Schriftstück:

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