Wie der dicke Joachim sich in Australien verliebte

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Joachim grinst Hagen anzüglich an und geht. Feierabend für ihn. Ohne Opernsängerin.

Leon steht bereits in Straßenkleidung vor seinem Spind und schnürt sich die Schuhe zu.

„Ich bin ein paar Tage weg“, in Joachims Stimme klingt Vorfreude durch, „Hagen weiß Bescheid. Zur Aktion am Zwanzigsten bin ich dann wieder da.“

„Mhm. Was machst Du denn?“ Leon kämpft mit einem verknoteten Schuhband.

„Meine Frau überraschen. Sie ist beruflich viel im Ausland und wird sich wahnsinnig freuen.“

„Ist die immer allein unterwegs?“

„Nö, das nicht. Die sind zu Dritt. Ein Herr Berrschen von der Geschäftsleitung, einer vom Vertrieb und sie. Diesmal in London. Läuft gut. Deutsche Wertarbeit zählt eben immer noch was in der Welt.“

Der Junge wirft ihm aus den Augenwinkeln einen zweifelnden Blick zu, wagt aber keinen Widerspruch. „Dann ist ja alles geregelt. Im Dezember bin ich dann weg. Der Winterreifenstress findet hoffentlich Anfang November statt.“

Joachim wackelt bedenklich mit dem Kopf. „Verlass Dich nicht drauf. Du kennst doch die Kunden. An Winterreifen denken die, sobald der erste Schnee fällt, keine Minute früher. Kann im November sein, kann aber auch Dezember werden.“

Er nickt seinem nun auf einen frühen Wintereinbruch hoffenden Kollegen zu und geht durch den Nebeneingang der Werkstatt hinaus auf den Platz.

Auf den asphaltierten Platz mit den Neufahrzeugen und den Gebrauchten scheint eine späte, warm-milde Nachmittagssonne. Der alte Moser kaufte das Gelände damals günstig von der Stadt, als es noch weit draußen und ziemlich einsam lag. Neustadt breitete sich erst Ende der Siebziger weiter aus, wie ein Krebsgeschwür wucherten phantasielose Neubaublöcke über die die alte Stadtgrenze hinaus. Ziemlich schnell lag das Autohaus inmitten freudloser Architektur. Hinter dem Platz beginnt der Stadtwald, der Bestandsschutz genießt und sich für das Geschäft nützlich erweist. Die Bewohner der sich alle wie ein Ei dem anderen gleichenden Blöcke schauen sich auf ihren Spaziergängen zum Wald gern die ausgestellten Wagen an. Die Lage lockt mehr potentielle Käufer als die glänzenden Werbeprospekte, auf die Sieglinde Moser-Reibach genau so störrisch wie der Konzern beharrt. Heute wäre dieses Grundstück nicht mehr bezahlbar. Die Immobilienmakler durchforsten den Markt auf der Suche nach sicherem Betongold für ihre Kunden. Da sie auf ihrer Jagd nach lukrativen Anlagen kaum noch fündig werden, schnellen die Preise jede Woche etwas mehr in die Höhe. Der alte Moser war ein Fuchs zu seiner Zeit. Würde er heute investieren, stünden auf dem Gelände sicher einige Mietshäuser.

Joachim fingert seine Sonnenbrille aus der Brusttasche des karierten Hemdes, welches seine füllige Figur locker umhüllt und das er stets über dem Gürtel trägt. Seinen Bedarf an diesen übergroßen Hemden und den ihm passenden Jeans deckte er stets in dem gleichen Laden in der Innenstadt. Dort kauften bereits seine Eltern ein. In seiner Kindheit befand sich darin ein Süßwarengeschäft mit für ihn verlockenden Auslagen voller staniolglitzernder Schokoladenfiguren, Gummischlangen, Bonbonieren, blecherner Keksdosen und Berge von Lakritzschnecken. In hohen Glasgefäßen leuchteten Bonbons in allen Farbschattierungen. Ganz oben auf dem hölzernen Regal standen Negerbabies aus Schokolade. Von denen träumte er. Unerreichbar. Heute würde er sich eines kaufen, leider gibt es sie nicht mehr. Wohl, weil „Neger“ kein politisch korrekter Begriff ist. Seine Mutter kaufte stets eine Tüte rosafarbene Himbeerbonbons und eine Tüte mit weißen Mäusen für ihn. Wenn er an seine Kindheit denkt, schmeckt er Himbeere und Schaumzucker auf der Zunge. Das Gehirn ist ein unglaubliches Organ.

Er schlendert zu seinem Auto. Ein Kleinwagen mit Hybridantrieb, den Hagen ihm wirklich zu einem Freundschaftspreis verkaufte. Er fährt vom Platz und biegt in die Richtung Innenstadt führende Straße ein. Der Wagen ist genau richtig. Eine Familienkutsche unnötig. Die Mädchen sind erwachsen und fahren nicht mehr mit. Kerstin führt eine eigene Boutique in der Ladenstraße und Inga hat ein beachtliches Abitur hingelegt. In den nächsten Tagen geht sie für ein Jahr nach Paris als Au-pair. Wegen ihres Freundes, der dort einen lukrativen Job in der IT-Branche gefunden hat. Und Inga will ihr Studium ebenfalls in Frankreich aufnehmen. Elvira fand diesen Plan ausgezeichnet, er weniger. Ihm wäre es lieber, seine Töchter blieben beide in der Nähe. Keine Chance, Elvira bot Inga großzügig finanzielle Unterstützung an, genau die gleiche Summe, die sie Kerstin für deren Boutique zugeschoben hatte. Anfangs fand er es ziemlich peinlich, dass seine Frau bedeutend mehr als er selbst verdient. Im Laufe der Jahre gewöhnte er sich daran. Zu den Lebenshaltungskosten tragen beide den gleichen Anteil bei und dass Elvira den Großteil der Abzahlung des Eigenheimes leistet bedeutet nicht viel, da dieses Haus sowieso eines Tages den Töchtern als Erbe zufällt.

Die Sonne vergoldet alles mit ihrem abendlichen Rot. Er biegt in den das Zentrum umfassenden Ring ein, befährt ihn bis zur Abzweigung zur Autobahn, dann nimmt er die parallel führende Landstraße. Er ist ein kleiner Fisch der im großen Schwarm des Berufsverkehrs mit schwimmt. Einer von denen, die nicht viel Platz beanspruchen. All die schweren Landrover, die aus den Parkhäusern der Bürogebäude drängeln. Wer – außer Förstern und Landwirten -, benötigt in Mitteldeutschland schon einen Geländewagen? Manche besprühen Reifen und Kotflügel mit einem Schlammgemisch aus der Spraydose, um das Landhaus mit eigenem Wald glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Tatsächlich wohnen sie in einem trostlosen Neubau, bestenfalls Reihenhaus. Wir leben in einem Zeitalter der Blender. Die routiniertesten Selbstbetrüger glauben an ihre eigene Wichtigkeit und Unersetzbarkeit.

Die Landstraße steigt steil an, hinauf auf den Vogelberg, den Balkon von Neustadt. Oben ein großer, freier Platz auf dem früher das „Vogelschießen“ als Volksbelustigung stattfand, heute bauen Schausteller zwei-, dreimal im Jahr ihre Fahrgeschäfte dort auf. Joachim biegt links in die Zufahrtsstraße zur Siedlung ein. Alles Ein- oder Zweifamilienhäuser, vor zwanzig Jahren erbaut. Die Schmidts, also Joachim und Elvira mit den beiden Mädchen Kerstin und Inga, bauten ein klassisches Einfamilienhaus mit rotem Satteldach, weiß verputzt und grünen Fensterläden. Letztere fand Elvira altmodisch-unpassend. Er dagegen liebt sie geradezu und setzte noch ein grünes Gartentor mit Jägerzaun davor. Ein Knusperhäuschen. Sein Heim. Sein Zuhause. Seine Frau, seine Kinder. Alles seines. Alles gut. Herz – was willst du mehr.

Auf dem Weg in die Küche stolpert Inga ihm entgegen, den Arm voller Kleidung aus dem Trockner.

„Endlich Paps! Fährst Du mich schnell noch in die Innenstadt?“

Verdammt, er hat es vergessen. Heute soll sie den Vertrag in der Agentur unterschreiben.

„Tut mir leid, Mädchen. Ruf’ dort an, ab morgen habe ich Urlaub. Gleich nach dem Frühstück fahre ich Dich hin.“ Er verschwindet in der Küche. Als er hört, das sie auf der Treppe oben angekommen ist, durchforstet er sein Geheimversteck hinter den Cola-Dosen. Seine Vorräte sind bedenklich geschrumpft. Er findet zwei zusammengedrückte Schokoriegel, eine halbe Tüte Chips und ein Glas Erdnussbutter. Besser als nichts.

Inga verdreht genervt die Augen zur Decke. Hätte sie bereits den Führerschein, würde sie ihm wortlos die Autoschlüssel abnehmen. So muss sie warten. Hoffentlich geht bei der Fahrprüfung nichts schief. Wird Zeit, dass sie hier raus kommt. Mama ständig unterwegs, Kerstin nur noch Gast, der bedient werden will seit sie ihre eigene Wohnung hat und Papa …, der nimmt es als selbstverständlich, dass sie aufräumt und die Wäsche macht. Klar, Hausarbeit gehört auch in Paris zu ihren Pflichten, aber es ist eben Paris. Und Phillip. Ein bisschen tut Papa ihr schon leid, so allein mit dem ganzen Haushaltskram. Bestimmt wird er noch mehr Pizza, Chips und Cola in sich hinein stopfen und dabei denkt er, sie merkt das nicht. Wenn sie vor ihrem Salat sitzt, grinst er immer und sagt „Du wirst durch die Gitter der Metroschächte fallen, dünn wie Du bist.“ Papa hat keine Ahnung, welcher Druck heutzutage auf der Jugend lastet. Besonders auf der weiblichen Jugend. Perfekt sein und dünn, vorzeigbares Abitur, toll aussehen, gut im Studium, einen Job finden der mindestens so einträglich und interessant ist wie der von Mama, perfekt fallende Haare, keine Pickel und der Busen erst …, wenn hier überhaupt von einem solchen gesprochen werden kann. Darüber muss sie unbedingt mit Mama reden, am Telefon sieht sie deren vorwurfsvollen Blick nicht …, obwohl Mama hat sicher Verständnis. Kostet heute keine Unsummen mehr, so ein praller Busen. Die Pariserinnen sollen sehr chic sein, Philipp hat da so eine Bemerkung gemacht, die den Druck auch nicht gerade vermindert. Sie wirft das Kleiderbündel auf ihr Bett und sortiert. Rechts die für Paris tauglichen Sachen, links das Unmögliche. Der schwarze Mini eindeutig rechts. Die ausgebeulte Jeans links. Das geblümte Kleid hält sie sich unschlüssig vor den Körper. Schlank, der Selbstbeherrschung sei Dank und blond wie Mama. Die Locken lässt sie mit einem Glätteisen regelmäßig verschwinden, damit die Haare schön glatt und seidig über die Schulterblätter fallen. Phillip gleitet gern mit seinen Händen durch die seidigen Längen. Er sagt dann, sie sei ein Engel. In seiner Vorstellung sind Engel grazile, langhaarige Blondinen. Wenn der wüsste, wie viel Arbeit die Schönheit macht. Sie lächelt ihrem Ebenbild im Spiegel zu. Nein, keine langen Kleider, aber die enge rote Lederhose, die auf jeden Fall. Eine große Schwester zu haben, bedeutet nicht den Himmel auf Erden, aber seit diese Schwester eine Modeboutique führt, entschädigt das für vieles.

Joachim stellt sich auf den Treppenabsatz und ruft nach oben.

 

„Inga, kommst Du?“ Es riecht nach Salami und zerlaufenem Käse. Pizza eben. Sie beugt sich über das Treppengeländer, in ihren Händen baumeln schwarze Stiefeletten mit sehr hohen Absätzen und Schnürbändern.

„Paps, was meinst Du zu den Schuhen?“

„Wenn Du Dir unbedingt die Haxen brechen willst …?!“

Sie wirft die Schuhe ärgerlich zurück ins Zimmer. Papa hat eben keine Ahnung von Mode. Mama hätte sofort eine bestimmte Hose dazu empfohlen. Der arme Papa, bald mutterseelenallein. Kerstin kommt ab und zu, ja, nur hat die ihre eigenen Probleme, seit sie schwanger ist.

Sie mustert kritisch sein großes Stück Pizza, schiebt ihren Anteil demonstrativ zur Seite und stochert im Salat herum.

„Mädchen, Du musst essen! Du bist zu dünn …“ Er weiß, dass es keinen Sinn hat. Das Ideal ist eine Zaunlatte und dieses Ziel streben sie verbissen an.

Sie schnaubt die Luft durch die Nase und steht auf. Wenn sie auf Papa hören würde, wäre sie bald kein graziler Engel mehr, sondern ein Klops.

„Willst Du noch weg?“, fragt er scheinheilig. Heute Abend ist Fußball im Fernsehen und dafür ist er gerüstet, sechs kleine Bier stehen bereit.

„Zu Kerstin. Du bist als Modeberater untauglich.“

Froh gestimmt räumt er die Teller in die Spülmaschine. „Morgen früh kann ich gleich meinen Flug buchen, wenn wir in der Stadt sind.“

„Flug buchen?“

Er lächelt verschmitzt. „Ich überrasche Mama in London. Aber nichts verraten, verstanden?“

„Toll. Sie ist im ‚Great Western‘.“

„Inga, das weiß ich. Wir telefonieren jeden Abend miteinander.“

Die Haustür fällt ins Schloss. Er geht zurück in die Küche und schiebt sich das von ihr verschmähte Stück Pizzas genüsslich in den Mund.

In seinem gemütlichen Ohrensessel, die Beine entspannt auf dem Hocker, neben sich auf dem Fußboden den Bier- und Chipsvorrat und das halbe Glas mit Erdnussbutter, widmet er sich dem Fußball. Die aufflimmernde Werbung lässt seine Gedanken abschweifen. Die Einrichtung des Wohnzimmers entspricht Elviras Geschmack, nicht seinem. Er steuerte vor drei Jahren, als sie sich neu einrichteten, im Möbelgeschäft direkt auf eine massive, tabakbraune Ledergarnitur zu. Seine Argumente zur Pflegeleichtigkeit und Langlebigkeit verhallten ungehört. Er wurde überstimmt. Elvira und die Mädchen fanden die weiße Garnitur deutlich attraktiver. Das einzige Zugeständnis an ihn der mit rotem Wollkaro bezogene Ohrensessel. Er vermutet, sie wollten ihn damit diskret davon abhalten, die weiße Garnitur zu benutzen. Auf dem Mosaikparkett liegt ein dickflauschiger, beiger Orientteppich, darauf steht ein Glastisch, die Schränke vor weißen Wänden glänzen in weißem Hochglanzlack, der zierliche Sekretär neben dem Fenster ist ebenfalls weiß lackiert und auch die Gardinen sind aus weißem Satin. Nach der Möbellieferung meinte er scherzhaft, er werde zukünftig eine Sonnenbrille für sein Wohnzimmer benötigen, bei all dem blendenden Weiß. Es stehen ein paar Holzskulpturen herum, die Elvira in Amerika entdeckt und gekauft hatte. Abstrakte Kunst, von der er nichts versteht. Einziger altvertrauter Gegenstand im Raum das gemeinsame Hochzeitsfoto. Der heutige Joachim besitzt nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem schlanken jungen Mann darauf. Immerhin, das volle rötliche, nur an den Schläfen ergraute Haar ist ihm geblieben. Sein Körper fast verdoppelt. Elvira dagegen … Kaum verändert. Die blonden Löckchen, der herausfordernde, kecke Blick. Er lächelt ihrem Ebenbild auf der Fotografie zu, dann beansprucht das wieder aufgenommene Spiel seine volle Aufmerksamkeit.

„Ja, ja. Alles in Ordnung. Inga unterschreibt morgen ihren Vertrag. Nein, wir essen ordentlich, nicht solchen Schweinkram. Wo liegt eigentlich dieses ‚Great Western Hotel‘?“

„Underground Station Kings Cross? Aha. Wann geht Euer Rückflug? Am 18.? Perfekt.“

„Nichts. Nur so. Hat nichts zu bedeuten. Gute Nacht, mein Mäuschen.“

Joachim legt das Telefon auf den Nachttisch und streckt sich genüsslich, auch Elviras Seite beanspruchend, im Bett aus. Morgen Abend wird er Elvira in den Armen halten. Wenn sie zurück kommen, wird die jüngere Tochter das Elternhaus wohl endgültig verlassen haben. Bei Inga ist zu befürchten, dass sie in Frankreich hängen bleibt. Die Franzosen, oh, die lieben es frivol. Raffinesse in der Liebe und beim Essen. Das Paris seiner Vorstellung setzt sich aus Fernsehbildern zusammen. Eiffelturm, Kalksteinhäuser der Großbourgeoisie mit schmiedeeisernen Balkongittern, chic gekleidete Frauen, charmante Männer. Die Trikolore am Mast. Oh, so ein Fahnenmast würde seinem Haus auch gut stehen, aber welche Flagge hissen? Die Deutsche? Seine Nachbarn halten ihn dann für übergeschnappt. Die des favorisierten Fußballvereins? Befördert ungute Aggressivität. Moment mal, er könnte ja die französische Flagge kaufen und immer dann hissen, wenn Inga mit ihrem Freund zu Besuch kommt. Eine ausgezeichnete Idee. Beim Einschlafen sieht er sie wehen, die Trikolore an seinem Mast, er mit Elvira im Arm am Gartentor stehend, die frivole Tochter, quatsch …, die französische Tochter …, nein …, die heimkehrende Tochter begrüßend …

„Papa!“

Keine Antwort aus dem elterlichen Schlafzimmer. Inga stampft mit dem Fuß auf. Heute muss sie in die Stadt. Sie kann den Termin kein zweites Mal verschieben, die Zeit läuft ihr weg.

„Papa, Du hast es mir versprochen!“ Sie trommelt mit den Fäusten gegen die Schlafzimmertür.

Joachim schwimmt durch honigsüße Träume. Ein englisches Hotelzimmer mit viel Plüsch und einem breiten Bett. Gleich würde Elvira da hinein springen. Warum hämmert Elvira denn gegen die Tür? Die Stimme gehört gar nicht Elvira, das ist Inga … Was macht denn Inga in England? Die gehört nach Frankreich. Dieser Krach!

„Ja! Ja doch! Mach’ schon mal Kaffee!“ Schwerfällig wälzt er sich herum, fährt durch seine roten Haare, wenigstens bleibt er vom Haarausfall verschont, es geht ihm nicht wie Hagen, der letzte lange Strähnen mit Haarlack um den Schädel klebt. Er stellt erst das rechte – immer das rechte zuerst –, dann das linke Bein auf den Boden. Los! Das Mädchen kann zickig werden, wenn er seine Versprechen nicht einhält, treibt er sich selbst an. Also los. Sein Herz scheint noch zu schlafen als er sich über das Waschbecken beugt und kaltes Wasser ins Gesicht schüttet.

*

Frau Goldstein-Wetternich bietet Kaffee an. Ihre schon etwas altersfleckige Hand mit den perfekt lackierten himbeerroten Nägeln weist einladend auf die beiden Besuchersessel. Sie verlässt mit geschäftlichem Lächeln den Platz hinter ihrem Schreibtisch, zieht die Jacke des grauen Kostüms zurecht, richtet die bis zum Nabel baumelnden Goldketten und setzt sich Joachim und Inga gegenüber. Die schlanken, wohlgeformten Beine legt sie elegant übereinander. Sie trägt hochhackige Pumps aus Schlangenleder. Die Beine – in dem Alter! Denkt Joachim. Die Schuhe! Denkt Inga. Frau Goldstein-Wetternich mag eine Dame im fortgeschrittenen Alter sein, doch sie weiß, dass es an ihren Beinen nichts auszusetzen gibt. Noch nicht. Ihr charmantes, wenn auch geschäftlich kühles Lächeln umspielt weiter die himbeerroten Lippen. Sie drückt mit einer prüfenden Handbewegung das weiße, hochgesteckte Haar zurecht.

„Herr Schmidt? Sehr angenehm. Inga, ich freue mich, Sie zu sehen. Besonders, da ich mit einer Bitte an Sie herantreten werde, welche Sie mir hoffentlich nicht abschlagen. Gut, dass der Herr Papa gleich mit dabei ist.“

Die Assistentin, eine Asiatin in einem dunkelblauen, hochgeschlossenen Seidenkleid, bringt den Kaffee. Die Agenturchefin möchte in der nächsten halben Stunde nicht gestört werden. So lautlos, wie sie erschien, verschwindet die Asiatin wieder.

Inga guckt misstrauisch. Was will die? Die Unterzeichnung des Vertrages dauert fünf Minuten. Sie ist volljährig, Papa müsste nicht mal dabei sein.

Die himbeerroten Lippen kräuseln sich beim Sprechen ein wenig. „Also, Herr Schmidt, Inga, es geht um folgendes Problem: Eines der Mädchen, welche ich unter Vertrag habe, sollte nächste Woche nach Australien fliegen. Sie ist bedauerlicherweise erkrankt. Ein gebrochener Arm. Leider ist es mir in der Kürze der Zeit nicht gelungen, eine Vertretung zu finden. Eine unangenehme Situation für mich. Bisher bin ich noch nie vertragsbrüchig geworden. Für die australische Familie ein echtes Problem, denn die Herrschaften haben eine Europareise gebucht und fest mit dem Mädchen gerechnet.“

Inga verzieht den Mund. Nee – nicht mit mir. Philipp wartet in Paris, was soll sie denn bei den Australiern.

Frau Goldstein-Wetternich forscht im Gesicht des Mädchens. Verbissene Abwehr. So sind sie alle in dem Alter. Haben sich etwas in den Kopf gesetzt und lehnen jede Alternative sofort ab. Das Leben wird sie zurecht schleifen, kompromissbereiter machen.

„Sehen Sie, es handelt sich ja nur um ein paar Wochen. Bis das andere Mädchen gesund ist.“ Die Geschäftsstimme wandelt sich zum mütterlichen Ton. „Sie würden mir wirklich einen großen Gefallen tun, den ich auch entsprechend honorieren möchte. Sie könnten sich anschließend die großen Sehenswürdigkeiten des Kontinents anschauen. Ohne Verpflichtungen reisen. Ayers Rock, Great Barrier Reef, Surfers Paradise …

Inga hebt protestierend beide Hände. „Paris war vereinbart. Die warten dort auf mich.“ Warten wird – hoffentlich –, Philipp.

„Oh, mit Monsieur und Madame habe ich bereits gesprochen, sie sind mit der Verzögerung ihres Einsatzes einverstanden. Inga – bedenken Sie! Zwei Monate Australien!“

„Nein!“

Joachim kennt seine Tochter, wenn sie diese Stimmlage erreicht, beißt die Dame auf Granit. Er räuspert sich. Vermitteln. Guten Willen zeigen, die störrische Tochter väterlich lenken.

„Vielleicht solltest Du eine Nacht darüber schlafen. Wenn Du morgen immer noch lieber nach Frankreich willst, fliegst Du wie abgesprochen. In Deinem Alter hätte ich allerdings sonst was dafür gegeben, nach Australien reisen zu dürfen.“

Die Goldstein-Wetternich schenkt ihm einen dankbaren Blick. Das Mädel musste doch zu beeinflussen sein.

Umsonst. Zehn Minuten später stehen sie mit Ingas Frankreich-Vertrag auf der Straße. Sie wollte nicht noch mal über etwas schlafen, was für sie gar nicht in Frage kommt. Die Vorstellung, dass Philipp mit irgend einer flotten Pariserin in den Parks rumhängt, während sie Koalabären streichelt, sitzt hartnäckig in ihrem Kopf. Joachim macht ein ergebenes Gesicht. Das Mädchen ist alt genug. Der Junge steckt dahinter. Na klar, der Junge.

Er verabschiedet sich von Inga. Zuerst den Flug buchen. Und dann … Er schaut an sich hinunter. Wird Elvira sich nicht schämen, wenn er in ihrem Hotel in diesen Klamotten auftaucht? Ausgewaschene Jeans und Karohemd zwischen all den geschniegelten und gebügelten Lords?

Mal Kerstin fragen. Wozu führt seine Tochter schließlich eine Boutique.

*

Oh, Gott – wie verkleidet kommt er sich vor. Kerstin hörte ihm wortlos zu und schob ihn dann mit ihrem Murmelbauch vor sich her quer durch die Einkaufspassage in den nächsten Herrenausstatter. Sie flüsterte mit der jugendlichen Verkäuferin ein bisschen und war wieder verschwunden.

„England?“, fragte die Verkäuferin, nicht viel älter als Inga. England also. „Mhm, okayy …“

Sie sagen jetzt alle dieses langgezogene „okaayy …“ wenn sie ratlos sind und nicht wissen, was so ein alter Trottel von ihnen erwartet. In seiner Jugend war Nachfragen nicht ehrenrührig, aber heute … Nur keine Blöße geben, statt dessen: „okaayy …“ Soll heißen: Keinen blassen Schimmer, was in diesem Greisenhirn vor sich geht, aber der Alte wird kaufen, was ich ihm einrede.

Er dreht sich vor dem Spiegel auf die Seite. Der blaugrüne Tweed umspannt seine Wampe. Diese Lederflicken auf den Ellenbogen … als habe er das Jackett aus der Altkleidersammlung gezogen. Das muss so sein, tragen in London alle, behauptete Okay und klimperte mit den angeklebten Wimpern. „Ihre Frau wird begeistert sein.“ Elvira bringt den Ausschlag. Er kauft. Auch die braune Manchesterhose. Schließlich will er sie vor Herrn Berrschen und dem anderen – wie hieß der gleich? Egal. Er will sie nicht blamieren.

Unten klingelt es. Er wirft Jacke und Hose aufs Bett, schlüpft in seine vertraute Kluft und geht hinunter.

„Na endlich! Warum dauert denn das so lange?“ Die resolute alte Dame schiebt ihn beiseite und eilt schleunigst zur Gästetoilette. Auch das noch. Seine Schwiegermutter Jutta.

Die Spülung rauscht, Jutta tätschelt ihm die Wange und versinkt seufzend im weißen Sofa.

„Wo ist Inga? Ich habe ihr von meiner letzten Reise etwas mitgebracht“, säuselt sie und kramt in ihrer gefälschten Gucci-Handtasche.

 

Sie werde bald kommen, versichert er ihr. Seine Schwiegermutter verlangt Kaffee und schweigend serviert er ihn wenig später so, wie sie ihn mag. Stark und süß. Seit ihr Mann unter der Erde ist, lebt sie auf. Solange der geizige, pensionierte Schuldirektor den Ton angab, war sie ein graues Mäuschen.

Kaum war der beerdigt, erblühte Jutta zu neuem Leben. Die grauen Strähnen bekamen einen violetten Hauch, die Fingernägel wurden korallenrot lackiert, die Krampfaderbeine in Leggins verpackt und sie entwickelte eine Vorliebe für mit Glitzersteinchen besetzte Oberteile. Und sie reiste! Schrebergarten habe sie ihr ganzes Leben lang gehabt, jetzt wolle sie endlich die Welt sehen, verkündete sie bereits an der Kaffeetafel der Trauerfeier. Südamerika, St. Petersburg, Südafrika, Dubai, Hanoi und Barbados, alles mit Kreuzfahrtschiffen und Landausflügen bequem erreichbar. Und so günstig! Die jungen Leute haben ja keine Vorstellung, was heutzutage so ein Platz im Seniorenheim kostet. Auf dem Schiff erhält man jede Menge Rabatte nach den ersten Reisen. In einem tristen Heim sitzen, aus dem Fenster schauen und sich von patzigen Pflegerinnen den Seniorenteller aufzwingen lassen? Pah! Als Passagierin auf den Weltmeeren bekommt man bei Überquerung des Äquators eine schöne Urkunde, ein Foto mit dem Kapitän – alle sehr charmant, diese Seeleute! Man darf an endlosen Büfetts auswählen, bekommt sein Bett ohne erniedrigende Kommentare gemacht und schaut sich abends in netter Gesellschaft Live-Shows an statt Fernsehwiederholungen. Sogar Ärzte stehen zur Verfügung. Einfach auf Deck drei mit dem Fahrstuhl nach unten fahren. Und die verbieten alten Damen nicht mal die Drinks.

Nachvollziehbar, dass bei diesem Leben von der Pension des seligen Schuldirektors nichts übrig blieb. Von jeder Reise brachte Jutta ihren Enkeltöchtern eine Kleinigkeit mit. Jedes Mal Geldbörsen in scheußlichster Ausführung. Leere Geldbörsen, versteht sich.

Das diesmal auf dem Tisch erscheinende Exemplar zeichnet sich durch eine besondere Hässlichkeit aus.

„Das wird ihr gefallen“, sie schenkt dem mit Glitzersteinchen besetzten rosa Plüschkamel einen liebevollen Blick. Die Höcker sind hohl für Kleingeld und mit Reißverschlüssen versehen.

„Davon bin ich überzeugt.“ Er kann den sarkastischen Unterton unterdrücken. Joachim ist im Umgang mit seiner Schwiegermutter jahrzehntelang trainiert. Einfache Antwortsätze, stets zustimmend, niemals widersprechen. Inga wird das Ding, genau wie alle anderen zuvor, mit spitzen Fingern in den Müll befördern.

„Wann gehst Du wieder an Bord?“

„Übermorgen fliege ich nach Manaus“, lächelt sie spitzbübisch, „das liegt in Südamerika.“

Triumphierend zieht sie einen bunten Prospekt aus der gefälschten Handtasche.

Joachim starrt ungläubig auf die Hochglanzbilder des südamerikanischen Dschungels. Wie macht sie das nur? Vor ihrer Metamorphose klagte sie über tausend Krankheiten. Und jetzt, mit fast Achtzig? Amazonas, Transatlantik, Mittelmeer, Suezkanal und zur Krönung der Reise noch Singapur. Sein Herz zuckt schon erschrocken, wenn er sich die feuchte Tropenhitze nur vorstellt.

„Eine Kombinationsreise. Du wirst es nicht glauben, wenn ich Dir sage, wer diesmal mit an Bord ist!“

Er heuchelt waches Interesse. Wahrscheinlich so ein Schlagerfuzzi.

„Detlef Düse!!!“ Ihre Stimme überschlägt sich.

„Sag bloß!“ Wer – verdammt –, ist Detlef Düse?

„Ja! Stell Dir vor. Natürlich ist die blöde Tussi auch dabei …, na ja, sie nennen sich halt D&D, Detlef und Doris. Herrlich, wenn er unter dem Tropenhimmel sein ‚Hinterm Almschober war’s‘ … im Brauhaus anstimmt, Du musst wissen, die haben eine richtige Bierbrauerei an Bord und wir dann alle mit Fähnchen, weil, Feuerzeuge sind nicht erlaubt, die Matrosen sind da sehr streng … Entschuldige mal.“

Sie huscht wieder in die Gästetoilette.

Wie macht sie das auf ihren Reisen mit der Inkontinenz? Auf dem Schiff gibt es wohl ausreichend Toiletten auf jedem Deck, aber bei den Landausflügen?

Inga lenkt ihn ab. Sie ist von Kerstin zurück und wurde von der großen Schwester paristauglich ausgestattet. Zu den knappen Shorts aus schwarzem Leder trägt sie schwarze Seidenstrümpfe mit Naht auf der Rückseite, die zehn Zentimeter hohen Schnürstiefelletten, dazu eine knappe Korsage aus weißem, transparentem Stoff. Fassungslos schaut Joachim auf seine Tochter. Will sie etwa so durch Paris laufen? Mann, oh Mann! All die lüsternen Kerle, die hinter seinem kleinen Mädchen her sein werden. Ihr den Aufzug verbieten? Sie ist erwachsen. Also so tun, als sei diese Kleidung normal. Die Mädchen ziehen sich heutzutage an wie vor zwanzig Jahren die Nutten.

Jutta schließt geräuschvoll die Toilettentür und stampft auf ihren Krampfaderbeinen zurück ins Wohnzimmer.

„Oh Inga, wie schön, Dich noch zu treffen …“, erst jetzt erfasst sie das Erscheinungsbild ihrer Enkelin voll und ganz.

„Bist Du verrückt geworden? So gehst Du auf keinen Fall auf die Straße!“

Inga, die so gerade zahlreiche Straßen überquert hat, verdreht die Augen genervt zur Decke, drückt ihrer Oma einen flüchtigen Kuss auf die Wange, würdigt das auf dem Glastisch liegende Glitzerkamel keines Blickes und eilt mit der Boutique-Tüte in der Hand schnell hinauf in ihr Zimmer.

Jutta zerrt aufgeregt ihren Leopardenfell imitierenden Rock über den Leggins zurecht.

„Joachim!“ Die Stimme wird schrill. „Wieso erlaubst Du das? Du musste es ihr noch heute verbieten, hörst Du!“

„Ja, ganz meine Meinung. Natürlich werde ich es ihr verbieten.“ – Mit keinem Wort werde ich den Aufzug erwähnen, ich will mich nicht im Streit von meiner Kleinen trennen.

„Wie das ausschaut!“

Meine Güte, hast Du heute Morgen in den Spiegel gesehen? „Nicht akzeptabel.“ Er schüttelt energisch den Kopf.

„Wie eine vom Strich!“

Wieso weiß Jutta, was die dort tragen? „Furchtbar, die heutige Jugend“, bestätigt er die Aufregung seiner Schwiegermutter. „Aber ist nicht jede Jugend auf ihre Weise verrückt?“ Vorsicht! Niemals auch nur die Andeutung einer anderen Ansicht äußern. Er erinnert sich an schlimme Schwiegermutterangriffe der ersten Ehejahre.

„Ach, was! Elvira war nicht verrückt, sondern hat Dich geheiratet und zwei Kinder bekommen. Woher hat das Kind das nur? Elvira hat doch Stil, warum fällt Inga so aus dem Rahmen?“ Sie nestelt nervös an den Glitzersteinchen ihrer pinkfarbenem Bluse.

Was trägt Elvira eigentlich auf ihren Dienstreisen, fragt sich Joachim. Das graue Kostüm, das dunkelblaue mit dem kurzen Rock, weiße Blusen, Pumps. Business-Look eben.

Jutta hat ihren Vorrat an Empörung aufgebraucht. „Ich muss los.“ An der Haustür drückt sie ihm zwei feuchte Küsse auf seine stacheligen Wangen. „Fast vergessen: Die Schlüssel“, sie drückt ihm ihren Schlüsselbund in die Hand. „Schau’ ab und zu mal nach dem Rechten. Um Pflanzen und Post kümmert sich die Nachbarin.“

„Gute Reise, Jutta. Sei vorsichtig, es gibt Krokodile im Amazonas.“

Mit der Nonchalance der Vielreisenden wedelt sie seine Warnung weg und stapft davon.

Erleichtert lehnt sich Joachim mit dem Rücken gegen die geschlossene Haustür. Morgen, morgen um diese Zeit wird er in London landen. Morgen. London. Elvira.

*

Heathrow empfängt ihn mit Sonne. Der Bus 767 der Green Line bringt ihn in einer knappen Stunde ins Zentrum. Nun gilt es, in diesem Großstadtdschungel die richtige Linie Richtung Kings Cross heraus zu finden. Joachim schwitzt. Er kommt sich lächerlich vor in diesem Tweed-Jackett, den dickrippigen Manchesterhosen und dem Rucksack auf dem Rücken. Jeder erkennt sofort den Touristen in ihm. Bedauerlicherweise verfügte er über so gut wie keine Englischkenntnisse. Fremdsprachen – das bleibt Elviras Revier. Sein gesamter englischer Wortschatz besteht aus: Hello. Yes. No. Please. Thank you. Eat. Drink. Sleep. Aus.