Der Jaguar

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Der Jaguar
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Der Jaguar
und andere Geschichten

Anil Yasar

Vorwort

Die folgende Geschichten- und Anekdotensammlung entstand im Zeitraum 2013-2019, als ich noch lange nicht daran dachte, die Ergebnisse dieser Periode kreativer Ausbrüche (welche selbstverständlich ihre Höhen und Tiefen, manchmal gar Aussetzer hatte) einmal in einem Buch zusammenzufassen - geschweige denn, zu veröffentlichen - sondern das Schreiben vielmehr als lockere Freizeitbeschäftigung betrachtete. Über die Jahre kam so ein, Schritt für Schritt, Story für Story, recht ansehnlicher Output ohne irgendeine Form äußeren Drucks zustande, was, wie ich meine, dem Inhalt gar nicht so schlecht bekam.

Die titelgebende Erzählung (‚Der Jaguar‘) war die erste Kurzgeschichte, welche ich jemals verfasst habe; aus diesem Grund wurde sie als Zugpferd für die übrigen auserkoren. Einer bestimmten Systematik in ihrer Reihung bin ich nicht gefolgt, auch wenn ich die offensichtliche Tatsache nicht leugne, dass es zwischen einzelnen Stories durchaus Verknüpfungen gibt, von denen der Autor, auf den guten Willen des Lesers vertrauend, nur hoffen kann, dass sie ihm nicht zu konstruiert erscheinen. Diesen Hang zu Ansätzen eines world-building möge man mir ebenso nachsehen, wie etwaige Rechtschreib- und Tippfehler.

Wien, im März 2020

Der Jaguar

Wer ihn im Gebüsch, zwischen all dem Gestrüpp erblickte, wer seine Gestalt dort regungslos liegen sah, hätte ihn glatt für tot halten können – wären da nicht die langsamen, regelmäßigen Atemzüge gewesen, die ein Heben und Senken des Brustkorbes herbeiführten und den Betrachter der Tatsache versicherten, dass diese Person in Bauchlage alles andere als tot war. Über ihrem Kopf majestätisch anmutende Baumwipfel, überall um sie herum endloser, gnadenloser Urwald — die “grüne Hölle”, wie er einmal genannt werden sollte. Wehe jenen, die sich hier verirrten! Tagelang, wochenlang konnte man den Dschungel durchstreifen, ohne auch nur auf eine Menschenseele zu stoßen; vorausgesetzt, Hunger und Durst, Hitze, Krankheiten, Raubtiere oder feindlich gesinnte Eingeborene hatten einem bis dahin nicht schon längst den Garaus gemacht. Und wem es gelang, sich beständig Nahrung zu verschaffen, wem es gelang, krankheitsübertragenden Moskitos zu entgehen, wer Pfeilen, Speeren und Blasrohrgeschossen ebenso erfolgreich auswich wie dem Prankenhieb eines Pumas, dem konnte es immer noch passieren – wie es etwa dem grausamen Lope de Aguirre geschah – dass er angesichts übermenschlicher Strapazen schlicht und einfach den Verstand verlor.

Um solche Dinge machte sich der junge Krieger Tlacal indes keinerlei Gedanken. Er befand sich gerade auf der Jagd, lag lauernd hinter einem Gebüsch am Rande der Lichtung, wo Sumpfhirsche sich aufzuhalten pflegten, nachdem sie am naheliegenden Fluss zur Tränke Gerade zwanzig Jahre alt geworden, gehörte er zu den vielversprechendsten Männern seines Dorfes, was Jagd- und Kriegshandwerk betraf, sorgte für Frau und den kleinen Sohn, verabsäumte es nie, den Göttern seines Volkes als Zeichen der Dankbarkeit Opfer zu bringen. Dieses Mal hatte er sich zum Ziel gesetzt, ein ganz besonders prächtiges Tier darzubringen, denn seit Wochen plagte Tlacal derselbe, wiederkehrende Albtraum: Wie sich unter blutrotem Himmel die Erde zu gigantischer Spaltung auftat, wie sein Dorf und alle, die er gekannt, verschlungen wurden; mehr noch, wie sich die klaffende Schlucht zur hässlichen Narbe schloss, aus dem Boden neue, gigantische, den Himmel durchbohrende, für ihn wie Hütten fremder Bauart aussehende Gebilde, deren Beschaffenheit er nicht erklären konnte, herausschossen; der Boden unter seinen Füßen plötzlich von steinartigem, glatten Material überzogen wurde, riesige, stumme Vögel ihre Bahnen hoch über seinem Kopf zogen, die Sonne zu verdunkeln drohend. Der Dschungel war verschwunden, zurückgeblieben lediglich die Ansammlung der fremdartigen, großen Hütten, deren Enden er nicht sah, so sehr er auch den Kopf in den Nacken legte. Und anstelle aller, welche Tlacal einmal gekannt hatte, liefen überall neue Menschen, so zahlreich wie Ameisen umher. Er hörte, wie sie sich untereinander einer Sprache bedienten, die er nicht verstehen, wie sie miteinander redeten, scherzten, lachten, woran er nicht teilhaben konnte, an ihm vorbeiliefen, eigenen Agenden folgend. In diesem Traum rannte Tlacal ratlos zwischen ihnen umher und suchte Hilfe, doch alle seine Sätze und Gesten wurden mit unverständigen Blicken quittiert.

Nur ein Wesen schien ihn zu verstehen: Ein Jaguar, unbehelligt in der Menge sitzend, welcher den jungen Krieger nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Diesem göttlichen Wesen aus dem Weg zu gehen, seinem Territorium durch ehrfürchtige Distanz den gebührenden Respekt zu erweisen, hatten ihm die Dorfältesten von Kindesbeinen an sorgsam eingebläut; zu seinen frühesten Lektionen hatte daher gehört, des Jaguars Pfotenabdrücke, Kratzspuren an Baumrinden, ja selbst den Geruch seines Urins zuordnen zu können, um ihn rechtzeitig zu meiden (tatsächlich war Tlacal bislang keinem begegnet, wenngleich er, zu Ausbildungszwecken, manches Mal ein Revier betreten hatte). Das Tier im Traum strahlte regelrecht in goldfarbener Aura, machte dem ihm zuerkannten übernatürlichen Ruf alle Ehre. Allen Veränderungen zum Trotz saß es weiterhin da, majestätisch, unantastbar wie eh und je, nicht im Geringsten betroffen vom Untergang vertrauter Welt; des Jaguars Augen waren am Glühen, sein Fell in Glanz gehüllt. In aller Gefährlichkeit repräsentierte er doch etwas Vertrautes für den jungen Mann, spendete gewissermaßen allein durch seine Anwesenheit Trost. Tlacal schöpfte neuen Mut, denn noch schienen ihn die Götter nicht vollends verlassen zu haben, dass sie einen der ihren gesandt hatten, um im Chaos zu wachen. Gleichzeitig spürte er Zweifel aufkeimen: Weshalb griffen sie nicht ein?

Gleich am Morgen infolge jener Nacht, da er den verstörenden Traum zum ersten Mal gehabt hatte, war er zum Schamanen gegangen, welcher als Weisester im Dorf galt. Dieser interpretierte das Beschriebene als “Zeitalter neuer Herausforderungen”, welches ihrem Volk unmittelbar bevorstünde, allerdings nicht ohne jeglichen Beistand der Götter, wie Tlacal in Form des Jaguars selbst gesehen habe. Um deren Wohlwollen zu sichern, müsse er, dem sie dankbarerweise Einblick in die Zukunft gewährt hatten, ein gesundes, besonders schönes Tier erlegen und opfern.

So geschah es bald, dass Tlacal, ermüdet von unruhigen Nächten mit ihren düsteren Visionen, oft viele Kilometer am Tag durch den unerbittlichen Dschungel streifte, ein dem Opferzeremoniell würdiges Ziel suchend, auch zur schicksalhaften Mittagsstunde, da wir ihn am Rande einer Lichtung antrafen, wo er aus Schlaf- und Konzentrationsmangel unvorsichtigerweise eingedöst war. Das tropische Klima, berüchtigt für hohe Luftfeuchtigkeit, dass man versucht war, zu glauben, man bewege sich überall durch zähe Masse, atme sie ein, erhalte mit Schweiß vermengte, klebrige Ablagerungen am ganzen Körper, trug, bei aller Gewohnheit, zusätzlich zur Entkräftung bei. Die Geräuschkulisse bestand aus Vogelgezwitscher und Brüllaffengeschrei, wenngleich jegliche Primaten es immerhin für den Moment vorzogen, zu schweigen, denn auch ihnen machte der heiße, stickige Urwald zu schaffen; weiters konnte man das Rauschen des nahegelegenen Flusses hören.

Neben dem Jäger lagen Wurfspeer und Bogen; auf dem Rücken trug er einen Köcher voller Pfeile, im Lendenschurz steckten Schleuder nebst Beutel mit kleineren Steinen, mit welchen er üblicherweise Vögel ins Visier nahm, dazu der vom Vater einst als Geschenk erhaltene Obsidiandolch. Da schreckte ihn ein Geräusch hoch, alle prädatorischen Instinkte kehrten augenblicklich zurück: Inmitten der Lichtung, völlig unverdeckt von etwaiger Vegetation, stand der anmutigste Hirsch, den er jemals gesehen hatte; das Fell rot-bräunlich gehalten, mit schneeweißer Bauchseite, auf dem Kopf ein beeindruckendes Geweih, das es, einer Krone gleich, stolz vor sich hertrug. Jetzt galt es, Nerven zu bewahren; schnell und lautlos ergriff Tlacal, weiterhin bäuchlings, den Bogen mit links, zog mit rechts einen Pfeil vom Rücken, legte ihn in die Sehne, spannte an und zielte direkt auf den eleganten Hals des Tieres, welches gerade den Kopf hob, wie um seine Schwachstelle völlig zu entblößen.

Der Hirsch sah genau in die Richtung, aus der sein Verderben kommen sollte, was Tlacal, mit gespanntem Bogen und Tunnelblick, für mehrere Sekunden irritierte. War er bemerkt worden? Das unbeeindruckte Weitergrasen des nur wenige Meter entfernten Wiederkäuers verneinte die Frage erwartungsgemäß, denn über den Anfängerfehler zu hastiger Bewegung war er als an Erfahrung gereifter, geduldiger Jäger mittlerweile erhaben. Wieder hob der Hirsch den Kopf, starrte geradeaus; da erklang mit einem Mal ferner Donner, wie man ihn vor einem Gewitter vernahm, doch hielt er nur einen Augenblick an. Das war bereits genug: Bevor Tlacal zur Tat schreiten konnte, sprang das scheue Tier ins Unterholz und war verschwunden. Zurück blieb er - ein verdutzt dreinblickender, um seine Beute gebrachter Mann. Was war passiert? Er stand mitsamt aller mitgebrachten Utensilien auf und ging vorsichtig die Schritte zur Lichtung hin. Wieder Donnergrollen, jetzt offenbar näher. Wo kam es her? Tlacal sah minutenlang zum nahezu wolkenlosen Himmel auf, wurde zornig. Als er schließlich frustriert herumwirbelte, hätte er beinahe laut aufgeschrien: Ungefähr fünf Meter vor ihm befand sich ein Jaguar.

Zorn wich Panik, als er dem König des Dschungels, dem Hüter der Unterwelt gegenüberstand, der wohl Tlacals Traum entsprungen sein musste. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich die Raubkatze jedoch weit irdischerer Natur; der Körper wies unzählige Narben auf, Zeugen vergangener Kämpfe gegen Rivalen – eine zog sich quer über das rechte, verletzungsbedingt blind gewordene Auge. Hinterbeine, Schwanz und Teile des Rückenbereichs wiesen Spuren der Pigmentkrankheit des Melanismus auf und waren großteils schwarz; ein Fangzahn war fast völlig abgebrochen. Das alles wäre jemandem, der Zeit und Nerven dafür gehabt hätte, den Jaguar zu studieren, zweifelsohne aufgefallen. Doch Tlacal begegnete nicht nur zum ersten Mal einem, sondern stand vor der Entscheidung, entweder zu fliehen oder den direkten Kampf zu suchen; ein Beschluss, der sofort gefällt werden wollte, bevor er dem Gefühl nachlassender Knie gehorchte. Selbst eine ganze Gruppe erfahrener Krieger hätte es sich zweimal überlegt, bevor sie gegen den fleischgewordenen, vierbeinigen Gott angetreten wäre. Zu groß der Nimbus, welcher von diesem legendären Geschöpf ausging, zu kostbar das Leben, um es im sinnlosen Kräftemessen mit einem Unsterblichen zu verschwenden.

 

Tlacal griff zum Speer, indes alle gesunden Instinkte zu kopfloser Flucht rieten; er wusste um seine Chancenlosigkeit, musste aber Zeit gewinnen – wenn es auch nur eine Sekunde wäre – um wegzulaufen. Die Bestie stand in gestreckter Haltung da, ansonsten regungslos; sie wartete regelrecht auf den ersten Zug ihres Gegenübers, stellte es auf die Probe. Schweißnasse Hände umklammerten den Spieß, während ihm Frau und Kind vor Augen kamen; seine Gedanken drohten, abzuschweifen, Konzentration war nötiger denn je! Er zielte auf den Rücken, flehte innerlich um Gelingen, legte alle Kraft in den bevorzugten rechten Arm und warf. Blitzschnell flog die Waffe, aber nicht so schnell wie der Jaguargott, welcher sich auf die Hinterbeine warf und fauchend den noch in der Luft befindlichen Wurfspeer mit einem Prankenhieb entzweischlug. Dass er auf den Konterangriff verzichtete, es dabei beließ, den anmaßenden Sterblichen vor ihm mit Blicken zu durchbohren, statt ihn folgerichtig zu zerreißen, flößte Tlacal weit mehr Angst ein, als er es für möglich gehalten hätte.

Ihm kam die Geschichte des Schamanen in den Sinn, wonach die Menschen vor Urzeiten unter schrecklicher Dürre gelitten hatten, als der Regen jahrelang ausgeblieben war, denn ohne Wasser gingen nicht nur alle Wälder zugrunde, auch konnte man keine Nutzpflanzen mehr anbauen; so herrschten eisern Hunger, Durst und Elend über das Land. Um Rat in ihrer misslichen Lage zu erhalten, sei eine Gesandtschaft dem Jaguargott geschickt worden, da sein Gebiet von Schwierigkeiten unbehelligt geblieben war. Verständnisvoll lauschte dieser dem Anliegen seiner Gäste und zeigte sich hilfreich, indem er mit einem kräftigen Satz auf die Erde sprang, woraufhin der Boden unter ihm kilometerlang und weit verzweigt gespalten wurde; danach festigte er mit gewaltigen Klauen die Linien und schuf ein Bett. Zuletzt öffnete er das Maul und benetzte sein Werk mit nicht enden wollendem Speichel, bis alle Gräben randvoll gefüllt waren; so entstanden die Flüsse der Welt. Seither war es aus Dankbarkeit für die wundersame Errettung aus der Not Sitte, dem Jaguar mit religiösen Festen und Opfergaben zu huldigen.

Wieder das kurze, laute Donnern, wieder nicht allzu fern. Tlacal stand mit gespanntem Bogen da, entschlossen, dem Ungeheuer einen Pfeil durch den Schädel zu treiben, ihm direkt zwischen die Augen zielend. Das Selbstvertrauen kam zurück, zu geübt der Schütze; er hielt den Bogen, ohne zu zittern, atmete gleichmäßig, den linken Arm gespannt, den rechten in der Beuge mit zurückgezogener Sehne, Pfeil eingelegt. Der Schuss würde nicht danebengehen. Im Dschungel herrschte absolute Stille. Er wusste nicht, dass die Äste über ihnen voll von Tieren des Waldes waren, welche gespannt dem Zweikampf beiwohnten! Der Pfeil flog los, der Gott machte nicht die geringsten Anstalten des Ausweichens, alles war perfekt; doch statt Fleisch und Schädelknochen zu durchschlagen, prallte das Geschoss von der Stirn ab, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, als ob es gegen das undurchdringliche Fell des Nemëischen Löwen geflogen wäre. Tlacal gab auf, ließ den Bogen fallen; er war dem Gott in die Quere gekommen und würde dafür bezahlen müssen. Der Jaguar richtete sich zu voller Größe auf und brüllte markerschütternd laut, dass die Erde bebte, zahlreiche Affen, Vögel und Nagetiere von Bäumen fielen; der nunmehr Gejagte nutzte den Ablenkungsmoment und rannte los.

Lianen, Gebüsch, stehende wie liegende Bäume, Äste, unebener Boden, Steine; all dies erschwerte seine Flucht, trotzdem raste er dahin, beflügelt von Angst und Adrenalin. Mal zur linken, mal zur rechten Seite hörte er Bewegungen im Unterholz, rannte unbeirrt weiter. Ins heimatliche Dorf würde er es nicht schaffen, davon war er noch einige Kilometer entfernt; ihm lag mehr daran, die Raubkatze zu ermüden. Da stolperte Tlacal in vollem Lauf und rollte einen Abhang hinunter, bis er auf einem von Eingeborenen gebahnten Pfad liegenblieb, völlig erschöpft, mit kleineren Verletzungen und Schwindelgefühl, nicht mehr in der Lage, aufzustehen; er kroch zu einem großen Stein, an den er sich im Sitzen lehnte. Was er in den letzten Wochen durchgemacht, forderte jetzt Tribut: Er verlor das Bewusstsein.

Stimmen weckten ihn. Er öffnete die Augen; da standen zwei Männer, sprachen, flößten ihm durch eine Kalebasse neues Leben ein. Ihre Sprache klang vertraut, wenngleich er nicht alles verstand, was am Dialekt liegen mochte. Grollen hinter ihnen, die zwei traten beiseite. Der folgende Anblick erstaunte Tlacal: Was für Wesen lauerten da? Riesig, gehüllt in Sonnenlicht strahlende Gewänder, ihre Gesichter mit Haaren bedeckt, hielten sie merkwürdige anmutende Speere, blickten unbarmherzig drein. Am fürchterlichsten war der Unterleib beschaffen: Vierbeinige, langhaarige Monster mit langen, schnaubenden Gesichtern! Er wähnte sich bereits in neuerlichem Albtraum. Eine der zweiköpfigen Gestalten öffnete den schmalen, oberen Mund; heraus kamen barsche, harte Geräusche, nichts, was Menschen ernsthaft “Sprache” nennen konnten!

Tlacal wollte auf und davon, da beruhigten die beiden von vorhin, Eingeborene wie er; rätselhafterweise verstanden sie den Willen der zweiköpfigen Kreaturen. Es handle sich um Neuankömmlinge aus einer anderen Welt. Man bräuchte Hilfe zur Orientierung, ob der am Wegesrand gefundene junge Mann bereit sei, zu helfen? Tlacal sah hinüber zu dem Tross der Eindringlinge; sie waren zahlreich, fast alle besaßen Speere, allerdings waren viele einköpfig, manche hatten unbehaarte, glatte Gesichter wie er selbst; manche waren jünger, andere älter. War dies womöglich der vom Schamanen angekündigte Beistand im bevorstehenden Chaos? Immerhin, so fiel ihm just ein, war er wahrscheinlich durch sie vor dem Jaguar gerettet worden. Bestimmt führten sie nichts Böses im Schilde, sahen einige noch so gefährlich aus. Wer weiß, vielleicht würde mit ihrer Hilfe eine neue Ära anbrechen? Der Schamane wüsste sicher Rat, dachte er. Tlacal erklärte schließlich, helfen zu wollen; sein Angebot vermittelten die Übersetzer ihren Herren, was unter ihnen, den zwei- wie den einköpfigen gleichermaßen, für kurze, hitzige Wortgefechte sorgte, bevor es angenommen wurde. Es geriet der gesamte Zug in Bewegung, die drei Indigenas an der Spitze. Tlacal war in Aufregung; er würde sie, nichts weniger als die Abgesandten der Götter, direkt ins Dorf führen, wo man Augen machen würde!

Währenddessen saß, einsam in einem Baumwipfel, hoch über den Köpfen der neuen Götter, die da unten schweigend vorüberzogen, der Jaguar. Geduldig und ohne jede Hast stieg er elegant von schwindliger Höhe herab, landete sanft auf der Erde, und entschwand über das Unterholz zurück in die Tiefen des Urwalds. Er konnte nun nichts mehr unternehmen, denn das Schicksal nahm seinen Lauf, und auch Götterhäupter müssen sich seiner Allmacht beugen.

Vom tapferen kleinen Kolibri

Der alte Akram saß in seiner kleinen Hütte, den Blick gebannt auf einen Teekessel gerichtet, emsig den Kochvorgang verfolgend. Jeden Moment würde es nun soweit sein; das Ritual des täglichen Nachmittagstees genoss er bis ins kleinste Detail, seit nunmehr Jahrzehnten stets im selben gemächlichen Tempo, stets in denselben, akribisch festgelegten Schritten, stets mit derselben Vorfreude. Von draußen kam der Lärm fröhlicher, spielender Kinder – manche hätten sich davon in ihrer Ruhe gestört gefühlt, aber nicht so Akram, der Weise: Er liebte die Natur, das Leben ringsherum, liebte es vor allem, Geschichten zu erzählen. Am liebsten zog er Pflanzen im eigens angelegten Garten, kümmerte sich aufopferungsvoll um sie, sprach sanft zu ihnen, als wären es leibhaftige Kinder; zum Dank gediehen sie nicht nur prachtvoll, sie schienen regelrecht zu strahlen – zur großen Freude des Betrachters. Niemand vermochte den Boden mit so schönen Gewächsen zu bereichern; man witzelte, Akram wäre einst gerade heraus dem Schoß Mutter Erdes entsprungen, daher sein außergewöhnliches Verständnis für Botanik. Er war so betagt, dass bereits viele Generationen im Dorf mit den fantasievollen Abenteuern, von welchen er wusste (es schienen ihrer unendlich viele zu sein!), aufgewachsen waren, und so weise, dass Entscheidungsträger ihn zuerst um Rat aufsuchten, war die Sache verzwickt.

Ähnlich begann es auch diesmal: Kaum hatte Akram sich eine Tasse des frischen Gebräus genommen und damit vor seine Hütte gesetzt, da kam eine ganze Gruppe von Jungen auf ihn zu. Sie schienen miteinander zu streiten, schon von Weitem kam man nicht umhin, das zu bemerken; Stimmen waren laut, Gesten weitläufig, bisweilen aggressiv. Ganz ihren Eltern gleich, dachte der Alte amüsiert und setzte ernste Gesichtsausdrücke auf, um der offenbar hitzigen Stimmung Genüge zu tun. “Guten Tag, weiser Akram.” begann Bilal, den Fußball zwischen Hand und Hüfte eingeklemmt, mit zwölf Jahren der Gruppenälteste. “Guten Tag, Bilal, Sohn des Mamadou. Ich höre und sehe, wie ihr Kinder einander anschreit, drohend gestikuliert, ohne jede Zurückhaltung. Ich muss sagen, das gefällt mir ganz und gar nicht. Kann ich behilflich sein, sodass ihr wenigstens wie die Paviane aufeinander losgeht?” “Weiser Akram, wir wollen Fußball spielen, fünf gegen fünf, aber mein Bruder Ahmadou macht nicht was ich sage, obwohl ich sein Kapitän bin. Er will unbedingt Stürmer sein, dabei ist er viel zu klein und schwach. Er ist erst acht Jahre alt.” Da trat der Angesprochene hervor, zeigte anklagend auf Bilal: “Walahé, er hat mir versprochen, dass ich heute Stürmer sein darf! Immer muss ich im Tor stehen! Ich bin nicht klein und schwach, sondern flink wie der Wind! Ich will Stürmer sein und Tore schießen! Er hat es versprochen! Und wenn du noch mehr lügst, sollen die Hyänen dich holen kommen!”

Die übrigen Buben waren gespalten: Manche wollten Ahmadous Wunsch nachkommen, andere gaben Bilal Recht. Dass der Kleine unbedingt mit seinem Bruder in einer Mannschaft spielen wollte, verkomplizierte das Ganze – ohne ihn würde eine Seite in Unterzahl auskommen müssen. “Nun, ich glaube, dass es den Hyänen gleich ist, ob man ihnen das Fleisch eines Lügners oder das eines Respektlosen vorsetzt.” sprach schließlich Akram in leicht tadelndem Ton. Er strich mit der linken Hand nachdenklich durch den langen, von Zeit und Mühsal geweißten Bart. Es vergingen einige Sekunden des Schweigens. “Welches ist das stärkste aller Tiere?” fragte der Alte plötzlich, an allen vorbei in die Ferne blickend. “Das ist einfach, weiser Akram!” so Bilal, “Das stärkste Tier ist der Löwe, König des Dschungels!” “Nein, das glaube ich nicht” widersprach Salif, “Das stärkste Tier ist das Nashorn, selbst Löwen fürchten es!” “Ihr habt beide Unrecht” so Moussa, “Das stärkste Tier ist der Elefant. Klug und mächtig! Wer ihn angreift, wird zertrampelt oder von Stoßzähnen aufgespießt! Und wer davonkommt, den vergisst er trotzdem nicht!” So ging es über mehrere Minuten; jeder nannte ein Tier, welches er für das stärkste hielt, nannte dessen Vorzüge und duldete keinen Widerspruch. Akram saß da, lauschte dem Disput und lächelte schelmisch. Wie viele doch von trügerischen Äußerlichkeiten geleitet wurden! “Was meint ihr, weiser Akram?” “Ich meine, dass ihr alle falsch liegt. Das stärkste aller Tiere....” – es folgte eine kurze, andächtige Pause, um die beabsichtigte Wirkung zu steigern – “…ist der Kolibri.” Da ging vielleicht ein Gelächter der Jungen los! Wollte der Alte sie gerade verulken? Von allen Tieren, welche da existierten, nannte er den Kolibri? Dieses winzige Vöglein mit den schnellen Flügeln, von dem sie lediglich in der Schule gehört hatten, weil es in ganz Afrika nicht einmal existierte? Goliath, dem der David zum Zweikampf entgegentrat, hätte sich wohl kaum köstlicher amüsieren können.

Von alledem nahm Akram keinerlei Notiz. “Dem Ganzen liegt natürlich eine Geschichte zugrunde, die ich euch erzählen will, sofern ihr Zeit habt.” Reflexartig hockten plötzlich alle Kinder am Boden, denn nichts ging über Akrams Erzählungen. Salif rannte herum und verbreitete die Kunde: “Akram erzählt! Akram erzählt!” Von allen Richtungen strömten da Jungen und Mädchen, ließen alles stehen und liegen, ob Hausarbeit oder Hausaufgabe; den Eltern machte das nichts, wussten sie schließlich um den Wert dessen, was der Alte weitergab, hatten ja einst selbst von seinen Lektionen profitiert. “Jetzt kommt sicher etwas Gutes” versicherte der kleine Didier allen in Hörweite, “nicht so wie die komischen Sachen in der Schule. Da haben wir neulich eine Geschichte von Indianern und einem Jaguar gelesen, das hat mir gar nicht gefallen! Walahé, als ob ein gelangweilter Student die geschrieben hätte! Das war so schlecht, dass ich davon Bauschmerzen bekommen und einen dicken, trockenen Furz gelassen habe, dass alle in Ohnmacht gefallen sind! Gnamokodé!” Quiekendes Gelächter ringsum. Der Leser mag des kleinen Didier rüde Ausdrucksweise verzeihen; er war nun einmal ein übles Schandmaul, das von seiner Mutter nicht umsonst regelmäßig hinter die Ohren bekam.

 

Ohne viel Aufhebens begann Akram: “Heute erzähle ich euch die Geschichte vom tapferen kleinen Kolibri. Vor langer, langer, langer Zeit, als die alten Götter über diese Welt herrschten, als Tiere noch allerlei Fähigkeiten besaßen, welche sie mittlerweile lange verloren haben, als die Sterne gerade geboren worden waren und die Sonne sie an ihrer Brust nährte, weswegen sie immer noch leuchten, als die Kontinente sich nach dem Streit darüber, wem von ihnen die größte Bedeutung zufalle, letztlich voneinander getrennt hatten; vor langer Zeit also war da der Schöpfergott Olodumare dem ewigen Zwist und Zank, den ständigen, so sicher wie die Jahreszeiten wiederkehrenden Kriegen der Unsterblichen leid geworden. Er wollte seine Kreativität für neue Schöpfungen nutzen und ließ sich am südlichen Ende Afrikas nieder, am Rande des stürmischen Meeres, der schönen Aussicht wegen, dem er absolute Stille gebot, um zu arbeiten. Da schlug er seine Werkstatt auf. Olodumare war ein begnadeter Töpfer, also schaffte er Unmengen an Ton herbei, dass es zwölf Tage und Nächte dauerte, bis er meinte, die erforderliche Masse zu haben. Sodann knetete er den Ton beständig, bis es gar nicht mehr aufhörte, zu donnern; niemand durfte sich ihm während der Arbeit nähern, das hatte er strengstens verboten! Es dauerte seine Zeit, bis Olodumare mit dem Ergebnis zufrieden war. Im Laufe des Prozesses verwendete er immer geringere Mengen an Ton und als er fertig war, bemerkte er, dass er doch viel zu viel angehäuft hatte. Die kleine knollenförmige Figur brannte er hernach mit dem eigenen, göttlichen Atem. Zum Schluss wurde sie behutsam ins Meer gelegt, damit sie abkühle. Die Unmengen an übrigem Ton vergaß er derweil, denn sie waren nicht mehr nötig; getrocknet in der Sonne, wurde aus ihnen der Tafelberg am Kap, die spätere Heimat des tollwütigen Riesen Maijijro, der, wie ihr wisst, derjenige war, welcher die vorbeifahrenden Schiffe des Bartolomeu Diaz mit gigantischen Felsbrocken zerschmetterte, weil ihn dessen sorgloses Gepfeife aus dem Schlaf geweckt hatte – ‘Nicht möglich!’ meinten die Europäer dann in ihren Büchern; er sei durch einen Sturm verschollen gegangen. Nicht möglich der Tod eines wagemutigen Entdeckers durch Hirngespinste Unzivilisierter! Vielleicht ein anderes Mal mehr davon.

Olodumare war dermaßen konzentriert, dergestalt vertieft gewesen, dass er ein entscheidendes Detail vergessen hatte: Um der Figur Leben einzuhauchen, bedurfte es nämlich des Nektars der Dsima-Blüte, welche nur am nördlichsten Rand Afrikas vorkam, an der schmalen Grenze zwischen Meer und Wüste, nirgends sonst. Dort aber stand die Wiege des Gottes Teliko, seines eingeschworenen Feindes und Widersachers. Das war sein Territorium, bewacht von Unmengen an böswilligen Schergen! Wie jeder andere hatte auch Teliko mitbekommen, wie Olodumare an etwas feilte, wenngleich er nicht in der Lage war, zu sagen, woran; er selbst befürchtete, misstrauisch wie eh und je, den Bau einer Waffe, die gegen ihn gerichtet werden sollte. Niemals würde er auch nur einen einzigen Tropfen des Nektars herausrücken, wüsste er um dessen Bedarf! Beschwichtigungsversuchen würde er ebenfalls kein Gehör schenken.

Olodumare überlegte: Er würde jemanden in aller Heimlichkeit schicken müssen, das Gebrauchte zu beschaffen, denn Tarnungen würde Telikos göttlicher Blick sofort durchschauen. Er versammelte daher alle Tiere um sich, welche in den vergangenen Kriegen auf seiner Seite gekämpft hatten, oder zumindest solche, deren Treue er sich versichern konnte, ihnen das Problem schildernd. Seine Hoffnungen wurden enttäuscht: Niemand trat hervor, um die Aufgabe zu übernehmen, denn niemand wollte den Zorn des gefürchteten Teliko riskieren. Der weise Elefant senkte den mächtigen Kopf, das kräftige Nashorn scharrte mit den Füßen, ja selbst der stolze Löwe schwieg eisern! Dem Gott brach das Herz ob der fehlenden Anteilnahme: ‘Ich verstehe eure Bedenken; der Weg ist beschwerlich, der Feind unerbittlich, die Sache völlig ungewiss. Ihr habt Recht. Es ist falsch, von anderen zu verlangen, was ich wohl selbst nicht täte. Zu fordern, dass einer alle Gefahren auf sich nimmt, für einen Trunk, von dem er als Sterblicher niemals kosten dürfte, zu fordern, dass er alle Strapazen, alle Hürden meistert, ist völlige Vermessenheit. Wohlan, ich werde selbst zur Tat schreiten.’ Der Schöpfergott wollte gerade gehen, da landete etwas leichtfüßig auf seiner Schulter und zirpte vergnügt. Es war der freundliche kleine Kolibri, weithin bekannt für Sorglosigkeit, Welcher am liebsten unbeschwert durch die schönen Wälder Afrikas flog und in den Tag hineinlebte. ‘Ich möchte los. Immer schon wollte ich durch unsere Welt reisen, viel herumkommen – und wenn ich euch damit dienlich sein kann, soll es mich doppelt freuen. Ich bin klein, schnell und wendig; bevor irgendjemand meine Anwesenheit bemerkt, so bin ich auch schon wieder weg.’ Zu gern hätten manche über den unbegrenzten Optimismus gelacht; allerdings wären sie dann wiederum selbst in Erklärungsnot gewesen, weshalb sie nicht gingen – Vorwürfe mangelnder Tapferkeit wollte sich gewiss niemand anhören.

Olodumare war, den Umständen entsprechend, wenig wählerisch: ‘Meine unendliche Dankbarkeit sei dir in jedem Fall sicher.’ Der Kolibri bekam einen Stoffbeutel um den Hals, die Blüte darin zu transportieren, danach erklärte der Gott ihm die günstigste Flugroute; insgeheim hegte er aber wenig Hoffnung, dass der vorlaute Winzling heil zurückkehren würde. Ohne jeden Aufschub flog unser Held los. Gute Winde trugen ihn über die Berge, Täler, Steppen des Südens, die undurchdringlichen Dschungel Zentralafrikas, die Savannen, über die Wüsten an den nördlichsten Punkt, direkt ans Meer. Dort fand er nach kurzer Suche, gut versteckt zwischen den großen, wellenbrechenden Felsen, eine einzige, himmelblaue, betörend süßlich duftende Dsima-Blüte, steckte sie in den Beutel und rastete ein, zwei Tage aufgrund der Erschöpfung – der Hinflug war ohne jeden Zwischenfall verlaufen, was sollte schon auf dem Weg zurück groß passieren?”

Akram nahm einige Schlucke Tee, kostete sie auf der Zungenoberfläche aus und ließ sie gemächlich Rachen und Hals hinunterrieseln. Er wusste, dass die anwesenden Gäste

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