Die Eifel und die blinde Wut

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»Wer steigt aufs Dach?«, fragte die Subotka und wedelte mit ihrem blonden Pferdeschwanz. Didier hatte bereits bemerkt, dass sie das immer tat, wenn sie keinen Plan hatte, aber irgendwie vorankommen wollte.

»Die Leute vom Dorf«, antwortete der jüngere Müllmann, ein hagerer Typ. »Wenn wir nicht pünktlich alles picobello hinterlassen, hagelt es wieder Beschwerden in der Zentrale, und wir kriegen Ärger von ganz oben.«

»Und Sie öffnen immer erst die Einfüllklappe, um zu schauen, was im Container ist?«, fragte Didier.

»Ja klar«, brummte der Ältere. »Was glauben Sie, was die Leute für Zeug untermischen! Die Plastiktüten, mit denen der Biomüll da reingeworfen wird, sind das kleinste Problem. Das kann rausgeharkt werden in unserer Anlage. Aber da waren mal zersägte Dachlatten drin, die haben sich verkantet. Damenbinden, Hundefutterdosen, giftige Gartenpflanzen … einfach alles. Unverantwortlich!«

»Was machen Sie, wenn Sie sehen, dass ein Container voller Fehlwürfe ist?«, hakte Natalia Subotka nach.

»Wir melden das ans Abfallwerk nach Trier. Die haben eine Statistik, in der fein säuberlich aufgelistet wird, wo es die meisten Sauereien gibt. Aber fragen Sie mich nicht, was dann damit geschieht. Alles Chefsache.«

Didier rieb sich die große Nase. Es juckte, vielleicht ein Schnupfen im Anmarsch. »Ist es denn in letzter Zeit schlimmer geworden?«

»Hier in der Gegend?«, fragte der Hagere und nickte. »Kann man so sagen. Das mit dem Schweinekopf und dem Darm voller Scheiße, das stand ja sogar in der Zeitung. Aber dass wir einen Fuß von einem Kerl drin haben …« Er schüttelte den Kopf, als sei er mehr empört als verstört über den Fund. »Mit Tennissocken und Badelatschen dran … Ich meine, wer macht so was?«

»Erst mal müssen wir rausfinden, wer so was ist«, entgegnete die Kommissarin spitz. »Und dann, wer so was macht. Alles der Reihe nach.«

Eine der Gestalten in Weiß näherte sich. »Der erste Container ist so weit durch, wir machen uns an den anderen.«

Didier und Subotka nickten. »Haben Sie da den Deckel auch geöffnet?«, wandte sich der Kommissar an den Bärenhaften.

»Noch nicht, wir haben ja sofort die 110 gewählt … Können wir jetzt weiter mit unserer Tour? Ich meine, wir sind jetzt heftig in Verzug.«

»In Ordnung«, meinte Didier. »Ihre Daten haben wir ja.« Aber die beiden Müllwerker würden noch Fingerabdrücke und DNA-Proben abgeben müssen, trotz Handschuhen und wetterfester Arbeitskluft. Es war ein Albtraum für die Spurensicherung. Die Container standen an einem öffentlichen Platz, sie müssten von ganz Netteseifen Vergleichsproben nehmen und könnten immer noch nicht sicher sein, dass nicht auch Leute von anderswo ihr gäriges Zeug hier abluden. Massenweise Spuren und kaum eine Chance, sie eindeutig zuzuordnen.

Didier hörte ein dumpfes Krachen und sah, dass die Weißgekleideten den zweiten Container auf eine weitere Plane ausgekippt hatten.

»Fund!«, rief einer sofort.

Die beiden Kommissare gingen hin. Und Didier war nun doch froh, nichts gegessen zu haben. Auch seine Kollegin kniff die Lippen zusammen. Dass es einen weiteren Fuß mit Tennissocke geben würde, das hatten die beiden schon vermutet. Ein einzelner Badeschuh lag etwas entfernt. Aber direkt neben ihn war ein Kopf gerollt. Aschige, verkrustete Haarbüschel, eine knollige, blaurot geäderte Nase, volle Lippen, nikotingelb verfärbte Zähne und zwei runde Vertiefungen unterhalb der Stirn. Die Lider waren über dunkelbraun verkrusteten Höhlen eingesackt. Didier atmete tief durch. Und zählte bis zehn. Dann ging es wieder. Er sah genauer hin. Etwas an dem Gesicht, das nicht wirklich mehr eines war, kam ihm bekannt vor.

»Sehen Sie das, Frau Subotka?« Er wies auf einen fast perfekten, kreisrunden Blutschwamm an der rechten Stirnseite zwischen Haaransatz und Augenbrauen, der ungefähr so groß wie ein Einkaufswagenchip war.

Sie beugte sich vor, atmete flach und nickte. Abrupt richtete sie sich wieder auf. »Klar. Ich bin ja noch nicht lange hier, aber die Wahlplakate von dem da, die hingen an jeder Laterne, als ich in die Eifel zog. Man konnte ja gar nicht dran vorbeischauen.«

»Mit anderen Worten: LKA«, meinte Didier und spürte ein Gefühl der Erleichterung. Nicht er würde sich damit abmühen müssen zu klären, wie Teile von Timotheus Nippes im Netteseifener Müll gelandet waren. Nicht er würde den Trierer Polizeipräsidenten und den Innenminister mit voraussichtlich spärlichen, verwirrenden Informationen für Pressekonferenzen füttern und dafür Kritik von allen Seiten kassieren müssen. Allenfalls ein kleines Rädchen in einem großen Getriebe würde er sein, einer von vielen für die Routinerecherchen. Er seufzte. »Gut, dann rufen wir jetzt in Trier an und warten, bis die Kollegen aus Mainz dazukommen.« Er drehte sich um und machte hinter dem Flatterband rund ein Dutzend Leute aus, einige von ihnen umklammerten neongrüne Eimerchen. Ob sie wirklich Biomüll hatten entsorgen wollen oder das Plastikutensil nur als Vorwand nutzten, um möglichst nah an den Ort des Geschehens zu gelangen, das war Didier gleichgültig. Hauptsache, es war kein neugieriger Journalist da. Aber er sah niemanden mit gezückter Kamera oder Handy im Anschlag, alle begnügten sich mit stillem Zuschauen. Hier auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung, dachte er und begriff dann erst, dass er in entsetzensstarre Gesichter blickte.

3

Werner Baltes kannte seine Kollegen Lutz Didier und Natalia Subotka, obwohl er noch nie persönlich mit ihnen an einem Fall zusammengearbeitet hatte. Er hielt sie für akribisch arbeitende Kommissare, die mit den wenigen blutigen Verbrechen in der Region nicht überfordert waren. Ein paar spektakuläre Fälle gab es durchaus: Ein Mann hatte seine Geliebte im Drogenwahn erwürgt, sie ins gemeinsame Bett gelegt, das geheizte Schlafzimmer mit Silikon abgedichtet und so noch etliche Tage lang mit der Leiche in einer Wohnung gelebt. Baltes konnte sich vorstellen, was es für die Spurensicherung bedeutet haben mochte, den Tatort zu untersuchen … rein vom Optischen und Olfaktorischen her. Ein Hochbetagter hatte in geistiger Verwirrung seine Ehefrau erstochen, mit der er bald Diamantene Hochzeit gefeiert hätte. Er selbst hatte die Polizei alarmiert und sich bei ihrem Eintreffen entschuldigt, dass er nicht wisse, warum seine Frau keinen Kaffee gekocht habe, das tue sie sonst immer für Besuch. Ein jahrelang schwelender Nachbarschaftsstreit war eskaliert. Es ging um einen ausgeliehenen, aber nicht zurückgegebenen Wagenheber, der im Getümmel zweckentfremdet wurde. Aber eine derart planvolle Raserei, wie sie vor Jahren Timotheus Nippes widerfahren war, hatte es in der Eifel weder vorher noch nachher gegeben.

Auf dem Schreibtisch von Lutz Didier stapelten sich Akten, die schon von außen verrieten, dass sie oft gewälzt worden waren. »Immerhin kein Serientäter, kein Raubmörder und kein Terrorist, so viel ist klar. Sonst aber nichts. Schau noch mal ganz von vorn über alles drüber«, meinte Didier, als er Baltes die Dokumente zum längst erkalteten Fall gab. »Ein Haufen Verdächtiger, ein Haufen Motive, doch wirklich überzeugen konnte den Staatsanwalt nichts. Nicht einmal die Spezialisten vom LKA haben irgendetwas herausgefiltert, von dem man hätte sagen können: Das ist es! Es ist blamabel. Und bald sind es fünf Jahre her. Der Chef glaubt, dass sich die Presse auf das Jubiläum stürzt und uns mal wieder vorführt.« Presse war etwas hochgegriffen für das, was in den letzten Jahren davon übrig geblieben war: ein kunterbuntes kostenloses Anzeigenblatt und der altehrwürdige Mosella-Courier. Es war kein Geheimnis, dass es ein gespanntes Verhältnis gab zwischen dem Chefredakteur des Mosella-Couriers und dem Polizeipräsidenten. Es war nur ein Geheimnis, warum das so war. Und keine der Konfliktparteien machte Anstalten, es zu lüften.

Baltes musste nicht erst nachlesen, um wen es sich bei dem Opfer handelte, das ziemlich gerecht portioniert auf verschiedene Biomüllcontainer rund um Netteseifen gefunden worden war. Physisch vollständig zusammengeklaubt bis auf die Augäpfel, die blieben verschwunden. Er vermutete, dass die sich irgendwo zwischen Tonnen von kalten Nudeln, welkem Salat, Teefiltern, Kohlstrünken, Apfelkerngehäusen, Kartoffelschalen, Pizzabrotkanten oder Katzenfutterresten entmaterialisiert hatten. Sicher waren sie längst als Kompost auf einem Eifeler Acker gelandet, Staub zu Staub. Braun sind sie gewesen, das wusste Baltes. Wer findet schon braune Augen in einem Meer von Kaffeesatz. Ob sie überhaupt wichtig sind, die Augen? Warum hatte sich jemand die Mühe gemacht, sie auszustechen? Dass die geleerten Höhlen im Schädel nicht das Werk hungriger Nager oder Wespen waren, hatte die Obduktion ergeben. Irgendetwas sollten die Augen, die es nicht mehr gab, über das Opfer erzählen, davon war er überzeugt.

Er hatte Timotheus Nippes live erlebt, als offizieller Gast auf einem Neujahrsempfang in einem Dorfgasthof. Es gehörte sich, Vertreter der Polizei einzuladen. In dem Jahr hatte Baltes das Los erwischt und von allen Kollegen das kürzeste Streichholz gezogen. Er musste ins Willibrordsbräu. Das Wirtshaus war nach dem Missionar benannt, welcher angeblich die Eifel christianisiert und so lange auf einen mächtigen keltischen Hinkelstein eingedroschen hatte, bis daraus ein Kreuz geworden war. Der einst rustikale Tanzsaal war umfunktioniert in eine stylische Event-Location mit bunter LED-Beleuchtung. Mundarttheater fand hier statt, ab und zu ein Konzert oder Kabarett oder eine Traumhochzeit, nebenan in der Burgruine konnte man sich trauen lassen. Und es gab politische Veranstaltungen. Hier wurde geklatscht und gejohlt oder brav genickt, je nachdem. Nippes war Gründer der Wählergemeinschaft »Für Recht und Staat«, die zwischen Mosel und Ahr etliche Mandate in kommunalen Parlamenten eingefahren und dafür gesorgt hatte, dass er mit den Etablierten kungeln konnte. Obwohl er immer betonte, wie wenig er mit einer der Volksparteien zu tun habe – »Die passen einfach nicht zu uns hier« –, wurde er stets zitiert: »Die sollen alle in Berlin machen, was sie wollen, mit uns hat das nichts zu tun.« Eine Legislaturperiode lang war es ihm sogar gelungen, in den Mainzer Landtag einzuziehen – fraktionslos zwar und wie ein vor der Metzgerei allein gelassenes Hündchen verbannt auf einen der hintersten Sitze. Aber von dort aus bellte das Hündchen recht wirkungsvoll. Nippes war, gerade als Querdenker und Exot inmitten gesitteter Anzugträger, ein Medienliebling. Seine Markenzeichen waren Flanellhemden und eine Lederweste mit vielen Taschen. Reporter in Krisengebieten oder Tierfilmer in der kanadischen Wildnis trugen so etwas. Und eben Nippes, ein Kerl wie von einer Dampfwalze gezeugt, der nie müde wurde zu sagen, dass er sage, was ist. Ganz einfach. »Jeder versteht mich«, rief er Bass tönend in die Kameras und gezückten Notizblöcke, »ich labere nicht lang drum herum, ich bring’s auf den Punkt.« Und dann pflegte er verschmitzt zu lächeln, sodass sich die Anmutung, da rase ein Vierzigtonner ungebremst auf einen zu, in Erleichterung auflöste. Seinen Beritt, so nannte Nippes die Handvoll Landkreise, in denen er Oberwasser gewonnen hatte und in denen niemand an ihm vorbeikam.

 

Kritiker kürzten seine Gruppierung »Für Recht und Staat« vorzugsweise mit »FRuSt« ab und lächelten dabei süffisant, als ob sie einen besonders smarten Witz gemacht hätten. Man munkelte auch, der Stern der Wählergemeinschaft sei am Sinken, allzu durchschaubar die Inhaltsleere, allzu wankelmütig das Personal. Eifeler fallen nur einmal auf so etwas herein, hieß es. Timotheus Nippes selbst sah das anders, keine Spur von Unlust, im Gegenteil. Wenn er auf der Bühne eines Dorfsaales stand, dann rief er in ein Meer zu ihm emporgereckter Gesichter, nannte sich und seine Anhänger »Wir Rechtsstaatlichen«.

»Du hast es versprochen«, sagte Werner Baltes und nestelte vor dem Kleiderschrank an seiner Krawatte herum, »in guten wie in schlechten Zeiten.« Er legte derlei männliches Accessoire nur zu besonderen Anlässen an, und diese besonderen Anlässe pflegte er zu hassen, wie zum Beispiel Neujahrsempfänge. Ihn erwartete nur Blabla und Selbstbeweihräucherung abgehalfterter Politgrößen, davon war er überzeugt. Ausgerechnet Timotheus Nippes auf der Rednerliste zu finden hob seine Laune nicht. Umso wichtiger war es, dass Vera ihn begleitete. Nur mit ihr an der Seite würde er die drei Stunden Alkohol und Plattitüden überstehen, zusammengepfercht mit an die zweihundert anderen zum Zuhören verdonnerten Opfern.

Aber seine Gattin zierte sich. »Ich würde nur gehässige Kommentare abgeben«, rief sie ihm aus dem Wohnzimmer zu.

»Die sind mein Lebenselixier, das weißt du doch.«

»Du würdest dich für mich schämen. Stell dir vor, neben uns säße einer dieser Frusttypen und ich würde Witze machen über rechtsstaatliche Trolle.«

»Ich würde dich dafür lieben.«

»Tust du das denn nicht auch, ohne dass ich mitkomme?«

»Das müsste ich mir noch überlegen.« Er gab es auf, einen ordnungsgemäßen Knoten anstatt einer Geschenkschleife binden zu wollen, und riss sich die Krawatte vom Hals. Betont legere Kleidung wäre seine Art, den Protest gegen diesen verlorenen Abend auszudrücken. Er tauschte die Hose mit Bügelfalten gegen eine Jeans. Gerade in unliebsamer Umgebung sollte man sich in seiner zweiten Haut wohlfühlen, fand er.

Eine Stunde später saßen beide im überfüllten Saal des Willibrordsbräu und wussten, es hätte nicht schlimmer kommen können. Zum Entree der prominenten Gäste und passend zur Qualität der Raumluft erklang Helene Fischers »Atemlos« blechern aus einem Lautsprecher. Sie waren hoffnungslos eingekeilt in der Mitte einer langen Stuhlreihe, kein vorzeitiges Entkommen möglich, ohne zig Leuten auf die Füße zu treten oder sie zum Aufstehen zu nötigen, was die Blicke aller auf sie gelenkt hätte. Gegenüber von Vera saß ein kahlköpfiger Geistlicher mit weißem Kollar und silbernem Kreuz am Revers seines schwarzen Jacketts, das bei genauerem Hinsehen abgetragen wirkte. Zu einem Gespräch schien er nicht aufgelegt, alles an seiner hageren, fast ausgehungerten Gestalt signalisierte Abwehr von nichtsnutzigem Geplauder. Vera war froh. Kein Small Talk, umso besser. Sie hätte nicht gewusst, worüber sie mit einem Priester reden sollte. Unverfängliches über das Wetter oder lieber Provokantes über die eingeschüchterten Kinder, die sich nun als Erwachsene zu Hunderten meldeten, um ihr seelisches Leid zu schildern, das ihnen von Männern wie diesem angetan worden war? Oder über die Nichtwahrnehmung von Frauen im Kirchenapparat? Dazu hätte sie viel beitragen können, sie verstand sich als Feministin reinsten Wassers, ihrer Ehe zum Trotz oder gerade deswegen, denn ihren Werner hatte sie zuvor auf Herz und Nieren geprüft. Aber dieser Kleriker, der mit mahlenden Kiefern in ein leeres Glas vor ihm auf den Tisch starrte, war offenkundig vollkommen ungeeignet für Diskussionen. Also schweigen.

Neben ihrem Ehemann hatte ein smarter blonder Brillenträger Platz genommen, Hemd, Hose und leger um den Hals geschlungener Schal in Anthrazit. Man hätte ihn für ein weitsichtiges Double vom FDP-Chef halten können. Baltes wusste jedoch, der Typ gehörte zu einer anderen Fraktion. Zu der von Timotheus Nippes. Er hatte ihn schon bei mehreren offiziellen Anlässen gesehen, einer dieser umtriebigen Leute, an denen man in der Eifel nicht vorbeikam. Immer dieselben Gesichter, zu jeder Gelegenheit. Beide griffen gleichzeitig zu einer der Gourmet-Mineralwasserflaschen, die zu kleinen Grüppchen portioniert auf den Tischen standen.

»Oh, sorry, bitte nach Ihnen«, meinte der Lindner-Doppelgänger und lächelte Werner Baltes an, der wie beim Simultanturmspringen selbiges tat und sagte. Beinahe hätten sie sich beim Griff nach der Flasche getätschelt. Als hätte er auf eine heiße Herdplatte gefasst, zog der Kommissar seine Hand zurück.

»Lamm, Doktor Julian Lamm«, fasste sich der andere schneller und stellte sich mit einer im Sitzen angedeuteten Verbeugung vor.

»Äh, ja, ich weiß, Baltes mein Name, Kripo.«

»Was, Sie kennen mich schon? Ich habe doch gar nichts getan«, witzelte Lamm. Die Flasche war nun unbestritten seine, erneut langte er zu, öffnete den Verschluss mit einem Zischen und goss sich ein, bis sein Glas randvoll war. »Und für das hier alles kann ich schon dreimal nichts … Auch einen Schluck?« Gönnerhaft präsentierte er die offene Flasche wie eine Trophäe.

Baltes nickte und schob sein Glas rüber. Lamm schenkte ihm das Glas halb voll ein, die Flasche war leer. Der Kommissar merkte, dass er Durst hatte. Ganz plötzlich. »Wofür können Sie nichts?« Ihm fiel selbst auf, dass seine Stimme vorwurfsvoll klang.

Was jedoch offenbar keinen bleibenden Eindruck hinterließ. »Ich denke, mein Parteifreund stellt gleich ein neues Müllkonzept vor. Und ich bin dafür da, es umzusetzen. Ich bin seit ein paar Tagen der Chef von ›Emma‹. Wie die Jungfrau zum Kinde, so ungefähr«, sagte Doktor Lamm munter. »Eigentlich bin ich ja Literaturwissenschaftler …«

»Aha. ›Emma‹?«

»Die neue Eifel-Mosel-Müllabfuhr.«

»Ach so, das da.« Baltes hatte von einem neuen Entsorger gehört, der gegründet worden war, wohl um der internationalen Müllmafia Paroli zu bieten. Er und Vera waren in Neapel gewesen, hatten die von halb verhungerten Hunden zerfledderten Müllhaufen in den Seitenstraßen gesehen und waren schnell weitergegangen, den deutschen Hang zum Perfektionismus lobend, den sie selbst nur halbherzig auslebten. Fast nie dachte einer von ihnen daran, bei den Joghurtbechern den Aludeckel abzureißen, damit er vom Plastik getrennt verarbeitet werden konnte. Außerdem mogelte Baltes alles Mögliche in den gelben Sack, was nicht hineingehörte, Einweggabeln oder Zahnstocher inklusive. Die Altpapiertonne blieb jeden Monat halb leer, weil er die gedruckte Ausgabe des Mosella-Couriers im Kommissariat zu lesen bekam und ansonsten online auf dem Laufenden blieb. Vera wollte sich sowieso nicht mehr der Informationsflut aussetzen und hatte vor geraumer Zeit beschlossen, nur noch Bücher zu lesen. Hardcover. Und wenn sie ein Buch ausgelesen hatte, stellte sie es in den offenen Bücherschrank in Dauns Stadtmitte. Sie selbst nahm fast nie etwas heraus, zu viel Konsalik und Utta Danella oder Ratgeber für Probleme, die sie garantiert nicht hatte. Im Restmüll der Baltes’ fand sich ein Sammelsurium, für das Werner seine Frau verantwortlich machte und Vera ihren Mann. Irgendwas war immer drin, aber keiner hatte einen Plan, was warum wie da hineingeworfen wurde. Und alles, was in der Küche abfiel, landete im Schnellkomposter im Garten. »Wir haben mit Müll nicht viel zu tun. Ist das so wichtig, dass sich die Neujahrsansprache darum dreht?«

»Mit Müll fängt man Mäuse …« Lamm drehte sich zum Rednerpult so, dass der Kommissar sein Gesicht nicht sehen konnte.

Timotheus Nippes ging auf das Pult zu, klopfte dabei jedem auf die Schulter, der in der ersten Reihe saß, und schien zu schwanken wie ein tapsiger alter Seebär an Deck bei harter Dünung. Applaus brandete auf, auch Baltes überredete sich zu ein paar verhaltenen Klatschern. Doch am Pult, leicht erhöht über dem Publikum, entfaltete Nippes die volle physische Wucht, für die er berühmt war. Er zerrte das Mikrofon in die passende Position, klopfte drauf, sodass es durch den Saal krachte. Er war einer von ihnen, einer von denen, die sich nicht zu fein waren, mit Schweißflecken in den Achselhöhlen vor sie zu treten und zu sagen, was gesagt werden musste.

»Wir haben viel zu tun«, bellte er. »Wir sind hier ins Hintertreffen geraten, schon lange, hier in unserer Eifel, das müssen wir ändern. Wir müssen das Steuer rumreißen, sage ich euch, und das geht nicht mit Heiteitei und Eiapopeia!«

Vera lehnte sich an ihren Mann. »Wo er recht hat, hat er recht«, raunte sie grinsend in sein Ohr, »und es geht nicht mit Schickimicki und erst recht nicht mit Larifari.«

»Und ich füge hinzu: Es geht nicht mit Schickimicki!«

Baltes tätschelte das ehefrauliche Knie. »Hast du seine Rede geschrieben?«

»Pssst!«, machte jemand.

Sie schüttelte den Kopf. »Keine Sorge … Ghostwriterin werde ich erst mit Altersdemenz. Aber eine solche Rhetorik, die kann sich auch ein Schimpanse merken.«

Lamm beugte sich an Baltes vorbei zu Vera. »Unterschätzen Sie unsere nächsten Verwandten nicht. Versuche haben ergeben, dass die besser Memory spielen als wir alle.«

»Schschscht …«, kam es aus einer anderen Ecke.

»Mögen Sie Ihren Parteifreund nicht?«, fragte Werner Baltes.

»Ach, wissen Sie … Gleich wird’s spannend. Hoffe ich doch.« Lamm federte auf seinen Sitz zurück und schaute, als wäre er live bei »Verstehen Sie Spaß« und kenne als Einziger die Finte.

»Großes haben wir angestoßen, ich sage, Großes!«, schallte es vom Rednerpult. Nippes schwitzte jetzt auch auf der Stirn. Sein Blutschwamm glühte rot. »Wir gehen in eine neue Ära des Umweltbewusstseins. Hier vor Ort, hier bei den Menschen!«

»Wo denn sonst?«

»Vera, sei doch nicht immer so verdammt logisch.«

»Das sagt ausgerechnet ein Kommissar?«

»Freidehsforfjutscha war gestern«, lief Nippes zur vollen Form auf, »wir haben die Antwort, wir sind die Antwort, für die Eifel, in der Eifel!«

»Immerhin ist er noch räumlich gut orientiert«, meinte Vera. Lamm und Werner Baltes grinsten. Sie machte ein Funkeln in den Augen des Geistlichen aus, der ihr gegenübersaß, ansonsten blieb der Mann nach wie vor reglos.

»Unsere Antwort ist ›Emma‹!« Eine Rückkopplung schrillte durch den Saal, ein kollektives Stöhnen folgte. Nippes bog das Mikro etwas zur Seite, das unerträgliche Pfeifen hörte auf. »Mit der Eifel-Mosel-Müllabfuhr läuten wir eine ganz neue Ära ein. Wir verbinden Ökonomie und Ökologie, wir sind die Zukunft, meine Damen und Herren, meine lieben Freunde, wir!« Er reckte den rechten Zeigefinger empor und hatte mit weit aufgerissenen Augen einen verheißungsvollen Gesichtsausdruck angenommen. »Niemand von euch wird noch eine stinkende und klebrige Mülltonne voller Ungeziefer im Hausflur stehen haben. Diese Zeiten sind vorbei, liebe Freunde, ja, ich sage euch, sie sind vorbei!« Nippes breitete die Arme aus, zeigte die feuchten dunklen Stellen seines Hemdes und krachte mit der rechten Hand ans Mikro. »Wir machen Abfall zu einem Erfolg, zu einem sauberen Erfolg. Wir denken an die Zukunft, wir machen Zukunft. Gerade auch … und das sage ich euch … gerade auch in Zeiten des demografischen Wandels. Jedes Dorf, jede Straße, jede Stadt bekommt supersaubere Sammelstellen für Abfall. Für euren täglichen Küchenabfall. Keine Oma muss mehr mit Besen und Gartenschlauch ihre Tonne reinigen, keine Oma muss sie bei Schnee und Eis zur Straße schleppen, keine Oma muss jeden Cent ihrer kleinen Witwenrente dreimal umdrehen, nur um ihre Gemüsereste loszuwerden. Denn das Schönste: Das ist viel billiger, ja viel billiger als eure Tonnen voller Maden, die ihr da jetzt im eigenen Garten stehen habt oder in der eigenen Garage.« Er machte eine Pause, in Erwartung von Beifall, erntete jedoch zunächst Gemurmel, bis dann doch jemand klatschte. Werner Baltes sah zur Seite: Es war Lamm. Andere folgten seinem Beispiel, erst zögerlich, dann mitgeschleift von den Einzelnen, den Vielen, der hundertköpfigen Menge.

 

»Wovon redet Nippes eigentlich?«, brummte Baltes. »Bei uns stinkt nichts. Und der ist doch Landwirt. Was hat der gegen ein bisschen Geruch?« Er wurde ungeduldig. »Wann kommt er endlich zum Punkt?«

Lamm beugte sich zu ihm. »Ganz im Vertrauen, Herr Kommissar, ich glaube nicht, dass das neue System reibungslos durchgeht. Die Leute mögen keine Veränderungen.«

»Ach, wer soll sich über solchen Kleinkram schon aufregen«, schaltete sich Vera ein, »es ändert sich sowieso immer alles. Ihr Parteifreund versucht wohl nur, mit Nebensächlichkeiten davon abzulenken, dass er Klimakrise, Flüchtlingselend, Terrorismus und so nicht in den Griff kriegt.«

Lamm sah sie über den Rand seiner Brille an. »Ihnen fällt schon auf, gute Frau, dass Sie da von einer kleinen regionalen Wählervereinigung etwas viel verlangen?«

»Na und? Alles fängt klein an. Hat Ihr Parteifreund sonst noch was zu sagen?« Sie setzte sich kerzengerade auf und bemerkte, dass der Geistliche ihr aufmerksam in die Augen sah, als hätte er sie als Seelenverwandte ausgemacht.

»Die Müllgebühren werden deutlich sinken, das sage ich euch, so wie ich hier stehe«, fuhr Nippes mit tiefem Bass fort, wie ein gütiger Nikolaus. »Wir reden hier über echtes viereckiges Geld. Und wir denken an die alleinerziehenden Mütter, die nun mehr in der Tasche haben. Aber …« Nippes machte eine horizontale Handbewegung, als wolle er sein Publikum segnen. »Ich sage: Ja, ja, wir müssen auch an die Jugend denken! Viele von euch wissen, dass mir die Jugend besonders am Herzen liegt.«

In den Priester kam Bewegung. »Das achte Gebot, er sollte es nicht allzu weit auslegen«, sagte er und schwieg sofort wieder, ganz konzentriert auf den Redner, bevor Vera etwas entgegnen konnte. Sie hätte gewettet, dass Nippes ein eifriger Kirchgänger und vorbildlicher Katholik war. Aber offenbar war auch er nicht unfehlbar.

»Die Jugend«, seufzte Nippes nun, »die Jugend braucht Orientierung. Auch und gerade in der Eifel, auch und gerade hier, wo der Zusammenhalt noch intakt ist, wo ein Wort noch etwas gilt. Darum, meine lieben Freunde, darum haben meine Rechtsstaatlichen und ich, wenn ich das so bescheiden sagen darf …« Er bebte kurz auf, ein Kichern, ein Lächeln, ein Lachen, Werner Baltes wusste nicht genau, was es sein sollte. »… etwas ganz Besonderes auf den Weg gebracht. Wir – und das meine ich wirklich – wir bieten den Jugendlichen an, gemeinsam mit den Pfarreien, dass sie ein Schnupperpraktikum auf unseren Höfen machen können. Tagsüber richtige Arbeit, danach Gesprächsrunden. Einmal über alles reden können, darum geht es doch. Und was tun! Runter vom Sofa, sage ich nur, rein in die Äktschn. Trecker fahren, auf dem Acker. Auch die Mädels, ja, die natürlich auch! Und im Wald helfen, das Totholz fortzuschaffen. Ja, unsere geschundenen Wälder brauchen Hilfe. Die bekommen sie nun. Von den Jugendlichen, die unsere Jugendämter betreuen. Da braucht niemand mehr Freidehsforfjutscha, wir machen das ganz konkret, sage ich euch, ganz konkret! Ich sage das auch als Bauer, ich bin ja auch ein Bauer, wie ihr wisst. Ich weiß, wie und wo man anpacken muss. Und jetzt wird angepackt! Auch von den jungen Leuten.« Er selbst packte an, rüttelte am Rednerpult, während abermals Applaus aufbrandete, diesmal ohne Zögern. »Ich danke euch, meine lieben Freunde, ich danke euch. Auf in ein neues Jahr, auf in ein gutes Jahr. Wir Rechtsstaatlichen, wir schaffen das, dank euch.« Er trat ab, schweißnass, lächelnd, zufrieden.

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