Der Natur bis ans Ende vertrauen!

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Der Natur bis ans Ende vertrauen!
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Der Natur bis ans Ende vertrauen
Andrew Taylor Still

IMPRESSUM

Der Natur bis ans Ende vertrauen, 3.Auflage Copyright © 2013 bei JOLANDOS JOLANDOS, Am Gasteig 6, 82396 D-Pähl ISBN 978-3-936679-31-1 (Print) ISBN 978-3-941523-15-9 (Ebook / MOBI) ISBN 978-3-941523-37-1 (Ebook / EPUB) www.jolandos.de, info@jolandos.de

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ZITATQUELLE

Das große Still-Kompendium. 2. Auflage © JOLANDOS, 2005 ISBN 978-3-936679-64-9

LEKTORAT

Christian Hartmann

KORREKTORAT

Jutta Burghardt

UMSCHLAGGESTALTUNG & SATZ

Christian Hartmann

GRAFIKEN

Simone Stricker

DRUCK / PRINTVERSION

Buchproduktion Thomas Ebertin

www.buchproduktion-ebertin.de

EBOOK-GESTALTUNG

Corinna Rindlisbacher

www.ebokks.de

Jede Verwertung von Auszügen der deutschen Ausgabe ist ohne Zustimmung von JOLANDOS unzulässig und strafbar. Dies gilt für jegliche Form der Vervielfältigungen und Verbreitung.


INHALTSVERZEICHNIS

EINFÜHRUNG

OSTEOPATHIE

BEOBACHTUNGEN

NATUR

PHILOSOPHIE

MEDIZIN

SCHULE

RELIGION

DIVERSES

STILL ÜBER STILL

FUßNOTEN

ZITATQUELLEN, LEGENDE

AB = Autobiografie

PO = Die Philosophie der Osteopathie

PMPO = Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie

FP = Forschung und Praxis

EINFÜHRUNG
KURZBIOGRAFIE1

A. T. Still kam am 6. August 1828 in einer winzigen Hütte in Lee County, Virginia, zur Welt. Sein Vater, Abram Still (1796–1867), war als methodistischer Wanderprediger und autodidaktischer Landarzt für seine flammenden Reden bekannt.2 Er dürfte Andrews ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein sich selbst und anderen gegenüber entscheidend mitbestimmt haben, denn im Methodismus spielt gerade der verantwortungsvolle Umgang mit der Schöpfung während des Erdenlebens eine zentrale Rolle für die Vervollkommnung nach dem Tod.

Da es in den ländlichen Einöden kaum studierte Mediziner gab, fungierten die Prediger zusätzlich als Laien- und Landärzte. Zudem führte das meist sehr große Allgemeinwissen der Methodistengeistlichen dazu, dass sie ganz nebenbei auch als weltliche Aufklärer tätig waren. Insofern erfüllten die Wanderprediger jener Zeit in nahezu vorbildlicher Weise das Ideal des hippokratischen Arztes: Körperarzt, Philosoph und spiritueller Begleiter. A. T. Still, der seinen Vater als Heranwachsender oft auf dessen mehrtägigen Ausritten zu den Mitgliedern seiner Gemeinde begleitete, erlernte so nicht nur die Grundfertigkeiten medizinischer Betreuung, sondern erfuhr auch, dass gute Medizin stets mit einer gewissen spirituellen Betreuung einhergeht.

Als die spirituelle Betreuung ganz von den christlichen Kirchen übernommen wurde, verschwand aus dem ärztlichen Denken auch die Philosophie als natürliches Produkt des Spannungsfeldes zwischen Spiritualität und Weltlichkeit. Somit wandelte sich die ganzheitliche Medizin des antiken Griechenland schon bald in eine reine Körpermedizin, die bis heute Bestand hat. Lediglich in der psychosomatischen Medizin findet man noch die Grundstrukturen des hippokratischen Idealarztes.

Neben dem Vater prägte Stills Mutter, die Arzttochter Martha Poague Moore (1800–1888), seine toleranten und pragmatischen Persönlichkeitsanteile. Während der oft mehrwöchigen Abwesenheit ihres Mannes übernahm sie sämtliche haus- und landwirtschaftlichen Aufgaben. Stills offene Bewunderung für die weibliche Geschicklichkeit, seine für damalige Verhältnisse äußerst provokante Toleranz gegenüber Frauen, sowie seine Überzeugung, dass theoretisches Wissen nur gepaart mit praktischen Fähigkeiten einen Wert besitzt, dürften auf die Art und Weise zurückzuführen sein, wie seine Mutter diese Herausforderungen meisterte. In späten Jahren schrieb er:

„Das Pionierleben mit einer sensiblen Mutter hatte mehr mit der Entfaltung der osteopathischen Wissenschaft zu tun, als es jede andere Ausbildung möglicherweise gehabt hätte.“ 3

Schon früh nahm der Vater den jungen Andrew mit auf seine Ausflüge, und man kann vermuten, dass dabei dessen universelles Interesse am Menschen erstmals geweckt wurde. Wie viele andere gleichaltrige Jungs wandte er sich aber zunächst mit ganzer Leidenschaft der Jagd zu. Noch bevor er mit irgendeinem medizinischen Buch in Berührung kam, begann Still, Anatomie und Verhaltensweise von Tieren genauestens zu studieren. Inmitten der endlosen Weiten des amerikanischen Westens verinnerlichte er nach und nach die Vollkommenheit, Harmonie und Unfehlbarkeit der sich ihm offenbarenden Natur und sein Durst nach einem tiefen Verständnis innerer Zusammenhänge wuchs. Mit dem Erwachsenwerden weitete er deshalb sein Forschungsgebiet schon bald auch auf den Menschen aus. Um dessen Anatomie besser zu verstehen, exhumierte er Leichen von Indianern und begann so, ohne je zuvor ein entsprechendes medizinisches Fachbuch gelesen zu haben, mit seinen ersten anatomischen Studien.4

Dass sich seine Schulbildung aufgrund der damaligen Verhältnisse nur auf das Notwendigste beschränkte, brachte nicht nur Nachteile mit sich. Es gab, Ihm auch die Möglichkeit, der sich ihm bietenden Vielfalt der Natur mit empfänglichem, durch keine intellektuellen Voreingenommenheiten verstelltem Blick zu begegnen. Seine Wahrnehmung der Wirklichkeit wurde nicht durch ein theoretisches Gerüst gefiltert, sondern die Theorie oder besser das medizinphilosophische Konzept der Osteopathie entstand zuallererst aus seinen sinnlichen Erfahrungen und seinem gesundem Menschenverstand. Damit lebte er wie kaum ein anderer den von Ralph W. Emerson begründeten Amerikanischen Transzendentalismus, der die Überwindung alter und allgemeingültiger Weltbilder einfordert und jedem das Recht zugesteht, sich durch sinnliche Eindrücke von der Welt und anschließende Reflexion sein eigenes Weltbild zu schaffen. Diese für die damalige Zeit völlig neue Freiheit führte zu enormen gesellschaftlichen Umgestaltungen und bildet noch immer die Grundlage für die enorme Dynamik und das besondere Selbstverständnis der amerikanischen Bevölkerung.

Begabt mit einem außergewöhnlichen praktischen Geschick und getrieben von seinem Wissensdurst experimentierte der junge Still in den 1850ern mit allem, was seinen Weg kreuzte. Und nur das, was sich als erfolgreich, praktikabel und wirksam erwies, verfolgte er weiter. Theorien, die der Praxis nicht standhielten, warf er – ohne Rücksicht auf deren Reputation – über Bord. Als kritischer Empiriker reinsten Wassers musste er zwangsläufig in Konflikt mit der damals etablierten ‚heroischen Medizin‘ geraten, die überwiegend aus Aderlässen, dem Verabreichen von hochgiftigen Brechmitteln bzw. Alkohol und später Morphium sowie aus unsterilen Inokulationen (Impfungen) und oftmals fragwürdigen chirurgischen Eingriffen bestand.

Ihm Zuge seiner Begeisterung für Maschinen und deren Nutzen bei der anstrengenden Feld- und Hausarbeit begann Still, verschiedenste Geräte zu entwerfen – von der Schneebrille über den automatischen Heuaufsammler bis hin zum preisgekrönten Butterrührer. Auch hier zeigt sich wieder, dass er nicht nur ein genauer Analytiker, sondern auch ein patenter Praktiker war, der eine Theorie erst dann anerkannte, wenn sie sich in der Umsetzung eindeutig bewährt hatte.

Inzwischen hatte er eine rudimentäre medizinische Ausbildung in Kansas City absolviert, die er aber aufgrund ihrer miserablen Qualität nie der Erwähnung wert fand. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sein Diplom abzuholen – auch ein Hinweis darauf, dass er Status und Titeln grundsätzlich keine Bedeutung beimaß. Auf die Frage eines Journalisten, wie er denn betitelt werden wolle, antwortete Still – damals schon ein betagter und berühmter Mann – trocken: „D.O., M.D., oder was immer Sie wollen.“ 5

Neben seinem beruflichen Werdegang als eigensinniger Landarzt entwickelte sich auch sein Privatleben. In den 1850ern heiratete er Mary Margaret Vaughan, die aber, ausgezehrt von den rauen Lebensbedingungen im amerikanischen Grenzland, nach einer Fehlgeburt bereits sehr jung verstarb und Still mit drei Kindern zurückließ. Da er neben der Versorgung seiner Familie die Farm führen musste und als Landarzt praktizierte, heiratete Still bereits kurze Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau Mary Elvira Turner (1834–1910), die ihm zur treuesten Gefährtin seines Lebens wurde. Auch am Entstehen der Osteopathie hat sie einen unschätzbaren Anteil, was ihrem Mann sehr wohl bewusst war:

 

„Ich hätte diese frühen Tage der Angriffe und Enttäuschungen niemals ohne ihren standhaften Optimismus und ihre treue Ermutigung überlebt.“ 6

Zeitlebens war Still ein glühender Verfechter der Freiheit des Menschen, unabhängig von Rasse, Religion oder Geschlecht. Sein aktives politisches Engagement und seine offene und provokante Art führten ihn schließlich unweigerlich ins Zentrum des amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865), wo er als Feldarzt bei den sogenannten ‚Yankees‘, den Gegnern der Sklaverei, weitere wertvolle medizinische Erfahrungen sammelte. Insbesondere das Auseinanderdriften der in den Universitäten verkündeten Allmacht der Medizin und deren klägliches Scheitern in der rauen Wirklichkeit des Krieges verstärkten noch seine Skepsis gegenüber der Allopathie.

Nach seiner Rückkehr aus dem Bürgerkrieg im Frühjahr 1864 musste er zusammen mit seiner Frau hilflos mit ansehen, wie drei seiner kleinen Kinder während einer Meningitis-Epidemie innerhalb kürzester Zeit dahingerafft wurden. Dieser Schicksalsschlag war bestimmend für Stills weiteren Weg. Er brach nun nicht nur mit der Schulmedizin, sondern auch mit seiner Kirche und schwor sich, eine ‚bessere Medizin‘ (im Sinne einer Verbesserung der bestehenden Medizin) zu finden – eine, die sich im Alltag zum ausschließlichen Wohle der Patienten bewährt.

Ausgerüstet lediglich mit einem geschulterten Sack, der gefüllt war mit einem vollständigen Satz menschlicher Knochen, das Herz schwer vom Verlust seiner Kinder und besessen vom Glauben an die Notwendigkeit einer neuen Medizin begab er sich auf eine jahrelange brotlose Wanderung. In diesen Wanderjahren kannte er keine Tabus. Phrenologie, Mesmerismus, Physiologie, Magnetismus, Physik, Anatomie, Knocheneinrenken, Astronomie, schamanistische Medizin, spiritistische Sitzungen: Alles wurde von ihm aufgesaugt und auf seine Tauglichkeit hin erprobt. Was sich bestätigte und dem Patienten nützte, behielt er. Alles andere wurde ausgesiebt. Bei dieser Suche halfen ihm sein ungebrochener Glaube an die Vollkommenheit der Schöpfung, seine enormen intuitiven Fähigkeiten, ein gesunder, praxisorientierter Menschenverstand, eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe und die ehrliche Auswertung seiner Erfahrungen.

Trotz seiner nur rudimentären Schulbildung gelang es Still, immer tiefer in die Welt der bedeutenden Wissenschaften und Geistesströmungen seiner Zeit vorzudringen. Vor allem die Evolutionstheorie, die im 19. Jahrhundert das Weltbild revolutionierte, wirkte elektrisierend auf ihn. Plötzlich erwachte die Welt aus einer statischen Daseinsform und präsentierte sich als dynamisches und organisches Wesen, ständigem Wechsel und Veränderungen unterlegen und niemals in vollkommener Ruhe. Hier findet auch ein Grundprinzip der Osteopathie seinen Ursprung: Funktion und Struktur sind in untrennbarer Wechselwirkung miteinander verflochten. Einiges in Stills Biographie deutet darauf hin, dass Herbert Spencers (1820–1903) Hauptwerk Die ersten Prinzipien der Philosophie7 in diesem Zusammenhang als philosophischer Grundstein für die Wissenschaft der Osteopathie diente.

Ungeachtet der wachsenden Widerstände – Freunde und Kirche hielten ihn für besessen und verloren, Ärzte griffen ihn scharf als Quacksalber an – blieb Still, unterstützt nur noch von seiner Frau und seinen Kindern, auf seinem Weg. Schließlich aber wurde er, dieser nicht von Geldgier oder Prestigesucht, sondern von höherer Motivation geleitete, seltsame Wanderer, vom Schicksal belohnt:

Als er 1874 mit einem befreundeten Arzt durch die Straßen von Kirksville spazierte, einem kleinen Ort in Missouri, wo man ihm freundlicher gesonnen war, ging direkt vor ihm eine ärmlich gekleidete Frau mit ihrem Kind, das lediglich ein langes Leinenhemd trug und eine feine Blutspur hinterließ. Still, der eine infektiöse Darmerkrankung vermutete und, wie es seiner entschlossenen Art entsprach, das Kind mit Einwilligung der verblüfften Mutter unverzüglich untersuchte, stellte fest, dass sich dessen Bauch ganz kalt, sein Rücken hingegen sehr heiß anfühlte – woraus er auf einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Bereichen schloss. Er behandelte den Rücken des Kindes mit einigen manuellen Griffen und erzielte damit, wie sich bereits am darauffolgenden Tag bei einem Besuch zeigte, eine wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des kleinen Patienten.8

Das Grundprinzip der Osteopathie war geboren: Über die Knochen (gr. osteon) kam es zu einer Beeinflussung der inneren Leiden (gr. pathos). Osteopathie, der Name, den Still dieser neuen Art von Medizin erst 1892 gab, ist also ein sehr bewusst gewählter Begriff.

Da die moderne Osteopathie inzwischen ihren Einflussbereich über den Ansatz an den Knochen hinaus erheblich erweitert hat, kann man heute sagen: Die Beeinflussung eines Systems bewirkt eine Änderung in einem anderen System innerhalb des menschlichen Organismus.

In den Folgejahren entwickelte Still das so geborene medizinphilosophische Konzept weiter. Obwohl auch spirituelle Aspekte mit einflossen, hielt er sich damit in der Außendarstellung bemerkenswert zurück. Wohl auch aus der Überzeugung, dass Spiritualität ein intimer und ganz persönlicher Bestandteil des Menschen ist, den es nicht zur Schau zu tragen gilt und der niemals durch Worte vermittelt, sondern lediglich beispielhaft vorgelebt werden kann. Zudem wurden nach seinem Tod offensichtlich sämtliche Niederschriften und Notizen, in denen es um spirituelle Themen ging, von Stills Hinterbliebenen aussortiert, unter Verschluss gehalten und schließlich nach einem gemeinsam Beschluss in den 1960ern vernichtet.

So viel ist aber eindeutig: Für Still gab es einen triune man9, bestehend aus mind, matter und motion. Ein irdischer und der himmlische Körper vereinigen sich und dabei entsteht das Leben als dritte Kraft, welche sich durch Bewegung ausdrückt. Die Idee zu dieser ‚Erfindung‘ Mensch entspringt dabei einer göttlichen Instanz – einer Instanz jedoch, jenseits aller Religionen und deren Institutionen. Stills Tempel war die Natur und Gott spiegelte sich dort in der Vollkommenheit seiner Geschöpfe. Diese deistische Überzeugung in Bezug auf die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen, bildete einen weiteren Kristallisationspunkt bei der Entstehung der Osteopathie. Sie begründet das Vertrauen der Osteopathen in ihre Patienten und ist auch der Grund, warum Osteopathen sich nicht als Heiler, sondern vielmehr als Begleiter betrachten, die sozusagen als Feinmechaniker für optimale Rahmenbedingungen im Körper verantwortlich sind.

Stills Anschauung zufolge führen Fehlstellungen im Skelettsystem – von ihm Läsionen genannt, heute als somatische Dysfunktionen bezeichnet – zur Kompression umliegender Gefäße und Nerven. Dabei spielen vor allem die Blutversorgung, die vegetativen Zentren und das von unzähligen winzigen Gefäßen durchwebte und in Flüssigkeit getränkte Fasziensystem eine entscheidende Rolle. Den vom Läsionsbereich aus versorgten Körperregionen werden nicht mehr ausreichend Blut und Nervenwasser10 zugeführt bzw. die erforderliche Drainage durch das venöse und lymphatische System erfährt eine Beeinträchtigung. Zwangsläufig wird die betreffende Region dann aufgrund mangelnder Zufuhr von Nährstoffen und Informationen oder aufgrund ungenügender Drainage von Abfallstoffen anfällig für Krankheiten. Eine Korrektur der Fehlstellung, insbesondere an der Wirbelsäule, führt demnach zur Harmonisierung der Körperflüssigkeiten und damit zur Beseitigung von Krankheitserregern in der entsprechenden Körperregion. Die eigentliche Heilung geschieht also durch natürliche Vorgänge im Körper des Patienten und nicht durch Zufuhr unterstützender oder hemmender Substanzen. Das Verabreichen solcher Substanzen – seien sie nun allopathisch oder homöopathisch – zeigt, das war Stills feste Meinung, dass es dem Behandler an Vertrauen in die Vollkommenheit der Schöpfung mangelt. Da der Mensch in der Lage ist, sämtliche heilenden Substanzen selbst zu produzieren, muss man aus Stills Sicht Teile der ‚menschlichen Maschine‘ nur an ihren vorbestimmten Platz bringen und darauf vertrauen, dass die Natur in ihrer Vollkommenheit den Rest erledigt.

Es sollte noch fast zwei Jahrzehnte dauern, bis Still mit seinem Konzept der Osteopathie nachhaltig Fuß fassen konnte. Kirksville, damals ein winziger Ort fernab der großen Städte, sollte nicht nur die Geburtsstätte der osteopathischen Philosophie, sondern auch der ersten osteopathischen Schule, der American School of Osteopathy11 (A.S.O), werden. 1892 begrüßte Still dort in einer kleinen, unscheinbaren Hütte seine ersten Studenten, darunter auch seine drei Söhne und seine Tochter.

Die durch ihn und seine Studenten erzielten enormen Behandlungserfolge, die einen spektakulären Gegensatz zu den Misserfolgen der Allopathie darstellten, entfesselten eine geradezu explosionsartige Entwicklung der Osteopathie. Binnen weniger Jahre gab es Dutzende von Schulen und Tausende von Studenten. Still begann nun, sich auf eine Art Supervision zu beschränken, um den vorprogrammierten Missbrauch der Osteopathie durch Nachahmer und Betrüger nicht eskalieren zu lassen. Da er aber kein geborener Diplomat und gewohnt war, seine Meinung klar zu äußern, kam es zu zahlreichen – auch gerichtlichen – Auseinandersetzungen, nicht nur mit anderen Schulen und Behandlern, sondern auch innerhalb der A.S.O.

Vergeblich bemühte er sich, die Osteopathie in ihrer ursprünglichen Version zu erhalten. Zu groß waren bei vielen seiner Studenten die monetären Verlockungen und die zu befriedigenden Eitelkeiten, zu stark der Wunsch nach schnellem Glück. Kräftezehrende Streitigkeiten mit äußeren Gegner wie der mächtigen American Medical Association und der zunehmend schwierigere interne Kampf um die Bewahrung der ‚reinen‘ Osteopathie vor allopathischen Erweiterungen bestimmten die Folgejahre.

Nach dem Tod seiner Frau zog sich Still immer mehr zurück und widmete sich wieder verstärkt dem Studium der Natur und der Erweiterung des osteopathischen Konzeptes. 1914, im Alter von 85 Jahren, erlitt er einen ersten Schlaganfall, von dem er sich nie mehr völlig erholen sollte. 1917 erlag er einem zweiten Schlaganfall. Er wurde in Kirksville, der Geburtsstätte ‚seiner‘ osteopathischen Philosophie, begraben.

OSTEOPATHIE – EINE HERAUSFORDERUNG!

Wenn Sie dieses Buch unvoreingenommen lesen, wird es Ihnen vor allem eines zeigen: Im Sinne ihres Entdeckers praktizierte Osteopathie ist weit mehr als nur eine manuelle Behandlungsform. Obwohl immer wieder der Versuch unternommen wird, sie zu definieren, ist dies eigentlich nicht möglich. Neben rein quantitativ wissenschaftlichen Dimensionen repräsentiert und umfasst sie auch philosophische und spirituelle Elemente, die eher auf Gefühlsebene als im kognitiven Kontext ihre Entsprechung finden. Ähnlich wie die Quantenphysik oder neuerdings die String-Theorie birgt auch die Osteopathie wichtige Aspekte, die sich jedem rein verstandesmäßigen Zugriff scheinbar magisch entziehen. Aber eben dieses nicht-konkretisierbare, nicht-festlegbare Element schafft erst jenen Freiraum, in denen die Wahrnehmung de Individualität und Gesamtpersönlichkeit eines einzelnen Patienten möglich wird. Selbstverständlich birgt dieser Aspekt aber auch enorme Gefahren des Missbrauchs und der willkürlichen Interpretationen mit sich, die gerade in einer Zeit, wo eine oft zweifelhafte Esoterik zahlreiche Blüten treibt, besonders verlockend erscheinen.

Osteopathie in Stills Sinn sollte nie nur als reine Medizinphilosophie oder ergänzende Methode betrachtet werden, sondern weit darüber hinaus als eigenständige, gelebte und praktizierte Weltanschauung. Dies erfordert aber seitens des Behandlers nicht nur eine hohe Bereitschaft zur Selbstkritik, sondern auch den Mut zu einer intimen und damit unausgesprochenen Spiritualität, eine zutiefst humanistische Grundüberzeugung und den Verzicht auf reißerische, den Personenkult fördernde Außendarstellungen. Wer den Pfad der Osteopathie beschreitet, darf nur ein einziges Ziel haben: die Genesung der Patienten. Jedes durch Eitelkeit, Neid, Ängste, innere Unausgeglichenheit usw. verursachte Abweichen be- oder verhindert das freie Gehen auf diesem Pfad.

 

Ein zentrales Anliegen in der Osteopathie ist auch das Entstehenlassen und Erfahren einer in die Tiefe gehenden menschlichen Beziehung zwischen Patient und Behandler, die in unserer schnelllebigen Zeit wie die Quelle einer neuen Art von Medizin erscheint. Und genau hier sieht sich die moderne Osteopathie mit einem ihrer großen Probleme konfrontiert: Ihr Anspruch, eine anerkannte Wissenschaft im ganzheitlichen Sinn zu sein, widerspricht einer naturwissenschaftlich orientierten Welt, die ihren Fokus immer noch viel stärker auf quantitative als auf qualitative Aspekte richtet. Wenn die Mentalität ‚Auswertung vor Einsicht‘ bzw. ‚Standardisierung vor Individualisierung‘ weiterhin um sich greift und sich die osteopathische Wissenschaft nicht einer neuen wissenschaftlichen Sprache bedient, wie sie bereits in der psychosomatischen Medizin zu finden ist, wird die Osteopathie in Europa mittelfristig wohl ähnlich ‚entschärft‘ werden, wie dies im Gründungsland USA bereits seit mehreren Generationen der Fall ist: Sie wird zur symptomorientierten Fragmentmedizin mutieren, in der die Hand – das wichtigste medizinische Instrument des Menschen – so gut wie nicht mehr zum Einsatz kommt.

Die vorhin erwähnte, tiefgehende Beziehung zwischen Patient und Behandler hat aber noch eine weitere bedeutende, für das menschliche Ego aber zumeist unbequeme Konsequenz: Sie verlangt die Überwindung eines gerade im deutschsprachigen Raum schon fast unbewusst gelebten Hierarchie-Denkens. Für den Behandler bedeutet, er muss sein therapeutische s Selbstverständnis als ‚Heiler‘ bzw. ‚Gesundmacher‘ überwinden und sich in allen Ebenen auf Augenhöhe mit dem Patienten – sei es nun ein Säugling oder ein Greis – begeben.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass Still denen, die klassische Osteopathie in seinem Sinne praktizieren wollen, enorm viel abverlangt:

• Exzellente Kenntnisse in den medizinischen Grundfächern, vor allem in Anatomie und Physiologie.

• Grundsätzlich vorhandene, durch langjährige Schulung trainierte und immer weiter zu vervollkommnende manuelle Fähigkeiten.

• Grundmotivation Wissensdurst.

• Hohe Bereitschaft zur Selbstkritik sowie zur Überwindung von hierarchischem Denken, Opportunismus, Konformismus, Eitelkeit, Anerkennungssucht und Statusdenken – die Selbstenthronung als ‚Heiler‘ und ‚Gesundmacher‘.

• Akzeptieren des Spirituellen als eine vollkommene, dem Menschen übergeordnete, allpräsente Instanz, die nur bei bescheidener Zurücknahme der eigenen Person therapeutisch wirksam wird.

Und allem voran:

Das bedingungslose Vertrauen in die Natur!

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