Glasglockenleben

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Ich gieße inzwischen den Kaffee ein und versuche, nicht mehr länger über das Dachgeschoss nachzudenken. Leises Lachen dringt durch das Wohnzimmer, aber so richtig fröhlich scheint niemand zu sein. Und Rosi gefällt mir immer noch nicht. Sie steht immer noch passiv in der Küche, sieht mir zu und geht nicht raus, um Dagmar zu begrüßen. Vermutlich passiert hier emotional bei Rosi gerade eine Menge. Ich helfe in der Küche, Susanne sorgt für den Kuchen, Arthur macht die Tür auf, wenn es klingelt. Wir alle meinen es gut. Aber was denkt Rosi darüber? Sie, ureigen in ihren Wesenszügen? Ich fürchte, sie fühlt sich bedrängt, weil sie nicht das Gefühl hat, noch irgendetwas unter Kontrolle zu haben. Hier übernehmen gerade andere das Kommando, und das ist so ganz und gar nicht Rosis Ding. Auch wenn wir es nur gut meinen. Für Rosi sind wir nur Heuschrecken, die einfach eingefallen sind.

Auch dieser Tag neigt sich dem Ende zu. Michael und ich sind froh, dass wir uns in einem Hotel in der Stadt eingemietet haben und abends noch gemeinsam etwas essen gehen können.

Susanne und Arthur sind wieder heimwärts gefahren, Dagmar und Claudius übernachten bei einer Freundin, und Jens schläft in seinem ehemaligen Zimmer bei Rosi.

Ich selbst komme gar nicht mehr auf die Idee, im Haus meiner Kindheit übernachten zu wollen. Auch wenn Rosi das absolut getadelt hat, denn Hotels kosten ja bekanntlich nicht wenig Kohle. Unsere Hotelübernachtung hat aber darüber hinaus zwei Aspekte, die ich Rosi gegenüber nicht erwähnen würde. Zum einen fehlt mir die Fantasie, wo wir übernachten sollten – im staubigen Dachgeschoss bestimmt nicht – und zum anderen sieht Rosi eher so aus, als ob sie ihre Ruhe und ihren gewohnten Rhythmus braucht. Jens als Gast ist da schon fast zu viel. Aber das muss er wissen.

Ein paar Meter weiter neben unserem Hotel ist ein günstiger Chinese. Wir haben nach dem Einchecken im Hotel hungrig die Lage gepeilt, und ich habe mich gefreut, dass der Plan mit dem Hotel in der City und dem anschließenden leckeren Essen so gut aufgeht. Die Ecke hier kenne ich natürlich von früher. Den Chinesen gab es aber damals noch nicht.

Ein paar hundert Meter weiter ist das Rotlicht-Viertel von Braunschweig. In Braunschweig ist das eine kleine Straße ohne Straßenverkehr, dafür aber mit sonstigem »Verkehr«.

Das Restaurant ist gut besucht und erinnert so ein bisschen an eine Kantine im Schummerlicht. Schummerlicht mit diesen typischen ballonförmigen Lampen in roter Farbe. Wie passend zum Rotlichtviertel.

Das Stimmengewirr von fast ausschließlich jungen Leuten erinnert daran, dass Samstagabend ist und eben diese jungen Leute etwas essen, um danach noch auf die Piste zu gehen. So, wie ich früher in die Disco gegangen bin. Die Discos gibt es schon längst nicht mehr, und die von uns damals »Bermuda-Dreieck« genannten Lokale haben sich bestimmt verlagert. Kneipe eins war ein Rock-Café gewesen, Kneipe zwei war eine Backsteinhöhle als Disco, Kneipe drei war der Treff am frühen Morgen für alle Gestrandeten. Drei Kneipen im Dreieck mit Absturzgarantie.

Ich bin nicht so der Süßigkeiten-Fan mit dem Kuchen am Nachmittag und wähle fast sabbernd eine knusprige Ente mit gebratenen Glasnudeln und Gemüse. Witzigerweise hat Michael in dem Moment mit seinem Finger genau auf die gleiche Essenskartenposition gezeigt.

Nach dem Stillen des ersten Appetits lassen Michael und ich den Tag Revue passieren. Michael und Susanne waren nicht zum Krankenhausbesuch von Friedrich mitgekommen. Sie waren nur die Anhängsel und blieben im Haus. Ich habe nicht vergessen, dass ich Rosi versprochen hatte, dass nur sie bestimmen durfte, wer Friedrich im Krankenhaus besuchen durfte, wenn nicht die ganze Sippe einfallen sollte. Ich habe Rosi nach dem allgemeinen Kaffeetrinken danach gefragt und nicht damit gerechnet, dass ich dadurch die nächste kriegerische Situation mit Dagmar heraufbeschwören würde. Mein Fehler; Dagmar hat meine Frage mitbekommen und ist sofort echauffiert dazwischengegangen: »Ich würde gerne selbst entscheiden, ob ich meinen Vater besuchen will oder nicht«.

Teufelchen: »Es wäre jetzt wirklich sehr interessant zu wissen, von wem Friedrich überhaupt besucht werden will.«

Rosi hat nicht so ausgesehen, als ob sie weiteren Konfrontationen standhalten würde, und hat einfach nur genickt. »Gut, fahren wir.«

Wir haben uns auf die Autos verteilt, ich habe Rosi mitgenommen. Nur Rosi. Ich hatte schon stundenlang ein schlechtes Gewissen Rosi gegenüber und war fest davon überzeugt, dass die anderen gar nicht rafften, was wir hier mit Rosi veranstalteten. Wir nahmen ihr die Kontrolle, und das war schlimm für sie. Mein schlechtes Gewissen beruhigte sich ein bisschen, als ich sah, wie sehr Friedrich sich gefreut hat, seinen jüngeren Bruder Arthur zu sehen. Arthur hatte es ja gesagt. Am Telefon bevormundet Rosi Friedrich immer sofort, und ein Bruder-Gespräch war schon lange nicht mehr möglich gewesen.

Ich habe Rosi angesehen, wie schwer es ihr fiel, die beiden Brüder einfach einmal zwanzig Minuten alleine reden zu lassen. Ich habe den Redebedarf der Brüder bemerkt und Rosi an den Ellbogen getippt. »Komm, wir gehen kurz raus.«

Rosi ist mir mit todunglücklichem Gesichtsausdruck gefolgt.

Draußen schluckte sie. »Ich kann Arthur nicht leiden.«

»Rosi, das weiß ich. Ich weiß aber nicht, warum – und ich muss das auch nicht wissen.« Rosi hat sich auf die Bank des Krankenhaus-Innenhofs gesetzt, der hübsch begrünt war. Ich hatte nichts Besseres zu tun, als mir eine Zigarette anzuzünden.

»Arthur hat mich nicht zu seinem Geburtstag eingeladen, sondern nur Friedrich. Obwohl er wusste, dass wir ein Paar waren und ich mit Dagmar schwanger.« Rosi spuckte jedes einzelne Wort aus.

Michael isst viel schneller als ich und hat seinen Teller schon fast leer gegessen, während ich noch kaue. Prinzip Anti-Vegetarier, ich esse das Fleisch immer zuerst, und die knusprige Ente schmeckt. Den Teller leer zu essen gelingt mir ohnehin nicht, das ist mir einfach immer zu viel. Ich schiebe also meinen Teller zurück und schaue Michael an. »Hast du den Krach zwischen Dagmar und Arthur mitbekommen, als Dagmar angekommen ist?«, fragt er.

Nein, habe ich nicht. Krach? Ich weiß nur, dass Arthur es war, der Dagmar hereingelassen hat, nachdem Rosi sich nicht gerührt hat.

»Dagmar hat ein Riesentheater gemacht, als Arthur ihr die Hand zur Begrüßung geschüttelt hat. Sie hat ihn wüst beschimpft und dann angefangen zu heulen. Sie hat echt eine Szene gemacht.«

Ups. Nein, das habe ich echt nicht mitbekommen. Ich war ja damit beschäftigt, den Kaffeetisch vorzubereiten. »Worum ging es denn?«, frage ich, ohne es wirklich wissen zu wollen.

»Sie hat irgendetwas gefaucht von Schmerzen in der Hand wegen ihres Rheumas und was Arthur einfallen würde, ihr die Hand so fest zu drücken. Niemand würde Rücksicht auf sie nehmen. So in etwa. Dann hat sie angefangen zu heulen. War echt krass, die Szene.«

Ich denke kurz nach. Dagmar hat mir tatsächlich einmal in einer ihrer seltenen Mails ihre Lage geschildert. Sie leidet unter Rheuma, was zum einen sehr schmerzhaft und zum anderen für sie als Musikerin sogar existenzbedrohend ist. Arthurs festen Männerhanddruck zur Begrüßung kenne ich. Davon abgesehen mag ich keine schlaffen Händedrücke. Weder von Männern noch von Frauen. Den Schmerz bei einem Händedruck kenne ich inzwischen selbst. Meine Sehnen sind nicht mehr die jüngsten und schmerzen durchaus auch.

Sehr seltsam, denn woher hätte Arthur von Dagmars Rheuma wissen sollen? Vielleicht passte das ja auch zu dem insgesamt doch sehr seltsamen Tag.

Nachdem Arthur und Susanne wieder ausgeflogen waren, waren wir quasi familiär wieder »unter uns«. Wir halfen Rosi beim Aufräumen und Abwaschen des nachmittäglichen Kaffeetrinkens. Jens hat sich wieder um den Hocker und die Stühle gekümmert. Rosis Blick ist seltsam gewesen. »Lass stehen«, hat sie gesagt, »ich räume das nachher selbst hoch.«

»Wieso?«, hat Jens geantwortet, »der ist doch eh nur aus dem ersten Stock. Das Dachgeschoss konnte ich ja gar nicht betreten.«

Bämm! Meine und Rosis Bewegungen erstarrten in genau derselben Sekunde. Schnell habe ich in Rosis Gesicht geblickt und danach in das von Jens. Idiot! Jens kapierte zu spät, dass er Rosis Geheimnis mit dem verschlossenen Dachgeschoss ausgeplappert hat, und wurde rot.

Michael und Dagmar haben etwas irritiert dreingeschaut, aber Rosi setzte bereits zu einer verärgerten Erklärung an: »Ja, ich habe das Dachgeschoss abgeschlossen. Als ihr euch mitsamt Arthur und Susanne angekündigt habt, habe ich gedacht, ihr rückt an, um das Chaos da oben im Dachgeschoss zu beseitigen. Aber das funktioniert nicht. Ich muss es Stück für Stück aufräumen. Wenn ich etwas suche, fahre ich zu Friedrich ins Krankenhaus und frage ihn, wo das liegen könnte. Er kann mir jetzt noch aus der Erinnerung sagen, wo ich suchen muss. Wenn ihr diese Ordnung verändert, werde ich gar nichts mehr finden.«

Ich war entsetzt darüber, dass Rosi offensichtlich furchtbare Angst vor unserem Auftauchen gehabt hat. Ich räusperte mich. »Rosi, niemand hier wird etwas tun, was du nicht willst.« Ich machte eine Pause und sah Rosi an. Ihr Misstrauen schwand etwas in ihrer Mimik. »Kann ich das Dachgeschoss mal sehen? Ich würde einfach gerne einen Blick reinwerfen und schauen, wie da oben die Lage ist. Ich war lange nicht mehr hier, weißt du?«

Rosi ging mit mir nach oben, und ich realisierte, dass sie eine ältere Dame war, die in ihrer Hektik nicht einmal mehr wusste, wo sie die Schlüssel zu den Dachgeschosstüren versteckt hatte. Nach einigem Suchen fand sie die Schlüssel, und ich verstand, was sie meinte. Es ist seit meinem letzten Besuch vor vielen Monaten noch schlimmer geworden. Friedrich hat dort oben alles Mögliche nach seiner Ordnung hingelegt: Bücher, Ordner, lose Papiere. »Danke, Rosi.« Ohne weitere Worte gingen wir wieder nach unten.

 

Um Himmelswillen! Was für ein Durcheinander. Was für ein Tag.

Am Wochenende nach dem Familientreffen ruft Arthur erneut bei uns an. Das überrascht mich diesmal überhaupt nicht, er möchte über das Familientreffen reden. Ich weiß, wie wichtig es ihm war, mal mit Friedrich unter vier Augen reden zu können. Ich kann es mir allerdings nicht verkneifen, Arthur zu stecken, wie belastend unser Besuch für Rosi gewesen sein muss. Alles hat seinen Preis. Dabei denke ich an das verschlossene Dachgeschoss, dazu schweige ich aber.

In drei Wochen werde ich für eine Woche mit meinem Resturlaub zu Rosi starten. Erst dann werde ich mir Gedanken machen, wie dieses Chaos dort oben vielleicht in den Griff zu bekommen ist. Auf jeden Fall werde ich mit Rosi zur Sozialstation im Krankenhaus gehen wegen Rollstuhl, Gehhilfen und Treppenlift für Friedrich.

Das Gespräch nimmt eine überraschende Wende.

»Sag mal, was ist eigentlich mit Dagmar los?« Arthurs Frage kann nur auf Dagmars Szene bei der Begrüßung in Braunschweig abzielen, und tatsächlich erzählt Arthur exakt das Gleiche, was mir vor einer Woche Michael abends beim Chinesen erzählt hat. Ich hatte es eigentlich schon wieder verdrängt, muss aber feststellen, dass Arthur darüber zutiefst verärgert zu sein scheint. »Wäre Dagmar jemand aus meinem Bekanntenkreis, so würde ich sie nach dieser Aktion daraus entfernen. Da sie aber meine Nichte ist, muss ich mir überlegen, wie ich damit umgehe.«

Rosi und Arthur mögen sich gegenseitig nicht.

Michael mag Dagmar nicht.

Rosi mag Wilfried schon länger nicht mehr.

Das Verhältnis zwischen Dagmar und mir bleibt nach wie vor sehr angespannt.

Dagmar hat nach der Aktion beim Familientreffen wohl bei Arthur verschissen.

Wieso muss ich denn eigentlich unbedingt recht haben in der Annahme, dass die Antipathie-Liste schnell länger werden wird?

Zurück nach Deutschland

Die Zeit fühlt sich an, als ob sie an mir vorbeirasen würde, ohne dass ich sie aufhalten kann. Als ich sechzehn Jahre alt war, dauerte es sehr lang, bis ich endlich achtzehn Jahre alt war, um auf die Zwanzig zu warten. Als ich zwanzig Jahre alt war, habe ich immer noch viel Party gemacht und war dann irgendwann dreißig.

Auch für mich stimmt das Klischee: Je älter ich werde, desto schneller rauscht die Zeit an mir vorbei.

Jetzt ist mittlerweile überhaupt nicht mehr an Party zu denken; es gibt nur noch Pflichten wie den Job, die Pendelei, das Geldverdienen. Ehe ich mich versehen habe, steht meine letzte Tour in die Schweiz bevor. Tschühüss, Bernhard alias Dr. Despot! Allerdings haben sich zwischenzeitlich in finanzieller Hinsicht dunkle Wolken an meinem Himmel zusammengebraut. Wenn ich im Auftrag meines Arbeitgebers zu den Projekten reise, dann gehe ich mit den Reisekosten immer in Vorleistung. Nach der Einreichung der Reisekosten geht es normalerweise immer recht flott, dass ich sie erstattet bekomme. Seit einigen Wochen stockt jedoch diese Erstattung, und ich warte schon eine Weile auf mein Geld. Die Reisen in die Schweiz sind teuer, und mittlerweile ist mit dieser letzten Reise mein Erstattungsanspruch auf 10.000 Euro angewachsen. Zehntausend Euro!

Anfangs liefen die Erstattungen wie geschnitten Brot, aber seit mehreren Wochen hängt es wegen irgendwelcher Genehmigungen im Workflow. Woran genau es hängt, habe ich noch nicht herausgefunden, da die Abrechnungen auf den Philippinen gemacht werden und es extrem schwierig ist, dort einen zuständigen Ansprechpartner zu finden. Eigentlich müsste ich mich in meinem Resturlaub mit Hochdruck um die Reisekostenerstattungen kümmern und nicht um Rosi. Pech gehabt, um die Erstattung werde ich mich also später oder parallel kümmern müssen. Wenn ich Ende März meinen Firmen-Laptop abgebe, wird auch meine Personalnummer gelöscht sein. Dann wird es umso schwieriger werden, die Kosten erstattet zu bekommen. Ich kann es nicht ändern. Notfalls verklage ich den Laden.

Mein wöchentliches Hotel-Nomadenleben geht jetzt dem Ende zu. Endlich. Es hat mich in den letzten Wochen umso mehr genervt, weil ich ja weiß, dass ich ab April bei meinem neuen Arbeitgeber für die Werktage in einer Zweitwohnung unterkomme. Mein neuer Arbeitgeber gönnt mir für die ersten sechs Monate eine von ihm bezahlte Werkswohnung. Diese Wohnung ist voll möbliert, und das Allerbeste ist: Ich muss nicht mehr meinen Koffer am Freitagmorgen packen und auschecken. Nee. Ich nehme den Koffer, packe ihn in Braunschweig, und die Sachen können einfach in der Werkswohnung liegen bleiben. Meinen Reisetauchsieder werde ich wieder in einer meiner Schubladen im Arbeitszimmer in unserem Haus in Kaiserslautern verstauen. Und die Story mit den Tütensuppen hat damit auch ein Ende. Heureka, jetzt beginnt das Zeitalter der Dosensuppen! Und es wird machbarer sein, das eine oder andere Mal Rosi und Friedrich über das Wochenende zu besuchen, wenn es notwendig wäre.

Es lebe das Beraterleben – Schnee von gestern

Wenn das Beraterleben nicht so anstrengend wäre, könnte es vielleicht tatsächlich so toll sein, wie die Nachbarn, Freunde und Bekannten denken. Es entsteht immer schnell das Bild der Karrierefrau in Designer-Klamotten, die auf hohen Hacken wichtig ins Ausland fliegen muss – so, wie ich es beispielsweise vor nunmehr vielen Monaten in Richtung Südfrankreich tat. Das Bild der übermüdeten und entnervten Anja kommt mir schon wieder in den Sinn. Ja, wie toll ist es, am Montagmorgen nach anderthalb Stunden Autofahrt (wenn kein Stau oder gar eine Vollsperrung auf der Autobahn ist) um 6:30 Uhr in der Reihe der Mitreisenden in der Security des Flughafens zu stehen! Wenn ich auf der Autobahn Richtung Frankfurt aufgehalten werde, muss ich leider die Abtrennungen bei der Security durchtauchen und Leute beiseitedrängen mit einem »Sorry, ich habe in fünf Minuten Boarding. Ich muss leider …«

Das ist selten – glücklicherweise. Wenn ich mein Abflug-Gate in Frankfurt erreicht habe – und es nicht kurz vor Abflug geändert wird, und ich zu einem anderen Gate hetzen muss (was am Frankfurt Airport echt Strecke bedeutet) – setze ich mich hin und beobachte meine Mitflieger. Spätestens in der Security ist zu sehen, wer Fliegen gewohnt ist und wer nicht. Es ist komisch, aber es ist ein üblicher intuitiver Scan, die Menschen in der Schlange zum Security-Check zu mustern, bevor ich mich in einer der Reihen anstelle. Der Scan ist die Abfrage: Wissen die, was abgeht – oder brauchen die länger?

Teufelchen: »Reih dich in die andere Reihe ein! Die da vor dir sind noch nie geflogen, die werden bestimmt den Security-Check aufhalten.«

Engelchen: »Keep cool! Das hier ist wie an der Kasse eines Supermarkts. Du stehst ohnehin immer in der falschen Schlange an. Ein Wechsel bringt dir auch keine Zeitersparnis.«

Teufelchen: »Anja, fühlst du dich auch so wichtig wie deine Mitreisenden, die schon am frühen Montagmorgen Telefonate führen und auf ihrem Laptop herumhacken, während sie auf das Boarding warten?«

Die Flughafen-Bestimmungen sind sehr unterschiedlich. An manchen Flughäfen muss ich meine Halskette ablegen, den Gürtel abschnallen und die Schuhe ausziehen. An anderen wiederum nicht. In einem sind alle Flughäfen aber seit dem 11. September 2001 gleich. Flüssigkeiten bis 50 ml, Laptops, Handys, Tablets – alles rein in die Box, durch die Security durch. Wer das mit den 50 ml beim Kabinenkoffer nicht weiß, ist schon mal sein Deo los. Mülltonne.

Wer nach Kuba fliegen will, überfliegt amerikanisches Hoheitsgebiet und muss die ESTA-Bedingungen erfüllen.

Aber auch die europäischen Flüge sind schon interessant. Vor allem am Montagmorgen in aller Frühe sind die Wichtigtuer in ihren schicken Anzügen am besten. Sie hacken geschäftig auf ihren Laptops herum und laufen ebenso wichtig mit ihren Smartphones telefonierend durch die Gegend. Dann stelle ich mir vor, wie ich selbst um diese Zeit zum Beispiel meinen Mann anrufen würde, um ihm zu sagen, dass ich wichtig bin. Der würde mir was husten.

Also – wen rufen diese Wichtigtuer am frühen Montagmorgen um sieben Uhr denn an? Mit Blick auf die Zeitzonen könnte ich mir um die Zeit Telefonate nach Asien vorstellen. Die sind der Central European Time voraus. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass alle Mitreisenden um mich herum mit Asien telefonieren. Ich glaube eher, dass sie Normalos sind, solche wie ich. Müde am Gate stehend und um diese Uhrzeit noch keinen Bock auf anstrengende Telefonate habend. Unwichtig halt. Aber während sie wichtigtun, schüttele ich nur mit dem Kopf.

Die Vielfliegerei hat sich allerdings jetzt mit meinem neuen Job erledigt. Genauso, wie es sich erledigt hat, weiterhin in die Schweiz zu fahren. Auch das ist vorbei. Ade, Schweiz! Ade, Drehkreuz-Hänger! Ade, Hotel! Endlich kein »Guten Abend, Frau Raab! Schön, Sie wieder begrüßen zu dürfen.« mehr.

Mein Parkplatz in der Tiefgarage ist längst gekündigt. Was aber aus der Schweiz bleiben wird, ist der knallgelbe Kaffeebecher mit der dicken, fetten, schwarzen Aufschrift: »Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden!« Es ist der Becher von einem coolen Typen aus dem Projektteam auf Kundenseite. Ich habe mir den Becher immer von ihm ausgeliehen und mit in unser internes Morgenmeeting ohne Kunden mitgenommen. Wenn Dr. Despot alias Bernhard wieder zu ausfällig geworden ist, habe ich diesen Becher immer mit einem lauten Geräusch auf die Tischplatte vor mir gestellt – so, dass Bernhard es nicht übersehen und überhören konnte. Er hat mich sicher dafür gehasst, und der coole Typ auf Kundenseite hat gegrinst, als ich ihm im Nachgang von der Wirkung des Kaffeebechers erzählt habe. Er hat mir den Kaffeebecher zum Abschied geschenkt, und ich werde diesen Becher in Ehren halten.

Heureka, ein neuer Job!

Ich freue mich auf meinen neuen Job. Ich übernehme ein Team, das mich schon aus meinen Projektzeiten als Externe kennt. Ich war dort schon einmal als Beraterin im Einsatz. Nun kehre ich als interne Teamleiterin zurück. So komisch ist das manchmal mit dem »man sieht sich immer zweimal im Leben«. Es ist mir eine echte Freude, dass ich mich zunächst um keine Zweitwohnung kümmern muss, sondern diese Werkswohnung gestellt bekomme. Ich habe sie in Hanau in der Nähe meines neuen Arbeitgebers schon besichtigt. Die Schlüsselübergabe wird am letzten Märzwochenende erfolgen, also nach meinem Besuch in Braunschweig in meinem Resturlaub.

Die Werkswohnung wird neu renoviert, hieß es bei meiner Besichtigung. Sie hat zwei Etagen im zweiten Stock und im Dachgeschoss eines Einzelhauses mit insgesamt drei Parteien. Im Erdgeschoss wohnt die Tochter meiner Vermieterin mit Mann, Kind und zwei Hunden. Im ersten Stock wohnen die Eltern meiner Vermieterin. Hoffentlich wird dieser Familien-Clan nicht anstrengend.

Meine Wohnung oben ist früher von den beiden Söhnen der Vermieter bewohnt worden. Der ältere Sohn war im zweiten Stock und der jüngere im Dachgeschoss. Der Umbau ist durchgeführt worden, um aus den beiden Wohnungen der Obergeschosse eine einzige Wohnung zu machen. Und so abenteuerlich ist dann auch das Ergebnis. Die Steige ins Dachgeschoss ist schmal und steil, und ich kann mir jetzt schon ausmalen, wie oft ich mir die Knochen einrammen werde, wenn ich hier meine Einkäufe hochschleppen muss. Die Küche ist nämlich oben. Insgesamt hat die Wohnung nach dem Umbau 80 m2, und ich finde, das ist für eine Zweitwohnung zu groß. Ich werde das Gästezimmer im Dachgeschoss niemals benutzen – putzen muss ich es aber trotzdem.

Das Wohnzimmer ist auch ziemlich groß und hat einen riesigen Fernseher an der Stirnseite. Gott sei Dank ist im Schlafzimmer auch ein Fernseher an der Wand. Ich denke nicht, dass ich mich oft im Wohnzimmer aufhalten werde. Es ist mit einer Sofaecke und einem Fernsehsessel altmodisch eingerichtet.

Im Badezimmer befinden sich ausgefranste, ausgewaschene Handtücher in einem weißen Hochschrank aus billigem Press-Span. Wenn ich den Schrank ein bisschen anstupse, wackelt er. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Eines weiß ich aber: Ich werde mir eigenes Geschirr und viele eigene Utensilien besorgen. Ich will nicht den Toaster aus einer Werkswohnung benutzen oder einen der Teller, die einem Sammelsurium alter, nicht mehr benötigter Geschirre entsprechen, wie man es oft auch in Ferienwohnungen vorfindet.

 

Also muss ich mich nicht nur um Rosi bemühen, sondern auch um mein Drumherum des Wohlfühlens im neuen Job.

Aber shoppen, das kann ich gut. Ich bekomme es hin, das Shoppen nebenbei. Aber auch erst, seitdem die Läden ihre Ladenschlussgesetze geändert haben. Hätten manche Läden nicht bis um 22 Uhr geöffnet, wäre mein Ansinnen ein schöner Wunschtraum geblieben. Aber so kann ich shoppen, was das Konto hergibt.

eine neue Kaffeemaschine

einen Toaster und einen Eierkocher

einen Wasserkocher

eigene Bettwäsche

eigene Handtücher

eigenes Geschirr

Alles in allem ist es natürlich genial, dass ich mich erst einmal nicht selbst um eine Bleibe kümmern muss. Es wird sich schon noch herausstellen, ob ich die Wohnung dann später auf eigene Kosten weitermieten oder mir eine andere Bleibe suchen werde. Zu dieser Entscheidung stehen sich zwei Überlegungen gegenüber:

Es ist mir zu anstrengend, schon wieder eine neue Bleibe zu suchen und umzuziehen. Ich miete daher die Werkswohnung später weiter auf meine Kosten an. 800 € Kaltmiete für Pressspan-Möbel zu zahlen, gefällt mir aber nicht.

Ich kann es nicht leiden, dauerhaft zwischen mir fremden Gegenständen zu wohnen, die sich in Pressspan-Möbeln und steilen Stiegen äußern. Ich ziehe doch lieber in eine eigene Wohnung.

Es gibt noch andere wichtige Gesichtspunkte, die einen Ort funktional akzeptabel machen. Vor zwanzig Jahren wäre es nicht so gewesen, aber heute stellt sich die Frage: Werde ich es in der Werkswohnung sechs Monate ohne Internetanschluss aushalten? Ich habe nämlich nicht vor, für die kurze Übergangszeit einen Anschluss einrichten zu lassen. Immerhin habe ich meinem alten Handy schon den Garaus gemacht und werde mit meinem Smartphone auf das Internet und die privaten Mails zugreifen können.