Gewaltkette

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»Ich finde ihn, Sir.« Santoshs Stimme hob sich zu einem Quietschen.

Gowda betrachtete das Gesicht des Jungen. Dort kämpfte das Verlangen nach Rache mit dem Wunsch, einen Verbrecher zu fassen, der dachte, er hätte sie ausgetrickst.

»Du weißt, dass ich auf deiner Seite stehe, oder?«, sagte Gowda. »Wir finden ihn.«

Sein Handy klingelte. Das altmodische Trillern eines schwarzen Bakelittelefons mit Wählscheibe.

»Sie haben den Klingelton geändert.« Santosh grinste.

Gowda zuckte die Achseln, dann nahm er stirnrunzelnd das Gespräch an. »Shanthi«, knurrte er in den Hörer, »wo steckst du? Was? Ich komme. Gib mir ein paar Minuten.« Er griff nach dem Schlüssel für die Bullet.

Einst hatte es in Doddegubbi nichts als Mangohaine und Hirsefelder gegeben. Die wenigen Bauern, die hier lebten, hatten alle Mühe, dem Boden ihren Lebensunterhalt abzuringen. Sie bauten an, was immer hier zu wachsen vermochte. Blumenkohl, Kohl, Bohnen, Spinat, Schlangenhaargurken und Chayoten, die anderswo Bangalore-Kürbis genannt wurden. Sie ließen ihre Kühe weiden und gingen abends zum Gebet in den alten Tempel. Doch eine große Konvertierungskampagne der Kirche in den späten Neunzigerjahren veränderte alles. Auf einer viele Hektar großen Brache siedelten sich Menschen an. Jeder Konvertit erhielt ein Stück Land und etwas Geld für den Hausbau. Die Armen aus Vasanth Nagar, Lingarajapuram und Vivek Nagar strömten zu den Grundstücken, die ihnen die Kirche als Gegenleistung für ihre Konvertierung gab, und quasi über Nacht entstand ein neues Dorf. Es bekam den Namen Gospelnagar.

In Erwartung der konvertierten Schäfchen öffnete die Kirche ihre Tore. Doch nur wenige kamen. Familienväter und Ehefrauen konvertierten, doch die Kinder blieben Hindus. Und auch wenn am Türsturz des Hauses ein Kreuz hing und im Zimmer ein Foto von Jesus mit seinem blutenden Herzen und dem langen, melancholischen Gesicht, so gab es doch auch Bilder von Ganesha, Lakshmi und Shiva, die über den Haushalt wachten.

Shanthi und ihr Mann hatten zu den frühen Konvertiten gehört. Shanthi hatte ihre Religion eigentlich nicht wechseln wollen, aber Ranganna, der jetzt Daniel Ranganna hieß, wie sie zu Esther Shanthi geworden war, hatte darauf gedrängt. Es war ihre einzige Chance gewesen, jemals ein eigenes Haus zu besitzen.

Ein buntes Häufchen aus Männern, Frauen und Kindern hatte sich vor der Häuserreihe in Gospelnagar versammelt. Sie machten große Augen, als Gowda auf seinem Motorrad, dessen Tuckern in der Straße widerhallte, um die Ecke bog.

Ranganna, Shanthis Mann, stand am Straßenrand, eine Hand auf die Hüfte gestützt. Mit der anderen schlug er sich gegen die Stirn, während er mit einigen Männern sprach. Beim Anblick von Gowdas Maschine löste er sich von der Gruppe.

Gowda bockte die Bullet auf. Santosh stand hilflos daneben und wusste nicht recht, was von ihm erwartet wurde. »Was ist passiert?«, fragte Gowda so barsch, dass Santosh sich wunderte. Gowda mag Shanthi wirklich sehr, dachte er.

»Ich weiß es nicht, Sir, ich weiß es nicht«, jammerte Ranganna und schlug sich mit beiden Händen auf den Kopf. »Daran ist nur die Frau schuld. Nie ist sie zu Hause. Wer weiß, was meiner Tochter zugestoßen ist?«

Gowda brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen. »Spar dir das Theater, Ranganna«, schnauzte er. »Wenn hier irgendwer Schuld hat, dann du. Würdest du deinen Lohn nicht versaufen, müsste Shanthi nicht in drei Haushalten arbeiten. Wo ist sie?«

Bei diesen Worten trat Shanthi aus dem Haus. Ihr Haar war ungekämmt, ihr Gesicht tränenverschmiert. »Hier bin ich, Sir«, sagte sie mit vom Weinen heiserer Stimme.

»Sag mir, was passiert ist.« Gowdas Ton wurde gleich viel sanfter.

»Sie ist am Mittwoch wie immer zur Schule gegangen, Sir. Sie hatte eine Matheprüfung. Als sie um eins nicht zurück war, habe ich mir Sorgen gemacht. Ich habe bis zwei gewartet, dann bin ich zur Schule gegangen. Die Lehrerin sagte, sie hat die Prüfung mitgeschrieben, ist aber eine Stunde vor Schluss alleine gegangen. Alle ihre Freundinnen haben noch geschrieben. Ich bin zu jeder einzelnen nach Hause gegangen, aber keine kann sich erinnern, sie danach noch in der Schule gesehen zu haben. Wohin kann meine Nandita gegangen sein, Sir?« Shanthi begann zu schluchzen.

Santosh sah Gowdas Unbehagen und fragte: »Haben Sie bei der Polizei Meldung gemacht?«

Shanthi schüttelte den Kopf. Ihr Mann mischte sich ein. »Wir können nicht zur Polizei gehen. Wenn alle davon wissen, wer soll sie dann noch heiraten?«

»Sie ist wie alt, zwölf? – Und du machst dir Sorgen darüber, was in zehn Jahren sein wird?«, fauchte Gowda.

Shanthi ging hastig dazwischen. »Ich wollte warten, bis Sie zurück sind, Sir. Ein paar unserer Verwandten sind schon auf der Suche nach ihr.«

Gowda seufzte. Die meisten Leute mieden die Polizei und umgingen das Revier weiträumig. Selbst wenn sie die Hilfe des Gesetzes benötigten. »Du gehst jetzt sofort aufs Revier und meldest sie als vermisst. Wir können nichts unternehmen, solange keine protokollierte Vermisstenmeldung vorliegt«, befahl er Ranganna. »Ich sage dem Revierschreiber Bescheid. Head Constable Gajendra kennst du, nicht wahr?« Er sah Shanthi an. »Geh du auf jeden Fall mit.«

»Wie wollen Sie denn zurechtkommen, Sir?«, fragte sie, als er sich zum Gehen wandte.

»Mach dir darum keine Sorgen. Lass uns erst mal deine Tochter finden«, sagte Gowda sanft. »Bestimmt ist ihr nichts passiert«, fügte er hinzu. »Sie wird zu Verwandten in Kolar gegangen sein oder so. Lebt dort nicht deine Familie?«

Shanthi nickte. »Und eine Tante in Tumkur.«

»Da wird sie sein.« Gowda ließ das Motorrad an und wandte sich an Santosh. »Hast du zu Mittag gegessen?«

»Nein, Sir, aber …«

»Wenn ich nicht bald was esse, falle ich um. Wenn du nichts essen willst, kannst du mir zusehen«, knurrte Gowda.

Auf der Fahrt blickte sich Santosh aufmerksam um. »Es kommt mir vor, als hätte sich alles verändert. Ich war nur sechs Monate weg, aber es fühlt sich an wie sechs Jahre«, sagte er leicht schwermütig.

Sie betraten eine Art Café mit Stahlrohrstühlen und Granittischen. An der stuckverzierten Wand hing ein Fahrrad, und an jedem Tisch war eine Fahrradklingel angebracht, mit der man die Bedienung rufen konnte.

Gowda klingelte ziemlich gebieterisch und sagte: »Wandel ist unvermeidlich. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen.«

Während sie auf ihr Essen warteten, rief Gowda Gajendra an. »Lassen Sie heute Abend den Kinderschutzbeauftragten kommen. Ich muss mit ihm sprechen.«

Gajendra seufzte. »Wir haben keinen mehr, Sir!«

Gowda runzelte die Stirn. »Wieso? Was ist mit Manjunath?«

»Sein Vater ist verstorben, und er hat unbezahlten Urlaub genommen. Ich fürchte, er wird um Versetzung nach Tumkur bitten«, sagte Gajendra.

Gowda schwieg einen Moment lang.

»Ich glaube, Sie denken, was ich denke, Sir«, sagte Head Constable Gajendra leise.

Gowda grunzte. »Lassen Sie mich mit DCP Mirza reden. Er ist der beste Ansprechpartner dafür. Ich bin sicher, er wird zustimmen.«

»Santosh wird einen guten Kinderschutzbeauftragten abgeben, Sir. Und es verschafft ihm etwas Zeit zur Eingewöhnung, bevor er in den aktiven Dienst zurückkehrt«, sagte Gajendra.

Santosh beobachtete Gowda beim Essen. Anscheinend hatte auch er sich verändert. Irgendetwas war anders, doch er konnte nicht genau sagen, was. Wo war der Mann geblieben, der das nächste Darshini-Restaurant aufgesucht und Bisibele Bath oder Karabath vertilgt hätte? Stattdessen aß er in einem Laden namens Bicycle Café etwas, das wie sehr dicke Nudeln aussah. Abgesehen von der Wanddekoration waren keine Fahrräder zu sehen und auch kaum eine Menschenseele.

»Schmeckt Ihnen das, was Sie da essen?«, fragte Santosh. »Sind das Maggi-Nudeln?«

»Pasta.« Gowda wickelte einen Strang um eine Gabel. »Schmeckt gut. Willst du mal probieren?«

Santosh biss sich unschlüssig auf die Lippe. »Ist das Rind?«

Gowda runzelte die Stirn. »Huhn. Aber was ist schlimm an Rind?«

»Wir sind Hindus, Sir!«

Gowdas Mund verzog sich zu einem strengen Strich. Santosh spürte den vertrauten Angstknoten. »Ich probiere gern«, sagte er hastig.

Gowda rief nach einem zweiten Teller. Er tat Santosh auf und sagte: »Nicht die Hand nehmen. Schau her, wie ich die Gabel benutze …«

Santosh starrte hilflos auf seine Pasta. Manches ändert sich nie, dachte er. Gowda hatte nach wie vor die Gabe, ihn mit tiefer Bewunderung zu erfüllen und im nächsten Moment zur Weißglut zu treiben. Wir sind Inder, Inder essen mit der rechten Hand. Warum müssen wir eine Gabel benutzen? Gott weiß, in wie vielen Mündern die schon gesteckt hat.

»Bist du bereit, in den Dienst zurückzukehren?«, fragte Gowda unvermittelt. Ein warmer Windstoß fegte durch den Raum, als die Tür aufging und eine Gruppe Studenten aus dem Nord­osten hereinkam.

Santosh starrte sie kurz an, dann sah er Gowda in die Augen und sagte: »Ich bin mir nicht sicher, Sir. Aber wenn ich es jetzt nicht versuche, schaffe ich es womöglich niemals.«

»Zahllose Polizisten tun ihr Leben lang Dienst, ohne dass ­ihnen je so etwas zustößt. Es ist großes Pech, dass dir das gleich bei deinem ersten Fall passiert ist.« Gowda wählte seine Worte mit Bedacht. »Jetzt bist du nur unsicher, aber wenn du noch ein paar Tage wartest, geht es vielleicht nie mehr. Was auch kommt, ich stehe hinter dir. Und …« Gowda stockte. »Ich werde dich nie wieder dein Leben riskieren lassen. Das habe ich mir geschworen.«

Santosh spürte einen Kloß im Hals. Aber er wusste, dass Gowda nicht hören wollte, wie gerührt er war. Also sagte er: »Die hätten ruhig ein bisschen Dhania Podi an dieses Pasta-Zeug tun können!«

 

Gowda brummte zustimmend. Er war derselben Meinung, aber Urmila hatte ihm dafür fast den Kopf abgebissen. ›Was ist los mit dir? Das ist ein italienisches Gericht. Das soll man essen wie die Italiener, statt es unter Korianderpulver zu begraben und etwas Udupi-Italienisches daraus zu machen.‹

»Wohl wahr.« Er grinste. Und klingelte. »Bringen Sie mir mehr Chili und etwas Korianderpulver«, sagte er.

Moina betrachtete das Päckchen Essen, das man ihr gegeben hatte. Wieder Biriyani. Früher hatte sie von Biriyani geträumt – der aromatische, lockere Reis, Körnchen für Körnchen umhüllt mit Ghee und Gewürzen, Hammelfleisch- und Kartoffelwürfel, die Wirbel aus gebratener Zwiebel –, doch jetzt war sie es leid. Sie träumte von ganz anderen Dingen: ein langes luxuriöses Bad in klarem Wasser, das sie Eimer für Eimer aus dem Brunnen hinter dem Haus gezogen hatte. Dal Chaval und ein Stück gebratener Fisch und eine lange grüne Chilischote, die ihre Zunge zum Kribbeln brachte. Ein Spaziergang auf der Straße, den Wind im Gesicht. Eine ganze Nacht schlafen. Ein Ende der Schläge, und dass das Brennen zwischen ihren Beinen aufhörte.

»Was? Schmeckt’s dir nicht?«, fragte Daulat Ali, als er das unberührte Essen sah. »Was möchte denn die Shezadi? Sag es nur.«

Moina spürte ihr Herz in der Brust hämmern. Wenn er sie Prinzessin nannte, folgten kurz darauf Prügel. Sie blinzelte heftig. »Nein, nein, ich wollte nur den Duft genießen«, sagte sie, stopfte sich Reis und Fleisch in den Mund und schmatzte laut, um zu zeigen, wie gut es war.

Daulat Ali sagte nichts. Aus dem Verschlag gegenüber drang ein wimmerndes Geräusch. Ein Mädchen weinte.

»Oii, halt’s Maul«, knurrte Daulat Ali und riss den Vorhang zur Seite. »Oder willst du, dass ich reinkomme?«

Moina erhaschte einen Blick auf das Mädchen, ehe er den Vorhang wieder zuzog. Es war ein Kind. Ich bin sechzehn, aber das ist ein Kind, dachte Moina. Wie alt mag sie sein? Zwölf oder dreizehn?

»Beeil dich mit dem Essen, dann kannst du dich im großen Waschraum waschen. Nimm ein Bad. Hier riecht’s wie im Schweinestall!«, sagte Daulat Ali und ging.

Das Kind hat Hunger, dachte sie. Es weint, weil es Angst und Hunger hat. Moina kniff die Augen zu. Sie wollte nicht an andere Gründe denken.

Daulat Ali kam zurück und baute sich vor ihr auf. »Nimm das Mädchen mit. Zeig ihr den Waschraum und mach ihr klar, wenn sie was zu essen will, muss sie tun, was wir sagen. No dhandha, no khana – keine Arbeit, kein Essen. Sag ihr das!«

Moina rappelte sich auf. Im Gang gab es eine kleine stinkende Toilette, die sie benutzen durfte. Der große Waschraum lag am Ende einer Terrasse, ein paar Meter entfernt von der Hintertür. Zehn Schritte. Sie hatte sie gezählt. Zehn Schritte, bei denen sie einen kurzen Blick in den Himmel werfen, die Luft riechen und die Sonne auf ihrer Haut spüren konnte.

Als Moina die zehnte Klasse beendet hatte, daheim in Bangladesch, schlug eine Bekannte ihrer Mutter vor, sie sollte einen Nähkurs besuchen. Dann kann sie einen Job in einer Textilfabrik bekommen, hatte die Frau gesagt. Zwei Straßen von ihrem Zuhause entfernt lag die Schneidereischule Noor. Niemand wusste, wer Noor war, die Betreiberin oder ihre dralle Tochter. Moina machte es wie alle anderen, sie nannte die ältere Frau Tante. Schnell war sie Tantes beste Schülerin. Und Tante erzählte ihr auch, dass ihre Schwester, die für einen Modedesigner arbeitete, noch eine gute Näherin suchte. Es war Tante, die mit ihrer Mutter sprach und alle Vorbereitungen traf. Tante zahlte ihrer Mutter fünfzehntausend Rupien als Vorschuss auf das Gehalt, das sie dort verdienen würde.

Von Faridpur aus fuhren sie mit dem Bus nach Jessore. Dort holten zwei Männer sie ab und brachten sie mit dem Motorrad zur Grenze. Zwei Männer, die ein Loch im Stacheldrahtzaun kannten und ihn aufhielten, damit die Frauen hindurchschlüpfen konnten. Moina starrte die Lücke an und bekam so entsetzliche Angst, dass sie wie angewurzelt stehen blieb. Was für eine Grenze überschritt sie da? Tante gab ihr einen heftigen Stoß und zischte: »Willst du, dass die verdammte Grenzpolizei uns erschießt?«

Entsetzt hastete sie weiter. Die Grenzpolizei kannte keine Gnade, hatte man ihr gesagt. Die erschossen alles, was ihnen verdächtig vorkam – ob Katze, Krähe oder kauernde Frau. Sie stolperte und griff in den Stacheldraht. Einer der Männer zog ihre Hand weg, Blut schoss aus der Handfläche.

Irgendwo an dieser Grenze habe ich ein Stück von mir verloren – Fleisch und Blut, erzählte Moina später Sanya.

Moina schaffte es über die Grenze. Doch danach verlor sich alles in einem Nebel aus Schmerz. Die beiden Männer verschwanden, zwei andere brachten sie nach Habra, wo ein Arzt die klaffende Wunde in ihrer Hand nähte. Von da nach Kalkutta, dann trug ein Zug sie und Tante nach Bangalore. Als sie am Bahnhof ausstiegen, verspürte Moina zum ersten Mal so etwas wie Hoffnung. Die Angst und Unsicherheit, die sie geplagt hatten, ließen nach.

Tante schien den Weg ganz gut zu kennen. Mit einer Autorikscha fuhren sie zu einem Haus in einer Wohnsiedlung. Sie hatte gehört, wie Tante »Horamavu« sagte. Was bedeutet das, fragte sie sich.

»Hier wohnt meine Schwester«, hatte Tante gesagt. Aber ­außer zwei Männern war niemand da. Moina war zu müde, um sich Gedanken zu machen. Sie aß den Reis mit Dal, den Tante gekocht hatte, und schlief ein. Als sie erwachte, war ­Tante verschwunden, und die beiden Männer warteten schon. Sie sagten, sie solle ihre Sachen packen.

»Gehen wir zur Fabrik?«, fragte Moina.

Der eine nickte. Der andere sagte: »So kann man es nennen.«

Die Fabrik sah völlig anders aus als in Moinas Vorstellung. Sie hatte sich eine große Halle mit vielen Nähmaschinen ausgemalt, an denen viele Frauen saßen und Kleider nähten. An den Decken riesige Neonlampen, und eine Klimaanlage, damit der Stoff keine Schweißflecken bekam. Es wurde gelacht und getratscht, und am Wochenende gingen sie alle shoppen oder ins Kino.

Stattdessen führte man sie durch eine schmale, von Mietshäusern eingerahmte Straße. Am Ende befand sich ein Gebäude, dessen blassrosa Farbe an manchen Stellen braun wurde, an anderen grau. Im Erdgeschoss war ein Lagerraum, eine Treppe führte in den ersten und zweiten Stock. Als sie hinaufstiegen, war es eigenartig still im Haus.

Moina begriff, dass etwas nicht stimmte. Wo waren die anderen Mädchen? Der Lärm und die Stimmen in einer Fabrik? Nicht mal ein Schild gab es. Aber die beiden Männer hatten sie zwischen sich genommen, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als dem Mann vor ihr zu folgen. Und am Ende der Treppe hatte Daulat Ali auf sie gewartet.

Er hatte sie in einen Verschlag geführt, wo ein anderes Mädchen stand. Sie hatten sich unsicher angeblickt. Sanya lächelte als Erste. »Woher kommst du, Didi?«, fragte sie.

Auch sie war aus Bangladesch. Aus Daulatpur. Moina war noch nie aus Faridpur herausgekommen. Es war ihre ganze Welt gewesen. Und jenseits davon, so hatte sie immer geglaubt, lag eine andere Welt, die nichts mit ihrer gemein hatte. Aber Sanyas Daulatpur, ihr Zuhause und ihr Leben schienen sich nicht sonderlich von Faridpur und Moinas Leben zu unterscheiden. Sanya war zwölf gewesen.

Sie hatten allerdings nicht viel Zeit zusammen gehabt. Ein paar Stunden später war Sanya abgeholt worden. Moina hatte einen spitzen Schrei gehört, dann dröhnte Stille in ihren ­Ohren.

Den Rest des Tages war niemand in ihre Nähe gekommen.

Am nächsten Tag schob man ihr einen Teller Essen hin. In der Ecke stand ein Farbeimer aus Plastik. Das sollte ihre ­Toilette sein. Sie hatte zusammengekauert dagehockt und sich gefragt, wie sie es anstellen konnte zu fliehen.

Daulat Ali klopfte laut an die Sperrholzwand des Verschlags. »Was ist? Bist du immer noch da drin?«

Hastig nahm Moina ihr Handtuch, ihre Seifendose und ein Shampootütchen und ging zum Verschlag gegenüber. Sie wäscht sich besser gleich die Haare, wenn sie schon mal Wasser hat, dachte sie. Behutsam zog sie den Vorhang auf und sagte zu dem Kind: »Komm mit.«

Das Mädchen duckte sich und klammerte sich an das Bett, auf dem sie saß. Als Moina näher trat, zuckte sie zusammen und begann zu schreien.

Moina legte dem Kind die Hand auf den Mund – die verletzte Hand, an der eine Narbe noch von ihrer Reise zeugte. »Scht …«, sagte sie.

Das Mädchen hatte etwas an, das nach Schuluniform aussah. Einen blauen Kamiz und eine weiße Shalwar. Ein weißer Dupatta war immer noch in V-Form an den Kamiz geheftet. Ihr Haar war mit blauen Bändern zu zwei Zöpfen geflochten. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und sie sah aus, als hätte sie seit Tagen nicht gegessen oder geschlafen.

Moina sagte sanft: »Wo kommst du her?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie verstand kein Bengali. Moina legte den Finger an die Lippen, zum Zeichen, leise zu sein. Dann zeigte sie auf sich und raunte: »Moina.«

Das Mädchen starrte sie aus tränennassen Augen an. »Nandita«, sagte sie.

Gowda warf einen Blick auf die Uhr. Für elf Kilometer blieben ihm noch zwanzig Minuten. Sie befanden sich in Hennur Bande, und der Verkehr machte keine Anstalten, schneller zu fließen. Vor ihnen lagen drei Ampeln hintereinander. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht, im Berufsverkehr diese Strecke zu fahren?« Gowda seufzte.

»Ich dachte, wir könnten die äußere Ringstraße nehmen und am Nagaware Lake nach Thanisandra einbiegen. Von dort kenne ich einen Weg nach Saharkarnagar. Und dann ist Kodigehalli nicht weit. Ich dachte, wir würden noch vor der Zeit da sein.« PC David schlug ungeduldig aufs Lenkrad.

Deputy Commissioner Sainuddin Mirza legte größten Wert auf Pünktlichkeit und würde Inspector Gowda ein Zuspätkommen nicht verzeihen.

»Können wir eine andere Strecke nehmen, um dieses Nadelöhr zu umfahren?« Gowda sah in den Rückspiegel. Zum Glück schien genug Platz zu sein, um sich aus dem hinter ihnen gestauten Verkehr herauszumanövrieren.

»Es gibt noch eine, Sir, aber die Straße – wenn man das so nennen kann – ist grauenhaft«, sagte David rasch. Es war schon nicht leicht, mit einem gut gelaunten Gowda umzugehen, aber ein schlecht gelaunter Gowda … David schauderte.

»Fahren Sie einfach«, sagte Gowda mit einem erneuten Blick auf die Uhr.

David bog in eine Straße ein, die nach Narayanpura führte. Er schien ein unsichtbares Navigationsgerät im Kopf zu haben, das ihn lenkte, während er wild durch Gassen kurvte und auf Schotterwegen Staub aufwirbelte. Mit Erstaunen sah Gowda die Landschaft an sich vorbeiziehen. Hier ein Acker mit Blumenkohl. Dort eine Wiese mit Ringelblumen. Ein Bach, über den eine winzige Brücke führte. Ein kleiner Tempel unter ­einer riesigen Pappelfeige. Eine behelfsmäßige Steinbank an einem Kasuarinenhain, auf der auf einen Stock gestützt ein alter Mann döste. Eine grasende Schafherde, dazwischen ein Hund. Wer hätte gedacht, dass es hier solche Nischen ländlicher Idylle gab, nur wenige Kilometer entfernt von der Stadt, die aus allen Nähten platzte? Einen Augenblick lang wünschte er, er säße auf seiner Bullet. Und nahm sich vor, diese Straßen bald zu erkunden.

Gerade noch rechtzeitig erreichten sie das Büro des DCP. Gowda betrachtete sich im Rückspiegel und setzte probeweise ein Grinsen auf. Er war bereit für das falsche Lächeln und die Fragen nach seinem Befinden, die er auf dem kurzen Weg durch den Korridor und die Treppe hoch zu Mirzas Amtszimmer würde erdulden müssen.

Mirzas Büro ist eine Ode an den Minimalismus, dachte Gowda trocken. Mitten im Raum stand ein schwerer Holztisch mit einer Glasplatte. Er war auffallend leer, bis auf DCP Mirzas Laptop, der aufgeklappt vor sich hin summte. Rechts und links standen Beistellcontainer, die, wie er wusste, Bücher und Krimskrams enthielten. Auf einem davon lagen etliche Telefone, daneben eine dunkelbraune lederne Aktentasche. Über der Rückenlehne des Stuhls hing ein gestreiftes Frottiertuch. Gowda wurde bewusst, dass ein ganz ähnliches in seinem Büro über seinem Stuhl hing. Er wusste nicht einmal, was es dort sollte oder wer es da hingehängt hatte. Vielleicht unterschied das den Staatsbeamten von einem Angestellten im Privatsektor? Ein gestreiftes Frottiertuch, das ohne Worte so viel sagte. Das von der Selbstgefälligkeit kündete, die mit einem sicheren Job einherging, von der Trägheit indischen Beamtentums, der Knechtschaft gegenüber Bürokratie und Regeln. Doch DCP Mirza war ganz anders. Apropos, wo steckte der eigentlich?

Er tauchte eine Minute später aus dem Bad auf, das an sein Arbeitszimmer angebaut war. Gowda nahm Haltung an und salutierte.

 

»Sie haben abgenommen«, sagte der DCP zur Begrüßung.

Gowda grinste. »Ich trainiere, Sir, und habe wieder angefangen zu joggen.«

»Sind Sie sicher, dass Joggen in Ihrem Alter ratsam ist?«, ertönte eine Stimme hinter ihm.

Entsetzt schloss Gowda die Augen. Wo war denn dieser Orang-Utan in Uniform so plötzlich hergekommen? Er hatte Gajendra extra diskrete Erkundigungen nach seinem Terminplan durchführen lassen und die Auskunft erhalten, er wäre bei einer Gerichtssitzung in der Mayo Hall.

DCP Mirza wirkte genauso überrascht und bestürzt über das Auftauchen von Assistant Commissioner Vidyaprasad. Der Mann war eine Nervensäge, leider mit sehr guten Verbindungen bis nach ganz oben. Trotz des Skandals um den Corporator-Fall, wo es viel Spekulation und auch Beweise für seine engen Verbindungen zum Corporator gegeben hatte, darunter auch die schnelle Freilassung Chikkas auf Kaution, war er mit einem Klaps auf die Finger davongekommen und unbeschadet auf seinen Posten zurückgekehrt. Tatsächlich war er seither noch blasierter und doppelt so gefährlich. Gowda und Vidyaprasad in einem Raum, das war, wie seine Ammi sagen würde, als würde man einen Mungo mit einer Schlange zusammensperren.

»Ich dachte, Sie haben heute Nachmittag eine Gerichtsverhandlung.« Mirza bedeutete ihnen, sich zu setzen.

Links vom Tisch standen zwei Stühle. Auf einen davon glitt Vidyaprasad. Er bedachte Gowda, der sich ebenfalls setzte, mit einem abschätzigen Blick. »Die wurde auf nächste Woche verschoben. Die Frau des Richters ist heute Morgen verstorben«, erklärte der ACP. »Verdammt lästig, wenn Sie mich fragen.« Dann sah er wieder Gowda an und fragte: »Und, was führt Sie her, Gowda? Ihnen ist doch bewusst, dass alle Anfragen über mich laufen müssen.«

Gowda biss sich auf die Lippe. Was um alles in der Welt sollte er tun? Er wusste, egal, was er vorbrachte, der ACP würde sein Anliegen entweder abschmettern oder einfach verschleppen, schon aus Prinzip.

»Was ist mit dieser Klostersache? Haben Sie mit den Mönchen gesprochen?«

»Ich bin heute Mittag aus Markapur zurückgekommen und musste erst einem Vermisstenfall nachgehen. Um die Klostersache kümmere ich mich heute Abend noch.«

»Was wird denn vermisst? Ein Kalb? Diese Bauernreviere …« Der ACP verdrehte die Augen und lachte wiehernd.

»Ein zwölf Jahre altes Mädchen, Sir«, sagte Gowda leise.

»Sicher hat sie sich zu irgendwelchen Verwandten abgesetzt. Es ist Prüfungszeit. Da tun diese Kinder so was. Aber die Vergewaltigung im Kloster kann leicht Probleme mit Menschenrechtlern und mit der Gemeinde nach sich ziehen. Also kümmern Sie sich darum, und zwar schleunigst. Und schicken Sie mir einen ausführlichen Bericht«, blaffte der ACP.

DCP Mirza holte tief Luft. »Vidya«, er sprach den Mistkerl mit der Kurzform seines Namens an, um das Folgende etwas abzumildern, »ich muss Gowda in einer vertraulichen Angelegenheit sprechen. Würden Sie uns ein paar Minuten entschuldigen?«

Vidyaprasads Augenbrauen hoben sich bis zum Haaransatz. »Eine vertrauliche Angelegenheit?«, fragte er ungläubig.

»Ja«, bestätigte der DCP entschieden. »Vertraulich.« Er machte eine überdeutliche Pause und wartete, dass der ACP sein Büro verließ.

Als der die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah Mirza Gowda an. Dessen Blick klebte an einem Briefbeschwerer, der auf einem der Beistellcontainer einen von irgendwem hereingebrachten Papierstapel sicherte.

»Ja, Gowda, was kann ich für Sie tun?«

Gowda lächelte. »Es ist wegen Sub-Inspector Santosh, Sir.«

»Wie geht es ihm?«, fragte der DCP leise.

»So weit ganz gut. Er muss zur Stimmtherapie. Aber, Sir, er ist bereit, wieder den Dienst anzutreten.«

»Und wo liegt das Problem?«, fragte der DCP. »Sie glauben nicht, dass er schon so weit ist?«

»Er ist so weit, wie er nur sein kann. Aber er hat eine Begegnung hinter sich, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Darum habe ich mich gefragt, ob wir ihm den Übergang vom Krankenbett in die Uniform nicht erleichtern könnten«, sagte Gowda vorsichtig.

Das Handy des DCP piepte. Er griff danach und sagte: »Ich rufe zurück.«

Gowda merkte, dass er die volle Aufmerksamkeit des DCP hatte. »Sir, der Kinderschutzbeauftragte in Neelgubbi hat sich wegen eines Trauerfalls beurlauben lassen. Laut Gerüchte­küche will er sich in seine Heimatstadt versetzen lassen. Also habe ich überlegt, ob –«

»Gute Idee«, unterbrach ihn der DCP lächelnd. »Ich wusste doch, dass ich da noch etwas regeln muss. Santosh wird sich gut machen als Kinderschutzbeauftragter. Und es gibt eine intelligente junge Sub-Inspectorin namens Ratna, die ich für den Assistenzposten vorgesehen habe. Ich schicke die Ernennungen gleich raus. Und ab morgen können die beiden zur Einarbeitung antreten.«

Gowda erhob sich. »In dem Fall, Sir, muss ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

Der DCP lehnte sich zurück. »Geben Sie das Joggen und das Training nicht wieder auf, Gowda. Sie sind ein guter Polizist, und ich setze große Hoffnungen in Sie.«

Gowda nickte und verließ das Büro. Auf dem Gang stand ACP Vidyaprasad und telefonierte. Ein neues Handy, wie Gowda bemerkte. Das neueste iPhone. Wo hatte er das Geld für diesen teuren Kram her? Sein Polizeigehalt reichte da ­sicher nicht.

Der ACP bedeutete ihm zu warten. Doch Gowda tat, als würde er die Geste falsch verstehen. »Die Zentrale sagt, dass gerade etwas Wichtiges reingekommen ist. Ich schicke Ihnen heute Abend den Bericht«, rief er und machte sich aus dem Staub.

Er rannte die Treppe hinunter und zu Davids Erstaunen ­direkt auf den Bolero zu.

»Wo brennt’s, Sir?«, fragte er, während er sich beeilte, hinterherzukommen.

»Wir müssen sofort los.« Gowda sprang in den Wagen.

»Was ist denn, Sir?«, fragte David erneut.

»Ich will mit jemandem nicht sprechen«, sagte Gowda, als sie auf die Hauptstraße einbogen.

David grinste. Er hatte ACP Vidyaprasad hineingehen sehen, und jeder wusste, dass Gowda und der ACP sich belauerten wie zwei Boxer im Ring. Im Augenblick schien Gowda nicht in der Stimmung für einen Schlagabtausch zu sein und räumte lieber das Feld.

Die Bullet war blitzblank. Gowda stand mit dem Schlauch in der Hand da und bewunderte sie. Das Chrom funkelte, sogar die Radfelgen glänzten im Dämmerlicht. Die Pfütze um das Motorrad herum würde schnell trocknen. Schon jetzt, Anfang März, herrschte Sommer.

Gowda hörte ein Miauen und sah sich um. Hatte irgendwo auf dem Gelände eine Katze Junge bekommen? Er warf ­einen Blick nach oben. Die früheren Bewohner mit dem Hund waren von einem neuen jungen Paar abgelöst worden. Ein Techie-Pärchen, das im Manyata Park arbeitete. Sie schienen immer nur spät nachts zu Hause zu sein. Wieder das Miauen. Warum hielten die sich ein Tier, wenn sie den ganzen Tag weg waren? Gowda runzelte die Stirn.

Er stand an der Stelle neben dem Haus, wo der Gärtner, der einmal in der Woche kam, auf Shanthis Anordnung hin ein Gemüsebeet angelegt hatte.

»Du wirst sie zerfetzen, wenn du den Schlauch direkt auf die Pflanzen richtest«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Gowda fuhr herum und traf Urmila mit dem Wasserstrahl. Sie keuchte entsetzt auf. Er rief überrascht »Oh, Scheiße!« und ließ den Schlauch fallen.

Sie stand wie angewurzelt da und starrte auf ihre durchnässte Bluse, während er zum Hahn rannte und das Wasser abdrehte.

Mit Mühe ein Grinsen unterdrückend kam er zurück. »Du hast mich überrascht.«

Sie sah ihn wütend an.

»Komm schon, U«, sagte er, »das war keine Absicht. Das würde ich nicht machen, ich bin ja keine zwölf. Allerdings, jetzt, da ich sehe, was ich sehe, wünschte ich, ich wäre früher darauf gekommen.« Er setzte einen lüsternen Blick auf. Sie funkelte ihn an. »Ich habe nicht mit dir gerechnet. Und mich umgedreht, ohne nachzudenken …«

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