Versklavt - Zurück zur Freiheit

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Versklavt - Zurück zur Freiheit
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Angela Finck

Versklavt - Zurück zur Freiheit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

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Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Hallo mein älteres Ich,

oh man, wenn du das hier liest, ist es 10 Jahre her, dass ich es geschrieben habe. Was in dieser Zeitspanne alles passiert, kann ich mir gar nicht vorstellen. Das ist noch so weit weg. Woher soll ich jetzt schon wissen, was bis dahin aus mir geworden ist?

Ich hoffe nur, dass ich an deiner Stelle sagen kann, die langen Ferien nach dem Abi genossen zu haben. Die letzten Wochen in wahrer Freiheit - bevor, mit meiner Ausbildung, der Ernst des Lebens losgeht.

Na wenigstens ist jetzt schon geklärt, dass ich nicht im Kostümchen auf der Arbeit erscheinen muss. Die finde ich so ätzend; da sieht man aus wie eine alte Frau.

Vielleicht bist du jetzt auch schon verheiratet und hast Kinder - wer weiß schon, wohin mich unser Weg führen wird. Wenn es nach mir ginge, würdest du, in deiner Zeit, die ganzen Discos unsicher machen. Ich bin nämlich eine Partymaus - nicht dafür gemacht das Heimchen am Herd zu sein.

Aber egal was du tust, falls du dich doch noch mal verlieben solltest, denk dran, dass es ein Typ ist, der weiß, wie man mit einer Lady umzugehen hat: nicht so wie Tim, dieser Idiot.

Wenn ich mir was für unser Leben wünschen könnte, dann wäre es ein modern eingerichtetes Penthouse in der Stadt und ein schickes Auto: ein rotes Cabrio. Und natürlich ein gutes finanzielles Auskommen. Ich habe schließlich keine Lust darauf jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen, wenn ich mir was kaufen will.

Aber das sind alles nur materielle Dinge. Was ich mir wirklich für uns wünsche ist, dass wir auf keinem Abschnitt in unserem Leben jemals unsere Freiheit verlieren. Dass wir immer glücklich uns sorglos durchs Leben laufen können - mit einem Lächeln auf den Lippen. Dass es uns frei steht, wohin wir gehen und dass es niemanden gibt, vor dem wir zu Kreuze kriechen müssen. Denn ich habe nicht vor mein Leben auf den Knien auszuhauchen – wenn ich sterbe dann stehend!!!

In der Hoffnung, dass es dir bis zum heutigen Tag gut ergangen ist, verbleibt in Erinnerung.

Dein 19-Jähriges Ich.

1

Ich saß auf einer Holzpalette vor unserer Baracke, einem spärlich zusammen gezimmerten Gebäude aus Wellblech und Holz. Ich starrte in die Pfütze unter mir und begutachtete mein Spiegelbild. Es war schwer vorstellbar, dass ich die Person sein sollte, die aus dem Wasser zu mir hoch starrte. Das eingefallene Gesicht mit tiefen Augenringen, dünn und ausgemergelt, wie ein mit Haut überzogenes Skelett. Meine dunkelbraunen Augen hatten jeden Glanz verloren, völlig leer und ausdruckslos. Selbst wenn ich mich zu einem Lächeln durchringen konnte, sah die Fratze im Wasser immer noch gruselig aus. Meine Haare, die mir einst lang, braun und glänzend über den Rücken fielen, waren nun stumpf, verdreckt und verklebt zu einem Knoten im Nacken gebunden. Im Laufe der Jahre war das Haar so nachgewachsen, dass sich nun auch dieser Haarknoten herausgehangen hatte. Das Haargummi war untrennbar mit dem Gewirr auf meinem Kopf verbunden. Ich sah einfach nur aus wie ein Zombie, mehr tot als lebendig.

Ich versuchte mir vor Augen zu führen, wie ich einst gewesen war. Meine Gedanken schweiften ab - ich blickte zurück in die Zeit, in der es mir noch um einiges besser ging.

Ich fand mich auf einer grünen Wiese wieder. Mein Mann, unsere Freunde und ich machten ein Picknick am See. Wir tranken Bier, aßen, auf offenem Feuer, gegrilltes Fleisch; wir unterhielten uns ausgelassen und lachten viel. Es war richtig warm. Der Himmel war hellblau. Der See glitzerte in der Sonne. Wir waren einfach nur sorglos und glücklich. Nichts hätte dieses Glück trüben können. Ich wollte in diesen Gedanken versunken bleiben, denn jetzt spürte ich noch einmal die Wärme der Sonne - ich musste sogar unwillkürlich lächeln.

Allein diese kleine, banale Erinnerung sorgte dafür, dass ich mich besser fühlte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als noch einmal die satten Farben eines Sommers zu sehen. Ich war dieses grau in grau dieser Zeit leid, es war wie ein kalter Herbst mit zu viel Regen. Hier und heute war keine Sonne mehr zu sehen. Blickte ich gen Himmel, war es ständig grau und bewölkt - blickte ich zu Boden, sah ich auch nur ein graues Aschefeld, dort wo einmal eine schöne Grünfläche gewesen war. Die Bäume waren schwarz, kahl und tot. Nie wieder würden sie von einem Blattwerk oder gar Blüten geziert werden. Der Anblick der Welt, die mich umgab, war einfach nur noch deprimierend.

Der beißende Geruch von verbranntem Fleisch und angesengten Haaren stieg in meine Nase und ließ mich ungewollt in die Gegenwart zurückkehren. Der Scheiterhaufen war gerade angezündet worden. Wieder einmal hatten die derzeitigen widrigen Umstände einige von uns dahin gerafft. Ihre Leichen wurden auf einen Haufen geschmissen und verbrannt. Jetzt würde mein Mann, Kai, bald zu mir nach Hause kommen. Er war, wie so häufig, dazu aufgerufen worden sich um die Toten zu kümmern. Vor etwa drei Monaten wurde ihm diese Aufgabe zusätzlich zugeteilt. Nun wartete ich ungeduldig auf seine Rückkehr.

Ich sah Kai schon von weitem; mit gesenktem Kopf kam er auf mich zu. Die Zeichen der Zeit hatten auch bei ihm Narben hinterlassen. Hauptsächlich Seelische. Auch er hatte abgenommen. Allerdings verarbeitete sein Körper die ehemaligen Fettzellen zu Muskeln, dass lag an den körperlichen Arbeiten, welche er hier zu verrichten hatte. Zusätzlich trainierte er regelmäßig, wodurch er ein noch breiteres Kreuz bekommen hatte. Nun hatte er die Statur eines jungen Gottes. Ach, wenn er sich nur rasieren könnte, dachte ich bei mir. Sein Gesicht hatte ich schon seit Jahren nicht mehr richtig gesehen, da nun ein Vollbart, das einst hübsche Gesicht zierte. Doch dies hatte nur wenig Bedeutung, angesichts der Tatsache, dass er seine geradezu ansteckende Fröhlichkeit verloren hatte. Damals hatte er immer einen Witz auf den Lippen; er war immer dazu in der Lage mich zum Lachen zu bringen, selbst wenn es mir mal nicht so gut ging. Heute sprach er eher selten. Selbst er, der allem eine positive Seite abgewinnen konnte, hatte die Hoffnung verloren.

 

Ich stand auf, ging ihm entgegen und schloss ihn zur Begrüßung in die Arme. Es fühlte sich immer noch gut an. Ein kurzer Moment der Zufriedenheit. Kai gab mir einen Kuss auf die Stirn und wir gingen gemeinsam, uns an den Händen haltend, in unsere Baracke.

Ich sah mich erneut in der Baracke um. In der Mitte war eine Feuerstelle, die gleichzeitig zum Kochen und zum Heizen genutzt wurde. Daran stand meine Schwester Anna, auch sie hatte ihre einstige Schönheit verloren. Ihr Körper ausgezehrt. Das Gesicht eingefallen, ihre Haare hingen stumpf, dreckig, und strähnig herunter. Damals, kurz vor dieser Zeit, hatte sie sich die Haare blondieren lassen. Jetzt war sie zweifarbig: oben einen kinnlangen Ansatz in ihrer dunklen Naturhaarfarbe, die Längen in einem, mittlerweile, hässlich dreckigem wasserstoffblond. Schon öfter hatte ich ihr angeboten, das blond mit einem Messer weg zu schneiden. Doch sie war immer der Meinung, dass ihr Naturhaar noch zu kurz wäre.

Neben der Feuerstelle stand ein Tisch mit sechs Stühlen, so klapprig, dass sie jeden Moment zusammenfallen konnten. Quer durch den Raum waren unter der Decke Seilzüge gespannt – an ihnen hingen alte Duschvorhänge. Sie waren von unseren Vorgängern angebracht worden. Hinter diesen improvisierten Wänden befanden sich unsere Schlafbereiche – dreckige, durchgelegene Matratzen und eine dünne Decke. Ich fragte mich erneut, wie es so weit kommen konnte. Wieder schweiften meine Gedanken ab, zurück zu dem Tag, an dem alles begann.

2

Ich sah unsere alte Wohnung mit dem bequemen Sofa, der modernen Anbauwand und den vielen Blumen. Ich sah die hochmoderne Küche, die ich einst besessen hatte und das große, bequeme französische Vollpolsterbett. All die schönen Dinge, die ich jetzt nicht mehr hatte. Ich sah mich, wie ich mich für Heinz‘ Grillparty zurechtmachte und wie Kai im Bad stand und sich rasierte. Das waren die letzten Minuten in unserer Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt hätten wir nicht gedacht, dass wir unser Zuhause sobald nicht wieder sehen würden.

Es war ein wunderschöner Abend, als wir zur Grillparty unseres Vermieters Heinz, am anderen Ende der Stadt, gingen. Seit wir in Heinz‘ Sechs-Familien-Haus eingezogen waren, war es Tradition, dass er seine Mieter an jedem ersten Samstag im September zu sich nach Hause, zu einem Grillfest, einlud. Wir saßen auf seiner Terrasse in seinem Garten. Seine Blumen blühten in den schönsten Farben und sie dufteten sehr intensiv. Es war kein Wunder, das der Garten so gepflegt war. Seit Heinz in Rente war, hatte er seinen Garten in ein Urlaubsparadies verwandelt.

Fast alle Mieter waren da. Jonas, seines Zeichens Hubschrauberpilot bei der Bundeswehr. Er war das Abbild eines Klischees über Soldaten, groß, muskulöser Körper und die Haare kurz geschoren.

Silke und Ben, ein junges Pärchen. Sie wirkten nebeneinander vollkommen unterschiedlich. Sie war sehr offen und lebensfroh und ihr Gesicht strahlte, unter ihrem blonden Kurzhaarschnitt, eine fast ansteckende Fröhlichkeit aus. Ben hingegen war eher hager und in sich gekehrt. Die langen schwarzen Haare hatte er zu einem Zopf gebunden. Immer, wenn ich sah, wie viel er verschlingen konnte, fragte ich mich: Wo steckt er sich das nur hin? Die beiden waren etwas jünger als wir und hatten in Heinz‘ Haus ihre erste gemeinsame Wohnung bezogen. Sie studierte Medizin und er war Systemadministrator.

Meine Schwester Anna war natürlich auch mit dabei. Sie war mit in unser Haus gezogen, nachdem sie ihren Ex-Freund verlassen hatte.

Und dann war da noch Mark. Über ihn wusste ich nicht wirklich viel, er war fast nie zu Hause, daher bekam man ich ihn nur selten zu Gesicht. Er war dürr und blass, irgendwie nie richtig anwesend. Er sprach sehr wenig, und wenn man sich mal mit ihm unterhalten konnte, wirkte er immer sehr nervös. Ich wunderte mich, dass er überhaupt an diesem jährlichen Treffen teilnahm.

Marlene und Ulli waren nicht da; sie waren wieder in Urlaub. Die Zwei sind echt zu beneiden.

Wir unterhielten uns ausgelassen, während Heinz das Fleisch auf den Grill legte. Er war bereits siebzig Jahre alt, doch noch so rüstig, dass man ihn für fünfzig halten konnte. Lediglich die Falten und das weiße Haar verrieten sein Alter.

Das scharf marinierte Fleisch roch unter der Hitze des Grills sehr appetitlich. Ich bekam richtig Hunger. Ich nahm mir etwas Baguette aus dem Brotkorb und bestrich es mit hausgemachter Kräuterbutter. Doch der Genuss, dieses kleinen Häppchens regte meinen Appetit noch mehr an. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis die Steaks und Würstchen fertig waren. Mit verschiedenen Salaten als Beilage genossen wir dieses frisch gegrillte Fleisch. Wir machten uns einen wundervollen Abend mit gutem Wein, Bier und lustigen Anekdoten aus dem Sommer, welchen wir mit diesem Abend verabschiedeten.

Obwohl es langsam dunkel wurde, war es immer noch warm und der Himmel so klar, dass man bereits die ersten Sterne sehen konnte. Plötzlich zogen Wolken auf, es wurde kalt und windig. Zwischen den Wolken erkannte ich kleine, gelbe Lichter und wie aus dem nichts schien ein grell-grün leuchtender Lichtstrahl in Richtung Erde. „Was ist das?“, ich deutete auf dieses ungewöhnliche Himmelsschauspiel. Alle sahen auf um sich anzusehen, was meine Aufmerksamkeit ergattert hatte. Wir rührten uns nicht; starrten mit geöffnetem Mund gen Himmel. Erst hörten wir ein fürchterliches Grollen, die Feuerwehrsirenen ertöten; sie signalisierten Fliegeralarm. Heinz war der Erste, der aus der Starre erwachte. „Los kommt mit!“, rief er.

„Nein, ich will mir das ansehen", erwiderte Ben.

Der Wind wurde stärker, ein erneutes Grollen in der Ferne übertönte den Dauerton der Sirenen. Auch ich war immer noch fasziniert von den Lichtern, die ich am Himmel sah.

„Was auch immer das ist, es wäre nicht gut, wenn wir hier draußen bleiben", redete Heinz auf uns ein.

Die Lichter am Himmel zogen Kreise und kamen langsam aber stetig näher, der grüne Lichtstrahl weiterhin bedrohlich gen Erde gerichtet.

„Los jetzt kommt schon in meinen Bunker.“, Heinz wurde langsam ungeduldig. Anna zog Kai und mich am Arm. Silke tat das Gleiche bei Ben. „Lass mich, das ist fast so wie bei ‚Independence Day’.“, wehrte sich Ben immer noch.

„Ja, und alle, die auf dem Hochhaus standen, um die Außerirdischen Willkommen zu heißen, sind gestorben. Also jetzt sieh zu das du mit in den Bunker kommst!“, Silke wurde richtig laut. Daran erkannte ich, dass Silke in dieser Beziehung die Hosen anhatte. Nun setzte sich auch Ben in Bewegung und man konnte Heinz das, Endlich!, welches er dachte, regelrecht ansehen. Er führte uns in seinen Geräteschuppen und öffnete eine Falltür im Boden. „Geht da runter!“, wies er uns an. Wir stiegen die enge Holztreppe hinab, die in einem kleinen Vorraum mit einer riesigen Stahltür endete. Heinz öffnete diese: „Tretet ein.“ Ehe wir uns versahen, standen wir in einem voll eingerichteten Bunker. Wir mussten uns gerade im Hauptraum befinden, er war relativ groß, in einer Ecke stand eine Eckbankgruppe neben einer kleinen offenen Küche.

„Wow, was ist das hier?“, fragte Ben, jetzt für den Moment vollkommen begeistert von dem, was sich vor seinen Augen erschloss; nicht mehr darüber nachdenkend, was gerade über uns vor sich ging.

Ein gewöhnungsbedürftiges, ansaugendes Geräusch und die Verriegelung der Türschlösser, ließen mich zusammenzucken. Heinz hatte uns alle hier eingesperrt. „Heinz, ist das wirklich nötig?“, fragte ich.

„Vorerst ja. Wir wissen nicht, was dieses Ding da oben ist. Es könnte ein Luftangriff sein. Warum sonst sollten die den Fliegeralarm einschalten?“

„Ach, das waren diese komischen Sirenen", brachte sich Anna in das Gespräch ein.

„Das war mit Sicherheit kein Luftangriff, seit wann haben Bomber solche Lichter?“, wir alle wussten, worauf Ben anspielte, aber das schien uns unmöglich, es ging zumindest über das normale Denken hinaus. So etwas gab es nur im Film, nicht in der Realität. „Davon mal abgesehen war nichts von solch extremen politischen Unruhen in den Nachrichten gewesen", untermauerte Ben seine Vermutung weiter.

„Was auch immer das ist, ich könnte eine Zigarette vertragen", meinte Kai, während er in seiner Hosentasche wühlte.

„Die liegen oben auf dem Tisch", antwortete ich fast verzweifelt. Auch ich sehnte mich jetzt nach der Beruhigung, die diese Mischung aus der Tabakpflanze und diversen Süchtigmachern, zusammengepresst zu einem kleinen Stick, mit sich brachte.

„Da werdet ihr jetzt auch nicht mehr dran kommen, denn solange es da oben nicht sicher ist, geht niemand mehr hier raus", sagte Heinz mit einem sehr bestimmenden Tonfall, der mich für einen kurzen Moment ärgerte. Andererseits wollte er uns ja nur schützen.

„Wie lange werden wir hier bleiben müssen?“, fragte Anna.

„Wie gesagt, so lange wie nötig, im besten Fall können wir morgen wieder hier raus, oder auch erst in ein paar Wochen, aber macht euch keine Sorgen. Mal abgesehen von Zigaretten haben wir hier alles was wir brauchen. Strom, Wasser, gefilterte Frischluftzufuhr. Sogar eine Toilette. Oh, da fällt mir gerade etwas ein.“ Heinz ging an der Küche vorbei und öffnete eine Tür. Er ging hindurch, ließ die Tür hinter sich geöffnet, schaltete das Licht ein. So erkannte ich, dass es sich dabei um einen Vorratsraum handeln musste.

„Ich muss euch leider sagen, dass diese Vorräte für uns alle gerade mal für zwei Monate reichen, wenn wir sie gut einteilen", sagte Heinz, als er wieder in den größeren Gemeinschaftsraum zurückkam.

„Wir wollen doch hoffen, dass es nicht so lange dauert", meinte Silke.

„Wir werden sehen, aber jetzt setzt euch erst mal hin und lasst uns mal hören, was mein Weltempfänger so zu berichten hat. Er schaltete das Gerät ein, nachdem wir alle auf der Bank oder den Stühlen um den Tisch platz genommen hatten. Es war zunächst nur ein Rauschen zu hören; kurz darauf hörten wir eine Männerstimme: „Bitte bleiben sie ruhig und in ihren Häusern, Hilfe ist unterwegs. Bitte bleiben sie auf Empfang und warten sie auf weitere Anweisungen.“ Doch eine weitere Durchsage kam nicht mehr. Es war nichts mehr zu hören außer einem Grollen und fernen Explosionen, über uns auf der Erde. Es schien mir unwirklich, wie in einem Albtraum. Wir spekulierten weiter über die Geschehnisse über uns, doch alles Gerede brachte nichts. Wir konnten nur warten. Warten darauf, dass etwas passierte. Irgendetwas. Doch nichts. Die Ungewissheit, über das, was an der Oberfläche vor sich ging, machte mich fast verrückt. Ich hasste es, eine Situation nicht selbst unter Kontrolle zu haben und völlig der Willkür anderer ausgeliefert zu sein.

Auf der Uhr, die an der Bunkerwand hing, waren gerade einmal 10 Minuten vergangen, doch es fühlte sich wie Stunden an, bis etwas passierte. Ein ohrenbetäubender Knall, die Erde bebte. Ich glaubte, jeden Moment würde der Bunker über uns zusammenbrechen. Was immer das da oben war, es war ganz in der Nähe. Ich hatte Angst. Kai nahm mich und ich Anna in den Arm. Er flüsterte mir etwas ins Ohr. Worte, die nicht nur Anna und mich, sondern auch ihn selbst beruhigen sollten.

So plötzlich es begonnen hatte, so schnell war es auch wieder vorbei. Heinz holte eine Flasche Schnaps und Gläser. Heinz füllte die Gläser. „Hier. Damit wir uns von dem Schreck erholen können.“, er reichte jedem von uns ein Glas. Der Alkohol brannte unangenehm in meiner Kehle, dennoch war es genau das, was ich jetzt brauchte, um mich zu beruhigen. Immer noch zitternd nahm ich mein Handy und versuchte meine Eltern anzurufen. „Das wird nichts nützen", sagte Heinz, „Hier unten hast du keinen Empfang.“ Obwohl mein Handy Heinz’ Aussage bestätigte, wollte ich es nicht glauben. Trotzdem klickte ich mein Telefonbuch durch, bis ich die Nummer meiner Eltern gefunden hatte. Ich wollte doch nur wissen, ob es ihnen gut ging. Doch nichts, nicht mal ein Freizeichen. Ernüchterung, nicht nur bei mir, sondern bei allen Anwesenden. Wir schalteten die Handys aus. Sie hier unten an zu lassen wäre vergeudete Energie. Ich steckte meines wie gewohnt zurück in die Tasche. Sobald ich hier raus bin, versuch ich es sofort noch mal, nahm ich mir vor. Die anderen taten es mir gleich. Jeder von uns hatte irgendwo da draußen noch Freunde und Verwandte gehabt und jeder wollte wissen, was passiert war, ob sie auch irgendwo untergekommen waren und ob es ihnen gut ging. Jedem anwesenden Augenpaar konnte ich die Sorge ansehen.

Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden und Stunden zu Tagen. Die Zeit zog sich wie Gummi in unserem Betongefängnis. Die kahlen, weißen, massiven Wände beengten mich. Der Nikotinentzug machte mich aggressiv und die Isolation machte mich verrückt.

 

Es vergingen Tage, Wochen, ohne genau zu wissen, was dort oben passiert war und niemand wollte es sich so wirklich vorstellen. Das Einzige, was wir von draußen mitbekamen, war grollen ähnlich dem von Explosionen. Zeitweise bebte die Erde noch. Es war keinesfalls sicher auf der Erdoberfläche.

Oft saßen wir im Gemeinschaftsraum am Tisch und spekulierten wir darüber, was die gelben Lichter und der grüne Strahl am Himmel zu bedeuten hatten. Eindeutig hatten wir zu viele Science-Fiction-Filme gesehen, denn die einzige logische Schlussfolgerung, für dass, was wir gesehen hatten, war: Außerirdische. Außer Ben wollte aber niemand so recht daran glauben. Das wäre verrückt, das war der Stoff aus dem Filme und Bücher entstanden – keinesfalls real.

Wir versuchten uns die Zeit mit diversen Brett-, Karten- und Würfelspielen zu verkürzen, die Heinz in seinem Bunker deponiert hatte. Doch bei dem spärlichen Licht, das die Glühbirne, über dem Tisch im Gemeinschaftsraum, spendete, hatte das ganze Szenario eher etwas von einer Kneipenatmosphäre. Nur der Qualm einer oder mehrerer Zigaretten fehlte. Das Verlangen nach einer Zigarette war derzeit fast unerträglich und ich fragte mich, wann es endlich besser werden würde. Wie lange würde es noch dauern, bis der Nikotinentzug nicht mehr an Kai, Ben und mir nagte? Lediglich Mark hatte es noch schlimmer getroffen. Er zitterte vor Nervosität. Er war leichenblass, kalter Schweiß lag auf seiner Stirn und Wahnsinn funkelte in seinen Augen. Zusammengekauert saß er in einer Ecke und stammelte etwas vor sich hin. Auch für einen Nichtmediziner war zu erkennen, dass er einen anderen körperlichen Entzug zu ertragen hatte. Dagegen war leichte Aggression fast schon normal.

Als weiteren Zeitvertreib trainierte Jonas uns in verschiedenen Selbstverteidigungstechniken sowie den Umgang mit einer Waffe, allerdings ohne Munition. „Dieses kostbare Gut sollten wir nicht vergeuden", meinte Jonas, nachdem er Heinz gebeten hatte, eine Waffe aus dem Waffenschrank des Bunkers zu nehmen. Für die Männer stellte es kein Problem dar, denn Jonas hatte durch seinen Beruf, den Umgang mit Waffen gelernt. Kai hatte seine Treffsicherheit bereits mehrmals im Schützenverein bewiesen. Und auch Ben hatte beim Waffentraining im Grundwehrdienst sehr gut abgeschnitten. Neben der Tatsache, dass die Zeit auf diese Weise schneller verging, hatte dieses Training noch einen weiteren Vorteil: Aggressionsabbau. Zudem sollten wir vorbereitet sein uns zu schützen, wenn es an der Zeit war, den Bunker zu verlassen. Wir wussten schließlich nicht, was uns dort oben erwartete.

Nun war ungefähr ein Monat vergangen. Ab und an waren noch Explosionen zu hören. Der Nikotinentzug hatte sich so weit gelegt und im Training hatten wir super Fortschritte gemacht. Es war kaum zu glauben, dass ich es schaffte, meinen Mann niederzuringen. Er hatte es mir etwas leichter gemacht. Dennoch war es vorher unvorstellbar gewesen, dass ich mich, mit meinem zierlichen Figürchen, jemals gegen 110 kg Lebensgewicht durchsetzten könnte. Mittlerweile bereiteten mir die Angriffe und das Verteidigen keine Schmerzen mehr. Anfänglich hatte ich noch bei jedem ausgeteilten Schlag ein lautes „Aua“ von mir gegeben; jetzt war ich schon richtig abgehärtet.

Nachdem wir unsere Sucht überwunden hatten, hatten wir richtig Spaß oder zumindest machten wir das Beste aus unserer Situation. Nur Mark schien immer noch völlig fertig zu sein. Sein Zustand war unverändert, er saß immer noch zusammengekauert in seiner Ecke und stammelte etwas vor sich hin, das sich bei genauem Zuhören etwa anhörte wie: „Ich bin tot!“ Die letzten Tage hatte er sogar das Essen verweigert und eines Abends verlor er komplett die Nerven. Er schrie herum und rannte zum Ausgang des Bunkers. Er zerrte und stieß gegen die schwere Tür: „Ich will raus!“ Ben und Kai versuchten ihn aufzuhalten; ihn wieder zur Vernunft zu bringen, doch Mark schlug um sich. Er war völlig einem unerklärlichen Wahn verfallen. Kai presste Mark gegen die Betonwand und wies ihn an sich zu beruhigen. Doch es hatte keinen Sinn. Mark wehrte sich mit Händen und Füßen und auch seine Wortwahl ließ mehr als zu wünschen übrig. Ich ging zu den beiden. „Lass ihn gehen, es hat keinen Sinn mehr. Er sieht keinen Sinn mehr“, flüsterte ich Kai zu. Kurz darauf kam Heinz und öffnete widerwillig mit dem Schlüssel die Bunkertür um Mark raus zu lassen. Mark stieß Kai zur Seite und stürmte aus unserem unterirdischen Betongefängnis. Sofort schloss Heinz die Tür wieder. Erneut begann die Erde zu beben und wieder war ein lautes Grollen zu hören. Wir waren uns sicher: Wir hatten zugelassen, dass Mark in den Tod lief.

Jetzt war es zwei Wochen her, seit Mark den Bunker verlassen hatte. Wir waren nur noch zu siebent und Heinz’ wurden Vorräte knapp. Zu allem Überfluss hatte sich auch der Notstromgenerator durch die Dauerbelastung abgeschaltet. Kein Licht mehr, nur noch der Schein der Kerzen, deren Flammen sich mit unserem Sauerstoff nährten. Die Stimmung sank rapide. Jeder Einzelne von uns zog sich zurück nur um den anderen keine Dinge an den Kopf zu werfen, die man später bereuen würde. Mehr denn je kam mir der Bunker wie ein Gefängnis vor. Während ich so auf meinem Bett lag, dachte ich darüber nach, ob es noch einen Sinn hatte, länger hier zu bleiben. Hier unten würden wir früher oder später verhungern und was da oben auf uns wartete, wusste niemand von uns. Nur eines war gewiss: Seit etwa drei Tagen waren keine Explosionen mehr zu hören; die Erde hatte nicht mehr gebebt.

Ich sehnte mich danach wieder einmal frische Luft zu atmen, den Himmel zu sehen, das Zwitschern der Vögel zu hören. Ich wollte, wenn ich schon sterben musste, als freier Mensch sterben. Nicht als Gefangene in diesem Loch.

„Es wird Zeit, dass wir den Bunker verlassen, und sehen, was da oben auf uns wartet. Vielleicht findet über uns wieder das ganz normale Leben statt und wir kauern hier und warten darauf früher oder später den Hungertod zu erleiden", schlug ich bei unserem kalten Mittagessen, den anderen vor.

„Da oben erwartet uns auch nur der Tod, wir sind wahrscheinlich die einzigen Überlebenden", gab Ben gereizt zurück.

„Jetzt komm mal wieder runter", sagte ich ruhig, „Natürlich, das mit dem normalen Leben ist wahrscheinlich mehr als übertrieben von mir, muss ich zugeben. Aber wie viele Action und Endzeitfilme hast du schon gesehen? Du bist doch derjenige von uns der immer daran, glaubt, dass es ein Happy End gibt. Und in jedem von diesen Filmen, die ich gesehen habe, gab es immer mehr als eine Gruppe überlebende die sich gegen dieses Elend auflehnten, das sich über die Menschheit gelegt hatte.“

„Der Tod erwartet uns so oder so, ob hier unten oder oben. Aber auch ich bin dafür, dass wir uns aufmachen und vor unserem Tod wenigstens noch ansatzweise herauszufinden, was passiert ist“, meinte Jonas.

„Was wäre das Leben ohne ein wenig Abenteuer? Ich bin dabei“, sagte Kai zustimmend. Auch Anna stimmte zu. Lediglich Ben und Silke zögerten noch. Ben wirkte nachdenklich, vermutlich versuchte er sich jetzt gerade alle Filme in Erinnerung zu rufen. Er grinste: „Gut ich komm mit.“ Erst jetzt stimmte auch Silke zu.

Heinz stand auf und ging in Richtung Vorratsraum. „Ich bin zu alt für solche Abenteuer. Ich bleibe. Macht euch keine Sorgen, was aus mir wird, ich habe für mich schon einen Plan.“, er öffnete den Waffenschrank und brachte jedem von uns ein Gewehr und Munition.

„Bist du sicher, dass du hier bleiben möchtest?“, fragte Jonas.

„Ja, ich bin euch nur eine Last und ich habe schon so viel Leid in meinem Leben gesehen, da muss ich nicht noch mehr erleben", antwortete Heinz ruhig. Daraufhin gab er Jonas den Schlüssel zum Waffenschrank und zum Bunker. „Falls ihr Waffennachschub braucht.“

Wir verabschiedeten uns von Heinz, mit dem Versprechen wieder zu kommen, wenn wir uns über die Lage in der Stadt im Klaren waren. Heinz nickte und schloss jeden von uns noch einmal in die Arme.

Wir stiegen hinauf, in das, was einmal Heinz’ Garten gewesen war. Unsere Augen mussten sich erst wieder, nach der langen Zeit im relativ dunklen Bunker, an das Tageslicht gewöhnen. Es war kalt. Es musste jetzt Mitte Oktober sein. Doch von einem goldenen Oktober war nichts zu sehen. Als ich meinen Augen endlich wieder trauen konnte, musste ich feststellen, dass es hier draußen irgendwie dunkel und grau war. Das lag an dem riesigen Wolkenfeld, welches über uns ragte. Aber auch daran, dass der einst schöne, blühende Garten, völlig verdorrt war. Über alles hatte sich ein grauer Aschefilm gelegt. Auch Heinz’ Haus war nicht mehr strahlend weiß und einladend sondern grau und baufällig. Riesige Risse in der Fassade; die Fensterscheiben eingeschlagen; einige Dachpfannen lagen zerbrochen auf dem Boden. Die Gartenstühle waren quer im Garten verteilt. Dort wo das restliche Fleisch liegen geblieben war, welches wir vor einigen Wochen noch gemeinsam grillen wollten, war nur noch ein nach Fäulnis stinkender Madenhaufen. Der Tisch, auf dem wir unsere Zigaretten zurückgelassen hatten, war umgekippt und unsere Zigarettenschachteln waren nirgendwo mehr zu finden. Mark musste sie mitgenommen haben. Ich war so weit vom Nikotin entwöhnt, dass es mich nicht störte, nur Kai ärgerte sich ein wenig darüber. Mein zweiter, etwas dickerer Pullover, lag auf dem Terrassenboden unter dem Pavillon. Ich hatte ihn für den Fall das es abkühlte zur Grillparty mitgebracht. Der Pullover war staubig, daher schlug ich ihn ein paar Mal in den Wind, ehe ich in mir überzog. Jetzt war mir schon um einiges wärmer. Auch Silke und Anna fanden ihre Strickjacken, die sie mitgebracht hatten, in einem der Büsche. In der Zeit, die wir in völliger Isolation verbracht hatten musste es sehr stürmisch gewesen sein.

Langsam gingen wir durch das, vom Staub befallene, Haus. Es sah richtig herunter gekommen aus, nicht so als hätte hier noch vor knapp anderthalb Monaten noch jemand friedlich gelebt - eher als würde es schon seit Jahren leer stehen. Im Staub auf dem Boden sahen wir kleine Rattenspuren. Wir gingen in die Küche. Kai drehte den Wasserhahn auf, kein Wasser. Er betätigte die Lichtschalter, kein Licht, kein Strom.