Charlys Sommer

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

When Will I See You Again – The Three Degrees

Gereon schaute auf die Uhr und sprang die letzten vier Stufen mit einem Satz hinunter. Er war spät dran. Zügig umrundete er den braunen Transporter, als sein Blick aufs Kennzeichen fiel. „CAT 2014.“

‚Zufall?’ – Er blickte zum Neubau zurück, zögerte, sah erneut auf die Uhr und stieg ins Auto. ‚Nachher, beim Richtfest’, sagte er sich.

***

Bei den nächsten Terminen war er unkonzentriert und hibbelig. Schließlich setzte er sich aufatmend in den Porsche. Am Neubau erwartete ihn jedoch eine herbe Enttäuschung.

Der Bus war weg.

Und die anwesenden Männer der verschiedenen Gewerke schwiegen sich auf seine vorsichtigen Nachfragen hin auffällig eisern aus.

Ridin’ Easy with the Sun – Sons of the San Joaquin

Charly bog in ihre Einfahrt, parkte den Bus vor der Scheune und sprang aus dem Auto. Ihr erster Weg führte ums Haus. Amadeus, der sonst das Empfangskommitee auf dem Sims des Küchenfensters stellte, war nirgends zu sehen. An der Koppel erwartete sie eine Überraschung. Beatrix und Peter standen am Zaun, dahinter trabte nervös der Schimmel auf und ab. Der Hund lag zwischen den beiden und beäugte Charly aufmerksam.

‚Das erklärt Amadeus‘ Abwesenheit.’

Auch die anderen Pferde vom Transport waren auf zwei Koppeln verteilt, fünf unter den alten Obstbäumen in Peters weitläufigem Garten, der Rest auf der Bachkoppel vorm Waldrand.

„Wir haben sie schon rübergebracht. Der Doc war grade da und einige Helfer. Ich hoffe, das ist ok?“, erkundigte sich Beatrix. „Es sind alle gesund, entwurmt und geimpft haben wir sie trotzdem. Der Hengst verträgt sich auch gut mit deinen Tieren.“

„Passt schon. Ich bin ganz froh, jetzt nicht noch fremde Rösser he­rumführen zu müssen“, antwortete sie und lehnte sich mit verschränkten Armen auf die oberste Latte des Koppelzaunes. Das Holz war rissig und rau, aber noch sonnenwarm. „Habt ihr Amadeus gesehen?“

Peter deutete zum Apfelbaum. Dort saß der Kater in einer Astgabel, seine grünen Augen leuchteten misstrauisch durchs Laub und die weiße Schwanzspitze kräuselte sich aufgeregt hin und her. Charly ging zu ihm und hob ihn herunter, behielt ihn jedoch im Arm. Als sie zu den anderen zurückkehrte, knurrte er missbilligend und krallte sich in ihre Weste. Der Hund sah aufmerksam zu ihnen hoch, rührte sich aber nicht.

„Du wirst dich mit ihm anfreunden müssen, Amadeus, oder zumindest abfinden“, sagte sie zum Kater, trug ihn dann zur Haustür, ließ ihn hinein und kehrte mit einer Decke, einem Sack Hundefutter und zwei Schüsseln zurück. Sie deponierte die Decke neben der Futterkiste, füllte eine Schüssel mit Wasser, die andere mit Futter und stellte sie daneben.

„Ich hoffe, es gefällt dir hier, Hund. Demnächst überlegen wir uns einen Namen für dich. Und für deinen großen Kumpel.“

Peter schmunzelte. „Der wird sich bald wie zu Hause fühlen. Ich schau morgens und abends nach den Pferden, damit du nicht soviel extra Arbeit hast.“

„Danke“, lächelte sie zurück. „Ist mir ganz recht, ich werde die nächsten Wochenenden unterwegs sein. Ach, und am Donnerstag bleibe ich über Nacht weg. Ich besuche meine Mutter“, erklärte sie schuldbewusst.

Beatrix lachte. „Mach dir keine Sorgen. Ich bin auch noch da. Nach deinen Pferden zu schauen, kriegen wir so eben hin, und einen Haus- und Hofhund hast du jetzt auch, der ungebetene Besucher fernhält.“

Peter legte den Kopf schief. „Hoffentlich wagt sich überhaupt noch jemand her. Charly ist ein bisschen jung fürs Einsiedlerleben.“

Sie zuckte die Schultern. „Ich kann keinen herbeizaubern.“

Sie trennten sich mit einem kurzen Gruß.

***

Charly baute die Batterie in die Suzuki, fütterte Amadeus, der im Haus schmollte, machte sich selbst etwas zu essen und setzte sich damit auf die Terrasse, um den Pferden zuzusehen.

Ihre Gedanken lungerten unbehaglich oft in der Nähe eines gut aussehenden, Porsche fahrenden jungen Mannes herum.

Nachdem sie das Geschirr ins Haus gebracht hatte, holte sie Napoleon von der Koppel, putzte und sattelte ihn und ritt Richtung Aussichtsturm. ‚Napoleon ist zwar kein nervöses Pferd, aber vor mich hinträumen kann ich nicht. Das ist ganz gut so.’

Who Is She – Patrick Doyle

„Ja, sicher bewege ich Flori für dich.“ … „Nein, das wird mir nicht zu viel.“ … „Ehrlich gesagt, kommt es mir ganz recht.“ … „Soll ich vorher bei dir vorbeikommen?“ … „Ganz sicher?“ Gereon lauschte dem Tohuwabohu am anderen Ende der Leitung.

‚Was ist bei meinem Schwesterchen nur wieder los? Wer’s woas, werd’s wiss’n,’, dachte er ‚vielleicht erzählt sie es mir später.’

„Ok, dann schau ich nachher bei dir rein.“ Kopfschüttelnd unterbrach er die Verbindung, ließ den Porsche im Hof stehen, hetzte ins Haus, zog sich um, wieder landeten die Kleidungsstücke verstreut im Haus und markierten seinen Weg durch die Wohnung, dann sprang er in Reitklamotten ins Auto und schoss zurück auf die Straße.

Der Chef des Reitstalls erwartete ihn mit der geputzten, gesattelten und warm gerittenen Florentine, er brauchte nur noch in den Sattel zu steigen. Zügig ritt er zum Aussichtsturm hoch. Er hatte Hunger und die kleine Ausflugsgaststätte dort bot gutes Essen an.

Am Anbindebalken stand bereits ein großer Brauner und brummelte ihnen freundlich entgegen. Er band Florentine mit etwas Abstand neben ihm an, klopfte beiden Pferden den Hals und setzte sich im Biergarten so, dass er sie im Blick hatte. Prüfend musterte er die anderen Gäste, einige ältere Wanderer, niemand, der als Reiter zu dem Braunen passte.

Er bestellte ein Weizen, alkoholfrei, und während er aufs Essen wartete, entspannte er sich und ließ seine Gedanken wandern. Aus dem Räucherofen quoll weißer, verheißungsvoll duftender Rauch und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sein Magen knurrte. Die Bedienung war flott und bald stand die hier obligatorische Räucherplatte nebst Obazdn und Brezn vor ihm.

Über dem Essen vergaß er kurzzeitig die Pferde, bis er bei ihnen eine Bewegung wahrnahm. Ein Mädchen, ‚Nein, eine junge Frau’, korrigierte er sich, hatte den Braunen losgebunden und sprach nun mit Florentine, die gegen die Entführung ihres Kameraden protestierte. Beruhigend kraulte sie der Stute den Hals, schwang sich dann behände in den Sattel und ritt in den Wald, ohne sich noch einmal umzusehen. Bedauernd sah er auf seinen Teller und entschied, dass das Essen zu gut war, um es stehen zu lassen, und während er ihn leerte, sinnierte er darüber, warum er in letzter Zeit den entscheidenden Augenblick zu spät zu sein schien.

Eine Stunde später führte er Florentine in den Stall. Diesmal versorgte er sie selbst, räumte das Sattelzeug auf und sah ihr noch eine Weile beim Fressen zu, die Ellbogen auf die Tür und das Kinn auf die verschränkten Daumen gestützt. Schließlich löste er seine Haltung und wandte sich zum Gehen. Halb in Gedanken grüßte er beiläufig die drei Mädchen, die ihn aus der Box eines Schulpferdes heraus anstrahlten. Kichernd tauchten sie fluchtartig hinter das bedächtig kauende Pferd, das sich durch die Unruhe nicht beeindrucken ließ. Draußen schüttelte er sein Unbehagen über die Reaktion der Mädchen ab.

Er mochte es nicht, angehimmelt zu werden. Kurz verspürte er die vertraute Sehnsucht nach einer Frau, die ihm mit Selbstsicherheit und Respekt begegnete, bevor er sich den Erfordernissen der Realität zuwandte. ‚Noch kurz bei Maja vorbeischauen, dann habe ich mir den Feierabend redlich verdient.’

Das bisschen Haushalt – Johanna von Koczian

Maja empfing ihn zerzaust und sichtlich erschöpft im Flüsterton. Wohlweislich hatte er nicht die Klingel benutzt, sondern auf ihrem Handy angerufen. Seit die Zwillinge auf der Welt waren, hielt er dies für die bessere Variante.

„Du bist der Einzige, der sich darüber Gedanken macht, ob das Schellen gerade angebracht ist“, begrüßte sie ihn mit einer flüchtigen Umarmung. „Komm rein. Pass auf, wo du hintrittst und entschuldige die Unordnung.“

Unordnung war weit untertrieben; die Wohnung sah aus wie explodiert. „Ist Michael nicht da?“, fragte er.

„Auf Dienstreise.“

Er zog die Augenbrauen hoch.

„Angeblich. Ich vermute, er kann mal wieder mit Familie, Haus und Hof nichts anfangen und hat sich bei einem Freund einquartiert.“ Maja ließ sich schwer auf einen Küchenstuhl fallen und sah ihn von unten herauf an. Mit einer schwachen Handbewegung umfasste sie das Chaos ringsum. „Ich würde manchmal auch gern alles stehen und liegen lassen.“

„Wann hast du zuletzt was gegessen?“

„Frühstück?“, war ihre vage Antwort.

„Ok, du erzählst mir, was los ist, ich mach dir was zu essen und bringe Küche und Wohnzimmer halbwegs in Ordnung. Um neun schmeißt du mich raus und gehst ins Bett.“

Vierzig Minuten später hatte er sämtliche sichtbaren Kinderspielsachen aus dem Wohnbereich ins Spielzimmer verfrachtet, die Spülmaschine brummte eifrig, er war über die komplette Situation im Bilde und konnte Maja leider auch nur bestätigen, was sie schon wusste, nämlich, dass der Trockner den Dienst verweigerte.

„Bestell dir einen neuen. Pack mir jetzt das Wichtigste ein, ich stecke es zu Hause in meinen und bringe es dir morgen früh vorbei.“

„Du bist ein Schatz!“ Maja umarmte ihn.

Gemeinsam stiegen sie zum Kinderzimmer hoch. Die beiden Jungs lagen in einem Bett, die blondgelockten Köpfe dicht beieinander, alle Gliedmaßen von sich gestreckt, die Decke weggestrampelt am Fuß­ende des Bettes.

Ein Bild des Friedens.

 

Zärtlich lächelnd betrachtete er seine Neffen, hob den Blick und begegnete den wissenden Augen seiner Schwester. Ertappt wandte er sich ab und seine verbindliche Ader gewann die Oberhand. Mit einem flüchtigen Kuss auf Majas Wange verabschiedete er sich.

A Horse with No Name – America

Charly und Peter standen am Koppelzaun. Der Hengst lahmte. Hinten rechts.

„Es hilft nix. Ich muss mir das anschauen. Hier, lenk ihn ein bisschen ab.“

Damit drückte sie Peter die Leckerli in die Hand, holte den Hufkratzer und schlüpfte durch den Zaun. In den letzten beiden Tagen hatte der Schimmel schon gelernt, wo es Leckereien zu holen gab und machte auch gleich einen langen Hals. Ohne zu mucken hob er das Hinterbein an, Charly umfasste den Huf im Sicherheitsgriff, ihre Schulter gegen sein Sprunggelenk gestemmt, und hob ihn auf ihr Knie.

Der Übeltäter, ein Stein, war augenscheinlich. Sie hebelte ihn heraus, während der Hengst kaum einmal zuckte, beide vertieft in ihr Tun. Im Dorf brummte ein Motorrad.

Das Knallen einer Fehlzündung zerriss die abendliche Ruhe. Der Hengst zuckte zusammen, schlug aus und preschte aufgeregt über die Koppel. Fluchend rappelte Charly sich auf. Der Stoß hatte sie zwar von dem Hengst wegkatapultiert, aber im Verlauf der improvisierten Rolle rückwärts hatte sie sich den Hufkratzer gegen die linke Augenbraue geschlagen, wie auch immer sie das geschafft hatte.

„Kruzitürken! Ist dir was passiert?“, rief Peter. „Verrückter Gaul, dammicher!“

Sie winkte ab. „Halb so wild.“ Schnell duckte sie sich durch den Zaun, trat zum Wassertrog, hielt einen Zipfel ihres Hemdes hinein und klatschte sich den tropfnassen Stoff auf die schmerzende Partie.

„Das sah gefährlich aus“, erklang hinter ihr die Stimme des Tierarztes und Charly fuhr erschreckt zusammen. Gemeinsam mit Beatrix trat er an die Koppel. „Darf ich einen Blick drauf werfen?“

„Sicher. Bei meiner Rossnatur sind Sie genau der Richtige“, grinste Charly zurück. „Ich schätze, das wird eine nette Beule und schlimmstenfalls blau. Ich werde es überleben“, meinte sie achselzuckend und nahm das Hemd vom Gesicht. Doktor Schnellenbach widmete der Begutachtung ihres Auges genauso viel Sorgfalt, wie sie es von ihm im Umgang mit seinen tierischen Patienten gewohnt war.

„Durchaus akkurate Einschätzung, meine Liebe, mit einer Einschränkung. Das wird ganz sicher blau. Du musst sowieso zu meinem Kollegen für den Spezialfall Mensch.“

„Wieso?“ Charly zog fragend die Augenbrauen hoch und scharf die Luft zwischen die Zähne.

„Krank schreiben kann ich dich nicht.“

„Ist sowieso keine Option. Ich habe zu viel vor in den nächsten Tagen.“ Verschmitzt blinzelnd zuckte sie die Schultern und verpasste dem Hengst, der leise an den Zaun herangetreten war und an ihrer Schulter schnupperte, ihrerseits einen Nasenstüber. „Sorry, Großer, ich habe dich nicht bemerkt.“

Er schnoberte durch ihr Gesicht.

„Schaust du dir an, was du angerichtet hast? Keine Sorge, ich bin dir nicht böse. Ist in ein paar Tagen alles vergessen“, redete sie auf den Schimmel ein, kraulte ihn unterm Kinn und klopfte seinen Hals. Dann folgte sie den anderen, die bereits in Peters Garten neben einer der Stuten standen.

„Lange wird es nicht mehr dauern. Ihr erreicht mich jederzeit übers Handy. Ruft lieber einmal zu oft an als zu wenig“, sagte Doktor Schnellenbach gerade.

Alle drei nickten unisono, dann verabschiedeten sie sich und Charly blieb allein zurück. Am Törchen zu ihrem Grundstück wartete der Hund auf sie. Noch immer namenlos.

Sie stellte ihm Futter hin. Wie in den vergangenen Tagen auch blieb er genau außerhalb ihrer Reichweite. Mit einem kurzen Gute-Nacht-Gruß sammelte sie Amadeus aus dem Apfelbaum ein und nahm ihn mit ins Haus. Sie packte die Alukisten der BMW für die kommenden Tage, kochte Nudeln, feuerte nebenher den Kamin an und machte es sich nach dem Essen im Wohnzimmer mit einem Buch gemütlich.

Blaue Augen – Ideal

Als Charly kurz vor sechs erwachte, war es bereits hell. Ausgiebig geduscht wanderte sie, sich genüsslich streckend, in die Küche, goss Kaffee in den Becher und trat auf die Terrasse hinaus. Beim Blick über die Koppel vergaß sie den Kaffee.

„Der Hengst ist weg!“

***

"Ruhe bewahren!", ermahnte sie sich selbst, stellte den Pott achtlos auf dem Terrassentischchen ab und lief zur Koppel. Auch auf der dahinter liegenden Bachkoppel war er nicht zu sehen. ‚Wo ist der Hund?’

Mit wenigen Schritten war sie beim Unterstand. Er lag auf der Decke und sah ihr mit schräg gelegtem Kopf aufmerksam entgegen. Irritiert blickte sie wieder über die Koppel. Hinter ihr ertönte ein halblautes „Wuff“. Sekunden später antwortete ein Wiehern aus Peters Garten und der Kopf des Hengstes erschien über der Feldsteinmauer.

„Was in aller Welt ...“

Das Törchen knarrte, dann stand sie auf Peters Obstwiese und staunte. Unter dem alten Birnbaum stakste auf langen Beinen ein wolliges, hellbraunes Fohlen neben seiner sichtlich erschöpften Mutter her und suchte eifrig unter deren Bauch herum. Der Hengst drehte aufgeregt Runden um die beiden, hielt die anderen Pferde fern und baute sich dann drohend zwischen Charly und der Stute auf.

Der Hund war ihr gefolgt und hatte sich in die Toröffnung gesetzt. Er schien zu wissen, dass der Hengst jetzt niemanden in der Nähe dulden würde. Letzterem gut zuredend und ihn nicht aus den Augen lassend ging Charly vorsichtig zurück zum Törchen und schloss es hinter sich. Der Hengst beruhigte sich sichtlich.

Sie benachrichtigte Peter, den Tierarzt und Beatrix. Nacheinander trafen sie an der Koppel ein und bestaunten das Schauspiel, das der Hengst ihnen bot. Noch immer umkreiste er Mutterstute und Fohlen, zwischendurch trat er an die Stute heran, beschnoberte sie und beknabberte ihren Rücken, kam aber nie dem Fohlen zu nahe.

„Ein Geburtshelfer“, schmunzelte Dr. Schnellenbach. „Kann man gelegentlich bei Wildpferden oder nahezu wild gehaltenen Pferden bei Nomaden beobachten. Die meisten Hengste passen nur auf, dass sich die Stute zur Geburt nicht zu weit von der Herde entfernt, aber manche kümmern sich rührend um Mutter und Kind. Mit dem Nachteil, dass man bei Komplikationen an beide nicht rankommt.“ Er pausierte mit nachdenklich geschürzten Lippen. „Aus der Ferne sieht alles normal aus. Ich bleibe eine Weile hier und beobachte das Trio. Auch danach sollten sie nicht unbeaufsichtigt bleiben.“ Der Tierarzt sah fragend in die Runde.

Charly schüttelte den Kopf, aber Peter nickte bestätigend und Beatrix fügte hinzu: „Ich löse dich nachmittags ab, Pit.“

Charly verabschiedete sich und wandte sich zum Gehen, kehrte jedoch nach wenigen Schritten zurück. „Beatrix? Ich will die drei haben. Machst du die Papiere fertig? Ich komme heute Nachmittag vorbei.“ Bevor ihre Nachbarn und der Tierarzt sich von ihrer Überraschung erholen konnten, war sie verschwunden. Sie war spät dran.

***

Die Kollegen saßen bereits zur Frühstückspause zusammen, als Charly die BMW an der Baustelle abstellte. Sie kletterte in den Firmentransporter, zog sich um und hockte sich dazu.

"Kneipenschlägerei?", fragte Sepp mit einem Kopfnicken zu ihrem blauen Auge hin.

"Klar, im Dorfkrug. Hast du gestern Abend verpasst", grinste sie und Sepp lachte.

Zur Erheiterung aller berichtete sie die Ereignisse des Abends und des Morgens und musste sich den Rest des Arbeitstages die Sticheleien ihrer Kollegen gefallen lassen. Sie war froh, als sie aufs Motorrad steigen und losfahren konnte. Sie holte Geld von der Bank und fuhr zu Beatrix. Das erledigt, sah sie auf ihr Handy. Sie hatte jetzt überhaupt keinen Nerv für ihre Mutter. Aber es musste sein.

I Knew You Were Trouble – Taylor Swift

Der Motorradtreff kam in Sicht. Charly bremste kurz entschlossen scharf ab und bog in den Parkplatz ein, fuhr gemächlich zum hinteren Ende, wendete halb und ließ die BMW rückwärts in eine breite Lücke rollen. Der Parkplatz war zum Rand hin abschüssig und sie brauchte nur leicht mit den Fußspitzen zu steuern.

Auf der Straße röhrte ein Porsche vorbei. ‚Blau.’

Sie bemerkte ihren Fehler sofort und stemmte sich gegen die Maschine, die ihre Unaufmerksamkeit ausgenutzt hatte und sich gen Erde neigte. Unaufhaltsam, wie sich zeigte.

‚Verdammt!’ Charly gab auf und sprang zur Seite, die GS krachte zu Boden. Plastik splitterte. Fluchend riss sie sich den Helm vom Kopf und hob den Fuß, zielte aufs Hinterrad, überlegte es sich im letzten Moment anders und trat heftig gegen den Findling, der als Parkplatzbegrenzung schräg neben ihr lag. Mit einer fließenden Bewegung hängte sie ihren Helm an den Jägerzaun dahinter und umrundete die BMW, die halbmast auf der Ecke des Koffers hing. Sie registrierte, dass ein großer, breitschultriger Mann aus der gegenüberliegenden Parkreihe auf sie zusteuerte, beachtete ihn aber nicht und wuchtete ihr Motorrad erst in die Senkrechte und weiter auf den Hauptständer. ‚Wut ist mitunter ganz nützlich.’

Der Koffer hatte größere Schäden verhindert, nur der Handprotektor war zersplittert. Wie immer hatte sie ihr Bordwerkzeug schnell zur Hand und schraubte ihn bereits ab, als der Fremde sie ansprach.

“Kann ich dir helfen?”

Ohne aufzusehen schüttelte sie ablehnend den Kopf. “Ich komme klar.” Sie klang schroffer als beabsichtigt und die Abfuhr tat ihr leid, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. “Trotzdem danke für das Angebot”, setzte sie deshalb hinzu und sah zu ihm auf. Braune Augen und ein freundliches Lächeln, das sofort aus seinem Gesicht verschwand und einem eigenartigen Ausdruck Platz machte.

‚Mitleid’, dachte sie. ‚Mitleid und mühsam gezügelter Ärger.’

“Wer hat dir das Veilchen verpasst?”, fragte er scharf.

Charly verkniff sich mühsam die genervte Reaktion und antwortete so gleichmütig wie möglich: “Ein Pferd.”

Sie sah ihm an, dass er ihr nicht glaubte und beschäftigte sich angelegentlich mit dem Zusammenpacken des Werkzeugs. Er blieb, offenbar unschlüssig, ob er eine weitere Abfuhr riskieren sollte, neben ihr stehen und beobachtete ihre Handgriffe. Sie klaubte die Plastiksplitter vom Boden auf, bot ihm ein vages “Ich hol mir einen Kaffee” an und ging zum Kiosk.

Auf dem Weg versenkte sie den zerbrochenen Protektor im Mülleimer. Dabei warf sie einen verstohlenen Blick über ihre Schulter. Er musste gezögert haben, aber er folgte ihr mit langen Schritten und holte auf.

***

Melli, ihre Freundin, war wie erhofft im Dienst und reichte ihr einen Pott Kaffee, ohne die Bestellung abzuwarten.

„Wenn du schon ein blaues Auge hast, wie sieht dann dein Gegner aus?“, fragte Melli auch prompt.

„Groß, weiß und unversehrt. Es war keine Absicht.“

Der Mann neben ihr stieß ein unbestimmbares Knurren aus und Charly sah zu ihm auf. Er trug den gleichen besorgt wirkenden Gesichtsausdruck wie Melli, nur dass ihr Anflug von Schuld bei ihm durch Aggression ersetzt wurde.

„Es war ein Pferd“, seufzte sie. „und er hat sich erschreckt.“

Charly umriss die Ereignisse. Ab und zu warf sie einen schnellen Blick zu dem Fremden. Mit einer seltsamen Wachsamkeit blieb er an ihrer Seite, weit genug entfernt, dass sie es nicht als aufdringlich empfand, aber nahe genug, dass sie sich eigenartig geschützt fühlte.

Mit einem leichten Heben der linken Augenbraue schnellte Mellis Blick zu ihm. ‚Kennst du ihn?’, hieß das.

Unschlüssig hob Charly halb die Schultern und deutete ein Kopfschütteln an.

Melli nickte unauffällig.

Charly trank ihren Kaffee aus, signalisierte noch ein baldiges Telefongespräch zu Melli, verabschiedete sich mit einer kurzen Entschuldigung in Richtung des Fremden und schritt weit ausgreifend zu ihrem Motorrad. Als sie losfuhr, hob der dunkelhaarige Motorradfahrer lässig grüßend die Hand. Sie grüßte zurück.

An der Ausfahrt passierte sie eine blau-weiße Fireblade.

‚Die würde ich auch gern mal über die Rennstrecke jagen’, dachte sie. ‚Ob Dad bald einen Renntermin hat? Der letzte liegt schon einige Zeit zurück.’