Buch lesen: "Metastasen"
Ein Kronzeuge der ’Ndrangheta enthüllt die Geheimnisse des größten Familienunternehmens der Welt
Aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl

Umschlagidee und -gestaltung: kratkys.net 
© 20011 by Gianluigi Nuzzi
Deutsche Ausgabe: © 2011 Ecowin Verlag, Salzburg
Lektorat: Dr. Arnold Klaffenböck, Mag. Claudia Dehne
Autorenfoto Nuzzi: Massimo Prizzon
Gesamtherstellung: www.theiss.at
ISBN 978-3-7110-5099-1
Ich habe beschlossen, alles zu sagen und euch in dieses Inferno mitzunehmen.
Giuseppe Di Bella
Wenn ein Mann wie Versace tut,
was die ’Ndrangheta ihm sagt,
dann ist das kein Pappenstiel.
Paolo De Stefano hat mir gesagt,
er hätte Versace in der Hand.
Filippo Barecca, der als Kronzeuge unter falschem Namen lebt.Sein Bruder wurde ermordet.Paolo De Stefano ist ein wichtiger ’Ndrangheta-Boss.
Der Tod Versaces war inszeniert.
Als er angeblich in Miami ermordet wurde, war Versace in Zürich. Jetzt müssen wir die Asche verschwinden lassen, damit man die DNS nicht kontrollieren kann.
Diese Rekonstruktion des Versace-Falls will Giuseppe Di Bella von der Person mit dem Decknamen Alpha gehört haben. Deren Identität kann nicht enthüllt werden, da sie dem Untersuchungsgeheimnis unterliegt.
Ich weiß nicht, ob das wahr ist oder nicht …
Aber für uns war und ist Versace noch am Leben.
Aus den Aussagen von Giuseppe Di Bella.Die offizielle Version des Versace-Mordes weist denn auch einige Ungereimtheiten auf.
„Dort ist Gamma.“
„Und worüber reden sie?“
„Worüber sollen sie schon reden?
Über Blondinen und Wählerstimmen.“
Gespräch zwischen Giuseppe Di Bella und Agostino Rusconi, März 1990.Die Person mit dem Decknamen Gamma ist ein hochrangiges Mitglied der Lega.
Und das Motto ist immer das gleiche: Wählt die Lega.
Aus den Aussagen von Giuseppe Di Bella.
Der Justizpalast von Lecco ist ein einladender Ort. So einladend, dass man als Angehöriger der ’Ndrangheta dort jederzeit eine offene Tür findet.
Von der Handelskammer gar nicht zu reden.
Deren Direktor hatte von 1983 an nur eine Aufgabe: Freunde und Unternehmen des Clans zu fördern.
Aus den Aussagen von Giuseppe Di Bella.
Die Clans der ’Ndrangheta machen jedes Jahr einen Umsatz von mehr als 44 Milliarden Euro, das sind 2,9 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Allein in Reggio Calabria gibt es 73 Familien.
Daten des Europäischen Instituts für politische, wirtschaftliche und soziale Studien (EURISPES), Jahresbericht für Italien 2008
Für meinen Sohn.
Und für Federica, die mir von da oben den Mut gibt, all das zu erzählen.
Für Matilde und Camilla.
Für Giovanni.
Hinweis in eigener Sache
Der Vorabdruck dieses Buches wurde zusammen mit dem Exposé dem Staatsanwalt Giancarlo Capaldo zur Verfügung gestellt, dem Leiter der Distrezione distrettuale antimafia (DDA) von Rom. Wir betrachten es als unsere Pflicht, die Staatsanwaltschaft im Vorfeld von allen Informationen in Kenntnis zu setzen, die strafrechtlich relevant sind und zu laufenden Ermittlungen beitragen können. Auf den Seiten dieses Buches werden Unbekannten Verbrechen zur Last gelegt und der Justiz bereits bekannte Personen bislang unaufgeklärter Morde bezichtigt. Der Leser wird es uns daher nachsehen, wenn wir die Identität einzelner Personen, die Gegenstand polizeilicher Ermittlungen werden könnten, nur mit Decknamen nennen.
Natürlich müssen die Aussagen von Kronzeugen durch die Staatsanwaltschaft eingehend geprüft werden. Daher gelten die hier genannten Personen so lange als unschuldig, bis die Justizbehörden eindeutige Beweise für ihre Schuld gefunden haben. Um ihre Identität zu schützen, werden einige dieser Personen nur mit Buchstaben des griechischen Alphabets als Decknamen genannt.
Zu diesem Buch
Der Anstoß zu diesem Buch ergibt sich im Winter 2009, mehr oder weniger durch Zufall, während ich in meinem Büro in der Redaktion saß. Es gilt, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und eine Geschichte daraus zu machen, ehe sie vielleicht dem Vergessen anheimfällt. Spätnachmittags sitze ich am Schreibtisch, als das Telefon klingelt. Die Sekretärin: „Ich stelle Ihnen da mal einen Herrn durch. Die Geschichte hört sich seltsam an.“ Wenn der Anrufer diese erste Hürde genommen hat, ist an der Geschichte vielleicht wirklich etwas dran. Das Gespräch wird durchgestellt. Ich vernehme eine Stimme mit eindeutig süditalienischem Akzent: „Guten Tag. Ich bin ein Kronzeuge und arbeite mit der Justiz zusammen.“ Er atmet hörbar aus. Pause. Die Stimme ist dunkel, emotionslos, ohne Höhen und Tiefen. Dann fährt sie fort: „Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen.“
Das Buch, das Sie in Händen halten, ist der exklusive Bericht der Lebensgeschichte Giuseppe Di Bellas. Er ist einer der wenigen Männer, die je die ’Ndrangheta verlassen haben, eine Organisation, der er ein halbes Jahrhundert lang die Treue hielt. Er hat eine Entscheidung getroffen, von der es kein Zurück gibt: Er hat sich zur Zusammenarbeit mit der Justiz entschlossen.
Di Bella ist Jugendfreund und langjähriger Vertrauter des ’Ndrangheta-Bosses Franco Coco Trovato, der zu den historischen Bossen der Organisation gehört. Er ist der kalabresische Pate, der den Norden Italiens von der Lombardei bis zum Veneto mit Blut kolonialisiert hat. Di Bellas Aussagen zeigen, wie es der ’Ndrangheta gelungen ist, sich in Politik, Verwaltung, Arbeitswelt und Gesellschaft zu verwurzeln. Wie eine Krankheit, die immer weiter fortschreitet, uns vergiftet, unsere Abgeordnetenhäuser erfasst. Und Metastasen bildet.
Di Bella kann die Codes rekonstruieren, die ungeschriebenen Gesetze und Riten der kalabresischen Mafia. Er berichtet, wie alles seinen Anfang nahm: mit Waffenhandel, dem Erwerb einzelner Pistolen von den Partisanen, bis hin zur Möglichkeit, alles und jeden zu kaufen. Bis die ’Ndrangheta mit ihren bösartigen Auswüchsen Fabriken, Geschäfte, Kanzleien und Leben überwucherte. Dort, wo es um die großen, publicityträchtigen Affären wie die Verbindungen zu Gianni Versace und dessen Tod geht, wird Di Bellas Geschichte von den Aussagen eines anderen Kronzeugen bestätigt: Filippo Barreca. Die beiden kannten sich nicht. Barreca machte seine kriminelle Karriere 1200 Kilometer entfernt. Seine und Di Bellas Wege kreuzten sich nie. Doch ihre Geschichten überschneiden sich und werfen neue Fragen auf.
Für die Glaubwürdigkeit Di Bellas sprechen mehrere Umstände. Zum einen hegten die Staatsanwälte und Richter, die ihn in Varese, Como, Mailand, Bergamo und anderen Städten verhörten1, keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussagen. Dank seiner Informationen konnten zahlreiche Angehörige der ’Ndrangheta festgesetzt und verurteilt werden. Dass man ihn als zuverlässigen Gewährsmann sah, spricht sicherlich für ihn. Doch daraus lässt sich noch nicht ableiten, dass seine Aussagen durchweg der Wahrheit entsprechen müssen. Kronzeugen sind keine Orakel, deren Mund stets nur die Wahrheit kundtut. Daher müssen auch Di Bellas Aussagen, so wahrscheinlich sie klingen mögen, einer Überprüfung unterzogen werden. Allerdings sollten dabei drei Punkte erwogen werden:
1.) Di Bella gesteht in diesem Buch zum ersten Mal ein, dass er weitere Straftaten begangen hat. Er gibt zu, in bislang von der Justiz nicht geahndeten Straftaten eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Er riskiert folglich neuerliche Strafverfolgung durch seine Aussagen. Dass er seinen Anteil nicht verschweigt, macht ihn glaubwürdiger als so manchen anderen selbst ernannten „Reuigen“, wie die italienische Bezeichnung für die Kronzeugen in Mafiaprozessen wörtlich übersetzt lautet. Di Bella allerdings leistet tatsächlich tätige Reue, und das bereits seit mehr als zehn Jahren.
2.) Bei schwerwiegenderen Anschuldigungen erzählt Di Bella nie, was er nur vom Hörensagen weiß, sondern ausschließlich Dinge, die er selbst erlebt hat. Gerade bei den spektakulärsten Aktionen war er als Augenzeuge zugegen. Filippo Barrecas Aussagen liefern den Kontext zu Di Bellas Schilderungen. Er berichtet von anderen Delikten und bestätigt dadurch indirekt die Ausführungen des anderen ’Ndrangheta-Mitglieds. Die Fakten ihrer Aussagen ergänzen einander.
3.) Da Di Bella seit einigen Monaten nicht mehr unter staatlichem Polizeischutz steht und trotzdem Angehörige der ’Ndrangheta neuer Delikte beschuldigt, geht er ein hohes Risiko ein. Doch er weigert sich, erneut um Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm zu ersuchen. (Aus diesem Grund wurde der Vorabdruck des Buches sofort der Staatsanwaltschaft übergeben.)
Warum aber sprechen diese „Ehrenmänner“ erst jetzt? Weshalb entschließen sie sich erst jetzt, zu dem, was sie der Staatsanwaltschaft bereits mitgeteilt haben, neue, wichtige Details zu liefern? Barrecas Motive sind noch eher nachvollziehbar, macht er doch nur detaillierte Angaben zu früheren Aussagen. Di Bellas Schritt allerdings rührt aus einer tief greifenden persönlichen Wandlung. Dieser Weg ist es, der es ihm – entgegen dem Anraten seines Anwalts – unmöglich macht, weiter zu schweigen und der Justiz nicht neue Hinweise zu geben: „Schon vor drei oder vier Jahren habe ich meinem Anwalt gesagt, dass ich neue Angaben machen könnte. Ich wollte damit bessere Haftbedingungen herausschlagen, weil es mir wirklich dreckig ging. Aber der Anwalt meinte: ‚Schluss damit. Behalt für dich, was du weißt. Sag nichts mehr.‘ Also habe ich den Mund gehalten, mir aber gleichzeitig vorgenommen, dass ich eines Tages reden würde.“
„Dieser Tag kam, als meine Frau starb. Ich habe ihr auf dem Totenbett versprochen, dass ich alles sagen würde, weil unser Sohn eine Zukunft haben sollte. Sie war ein gutes Mädel, sie hat nach und nach mein ganzes Leben umgemodelt. Sie hat versucht, mich zu ändern, und sie hat es wirklich geschafft. Ihretwegen habe ich angefangen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Als sie gestorben ist, habe ich kapiert, dass es in der Mafia keine Freundschaft gibt, sondern nur Tod und Eigeninteresse. Wenn du nicht tust, was sie sagen, ist es aus. Einer der Bosse hat mir bei einem Treffen mit Leuten von der Cosa Nostra, Männern wie Giovanni Brusca, mal gesagt: ‚Man lässt die Prinzen und Barone in Ruhe, weil sie die Fäden ziehen. Sie haben die Politiker, die Marionetten, in der Hand.‘ Aber ich halte meinen Mund nicht. Ich habe keine Angst mehr. Ich habe beschlossen, alles zu sagen und euch in dieses Inferno mitzunehmen.“
Die erste Begegnung
„Ich lebe unter Zeugenschutz“
„Ich komme aus dem Süden und bin diesen Weg gegangen.“ Seine Stimme klingt fest und verrät nur leichte Nervosität. Er wirkt ganz normal. Offensichtlich hat er das, was er sagen will, nicht irgendwie vorbereitet. Er spricht bedächtig, klingt nicht wie auswendig gelernt. Ich wähle bewusst einen beruhigenden Ton, um ins Gespräch zu kommen. Ich möchte herausfinden, ob er zu den Märchenerzählern gehört, und suche nach einem Aufhänger. Ich möchte einen vertrauenswürdigen Eindruck machen, doch er hört scheinbar gar nicht zu.
„Ich komme aus Kalabrien und lebe im Zeugenschutzprogramm.“
Einer der „Kronzeugen“ der ’Ndrangheta also, der kalabresischen Mafia. Einer der wenigen, die den heiligen Pakt zwischen Clan und Familie gebrochen und die Geheimnisse einer kriminellen, militärisch strukturierten Organisation enthüllt haben. Die ’Ndrangheta hat die sizilianische Cosa Nostra und ihre Paten weit hinter sich gelassen. Sie durchsetzt die ganze Gesellschaft und weist einen Jahresumsatz auf wie Microsoft. Auf welcher Stufe der Typ wohl steht? Ich wage einen Versuch: „Wie ist Ihr Name?“
Stille. „Nein, nein, nicht am Telefon. Machen Sie Witze? Nennen Sie mich Angelo, aber das ist nicht mein richtiger Name und überhaupt … Interessiert Sie meine Geschichte? Wenn nicht, dann ciao.“
Er wartet. Bitte, Angelo, leg nicht auf. Ich versuche, Zeit zu gewinnen: „Natürlich. Seit wie vielen Jahren arbeiten Sie denn schon mit der Justiz zusammen?“
„Seit zehn Jahren, aber ich kann über bestimmte Dinge einfach nicht mehr schweigen. Der Anwalt hat mir geraten, den Richtern und Staatsanwälten nicht mehr zu erzählen und den Mund zu halten. Es gibt Dutzende Akten mit meinen Verhörprotokollen, aber jetzt stehe ich allein da, mit meinen Toten, mit der Trauer und sonst gar nichts. ‚Bestimmte Geschichten behältst du besser für dich‘, hat mir der Anwalt gesagt. ‚Das bringt dir sowieso nichts mehr.‘ Ich hatte Angst. Ich habe rein gar nichts begriffen. Ich dachte, wenn ich alles sage, knallen sie mich ab wie einen Hund. Und dann wären meine Frau und mein Sohn allein auf der Welt gewesen. Jetzt aber habe ich keine Angst mehr.“
Aus den Worten, die aus dem Hörer dringen, klingt kalte Entschlossenheit.
„Sagen Sie mir, für wen haben Sie gearbeitet?“
„Die Telefonkarte ist gleich leer …“
Daher werfe ich schnell ein: „Treffen wir uns doch.“
Und er, plötzlich grob, faucht: „Wie viel ist Ihr Wort wert? Und Ihr Kopf?“
Ich verstehe nicht, was er meint. „Ich bin da, Angelo. Am besten ist es, wir treffen uns. Dann können wir reden und uns dabei in die Augen sehen.“ Ich komme mir ein bisschen blöd vor, wie ich da im Mafiaslang rede, um sein Vertrauen zu gewinnen. Ich weiß nicht einmal, wer er ist: ein Wichtigtuer oder ein echter Kronzeuge? Doch die Sekunden vergehen und in mir verstärkt sich der Eindruck, dass diese unbekannte Stimme meine Aufmerksamkeit verdient.
„Übermorgen, um neun Uhr.“ Er nennt mir den Namen einer Bar. Bevor ich noch zusagen kann, hängt Angelo ein.
Das Treffen ist riskant. Ich brauche Unterstützung. Daher rede ich mit meinem Kollegen Claudio Antonelli und bitte ihn, bei dieser Geschichte mit mir zusammenzuarbeiten. Er hat, bevor er Gerichtsreporter wurde, bei den Carabinieri gedient, einem Polizeikorps, das aus dem Militär hervorging. Wir beschließen, gemeinsam hinzugehen.
Gegen acht Uhr sind wir dort. Wir lassen das Auto in einiger Entfernung stehen, da niemand unsere Autonummer kennen soll. Der Ort, an dem wir uns treffen wollen, liegt im Stadtzentrum, das dem vieler anderer Städte in der Provinz Emilia gleicht: Restaurants, Cafés, Geschäfte. Der Treffpunkt ist eine Bäckerei mit ein paar Tischen. Ein L-förmiger Tresen, Menschen, die für Cappuccino und Croissant anstehen, zwei Verkäuferinnen mit grauenvollen Häubchen. Ein seltsamer Ort für ein geheimes Treffen. Zu viele Menschen, zu viel Lärm, wenige Tische – vier, um genau zu sein – und alles von außen einsehbar. Ziemlich gut einsehbar sogar. Wir sind enttäuscht. Und uns wird mulmig.
Wir beschließen, uns nicht allzu lange hier aufzuhalten. Draußen kaufen wir eine Tageszeitung und vertreten uns die Beine, bis es fast neun Uhr ist. An den Tischen in der Bäckerei sitzen ein paar ältere Damen. Claudio bleibt draußen. Er bezieht im Geschäft gegenüber Posten. Ich überquere die Straße und betrete das Café: „Einen Espresso, bitte!“ Die Minuten vergehen. Niemand kommt. Er ist zu spät. Oder er kommt überhaupt nicht. Ich drehe mich um und gehe wieder hinaus, etwa 30 Meter die Straße auf und ab. Ich überprüfe noch einmal das Ladenschild der Bäckerei. Habe ich mich geirrt? Nein, ich bin schon richtig. Also wieder zurück. Ich sehe mich um. Die Tische, die Kaffeemaschine, und siehe da: dahinter ein Holm, eine Treppe, die ich vorhin nicht bemerkt hatte. Wie beiläufig frage ich, wo es dort hingeht.
„Das ist unser Teesalon im ersten Stock. Für den Nachmittag.“
Bin ich ein Anfänger! Ich lächle und steige die Treppe hinauf.
Die Treppen führen ins Halbdunkel. Es herrscht eine stickige Stille und gedämpftes Licht. Die Fenster sind geschlossen. Es mögen etwa 15 Tische sein. In der Mitte sitzt ein Mann, der mich durchdringend ansieht. Neben ihm ein Kind. Es hat das Gesicht weggedreht und träumt gedankenverloren vor sich hin. Neun oder zehn Jahre alt vielleicht. Das ist eine überraschende Wendung. Was mag der Kleine hier zu suchen haben, wo es um die ’Ndrangheta gehen soll? Sein unerwarteter Anblick verblüfft mich.
„Das ist mein Sohn. Ich hatte niemanden, bei dem ich ihn hätte lassen können. Ich bin gerade umgezogen, und er geht noch nicht zur Schule“, sagt der Mann zu mir und sieht mich verständnisheischend an.
„Hallo, wie geht’s dir?“, sage ich versuchshalber. Keine Antwort. Ich spüre seine Anspannung. Er hält sich steif, fast bewegungslos. In seinen Augen stehen Verzweiflung und Verlorenheit. Auf Gesicht und Armen sehe ich Flecken von Schuppenflechte. Er sagt nichts. Der Vater richtet seinen Blick zur Decke, endlos. Auch sein düsterer Blick ist voller Einsamkeit. Ich setze mich, und wir fangen an, uns zu unterhalten. Wir reden stundenlang. Angelo ist misstrauisch und entsprechend vorsichtig, öffnet sich mir gegenüber jedoch ein kleines bisschen. Er versteht meine Befürchtungen und ist einverstanden, dass Claudio heraufkommt.
Das Kind bleibt einfach sitzen und kehrt uns den Rücken zu. Es dreht sich nicht um, spricht nicht, trinkt nicht. Es will nichts, gar nichts. Wir werden erst mit der Zeit herausfinden, dass der Kleine elf Jahre alt ist und dass er seinen Vater – der Giuseppe heißt, nicht Angelo, Giuseppe „Pippo“ Di Bella – in die Bäckerei begleitet hat, weil seine Mutter krebskrank war und innerhalb von sechs Monaten starb.
Pippo Di Bella kam 1951 in Caronia zur Welt, in der Provinz Messina. Später zog er mit seiner Familie in den Norden, in die Lombardei, in die Provinz Lecco. Ein Vierteljahrhundert lang war er direkt dem Befehl von Franco Coco Trovato unterstellt, der in den Achtzigerjahren einer der wichtigsten ’Ndrangheta-Bosse im Norden Italiens war. Er leitete in der Lombardei ein Bündnis aus mehreren Mafiafamilien, das ganze Provinzen kontrollierte – von Mailand bis Lecco, von Como bis Varese – und eng mit anderen Clans zusammenarbeitete.
Heute sitzt Coco Trovato im Gefängnis, doch seine Organisation ist weiterhin höchst aktiv und wird mittlerweile von seinen Söhnen und seinem Bruder geführt.
Hoch droben im Norden
Deutliche Warnzeichen
Der Norden Italiens ist ein Hort des Friedens. Scheinbar. Die Sprösslinge der dritten Paten-Generationen besuchen private Universitäten. Der EXPO-Kuchen steht zur Verteilung an, und die regionalen Unternehmer wissen nicht, wie sie ihre Interessen verteidigen können. Hören wir, was Claudio De Albertis dazu sagt, der Präsident der Assimpredil, der Vereinigung der Bauunternehmer in den Provinzen Mailand, Lodi, Monza und Brianza: „Auf den Baustellen machen sie uns tausend Auflagen. Dafür sind die Behörden zuständig, die jede unternehmerische Tätigkeit im Keim ersticken. Wir können ja schließlich keine ‚Baustellenpolizei‘ einrichten. Der ’Ndrangheta gegenüber sind wir machtlos. Egal, welches Geschäft ansteht, wir erfahren von den Behörden nichts. Wir erhalten nicht die Informationen, die wir brauchen würden, um den Clans mit Saubermann-Image Konkurrenz zu machen. Und so werden wir zu Sklaven unserer Ängste. In die Welt des Unternehmertums frisst sich ein Krebsgeschwür ein, über das niemand spricht. Und es treibt äußerst gefährliche Metastasen.“
Über diese Dinge spricht man nur im vertrauten Kreis, doch auch im Schatten der Kuppel des Mailänder Doms macht sich mittlerweile Unmut breit, seit im November 2009 die Kronzeugin Lea Garofalo entführt, ermordet und in 50 Liter Säure aufgelöst wurde. Dies ist der erste Fall in Mailand, bei dem ein Mord geschieht, die Leiche aber nicht gefunden wird. Für die Stadt war dies ein Schock, dessen Widerhall nur von der Scham jener gedämpft wurde, die endlich zugeben mussten, dass auch in der Lombardei die ’Ndrangheta keineswegs besiegt ist. Im Gegenteil, sie herrscht mittlerweile unangefochten. Die Geschichte der Kalabresin Garofalo erinnert an frühere Zeiten. Sie, deren Leben zwischen Mode, Design und Avantgarde-Architektur in hippen In-Vierteln verlief, brach das Schweigegebot über die Aktivitäten der ’Ndrangheta in der lombardischen Hauptstadt. Und diese reagierte mit einer Grausamkeit, die man bislang nur von der sizilianischen Mafia kannte. Auch Giuseppe di Matteo, der dreizehnjährige Sohn eines Kronzeugen, wurde 1996 in Sizilien in einem Säurebad beseitigt. Sein Vater Santino hatte die Bosse aus Corleone mit dem Attentat auf den Richter und Mafiajäger Giovanni Falcone in Verbindung gebracht.
Nun heißt es, dass die ’Ndrangheta durchaus zu noch blutigeren Warnungen an den italienischen Staat fähig ist, als sie seit Beginn des Jahres 2010 immer wieder erfolgen: Vor der Staatsanwaltschaft von Reggio Calabria explodierte ein Gasbehälter. Als Staatspräsident Giorgio Napolitano die Region besuchte, wurde ein Auto voller Waffen und Sprengstoff am Flughafen von Reggio Calabria gefunden. Richter, die sich dem Kampf gegen die kalabresische Mafia verschrieben haben, finden schon mal eine Pistolenkugel in der Post. Und im Oktober 2010 wurde nur 300 Meter vom Sitz der Antimafia-Behörde in der Hauptstadt Kalabriens eine Panzerfaust M80 „Zolja“ aufgefunden. Die radikalste Kehrtwendung in der Strategie der Kalabresen wäre es, den Schauplatz künftiger Attentate von Kalabrien in den Norden zu verlagern. Damit würde das Gefährdungspotenzial der ’Ndrangheta wieder stärker ins Bewusstsein der Menschen rücken. Denn Kalabrien hat der Staat aufgegeben. Die meisten Politiker, auch auf Regierungsseite, betrachten die Provinz mittlerweile als „verloren“.
Der stellvertretende Staatsanwalt von Reggio Calabria, Nicola Gratteri, der bei allen Ermittlungen gegen die Kalabresen an vorderster Front steht, sieht die Lage nicht ganz so kritisch: „Die Anschläge werden aufhören, bevor sie wirklich Aufsehen erregen. Sonst hätte die ’Ndrangheta nichts aus der Geschichte gelernt. Nach dem Mafiakrieg in Kalabrien hat der Staat mit aller Härte reagiert. Umfangreichen Ermittlungen folgten die sogenannten ‚Maxi-Prozesse‘, bei denen zahlreiche Angehörige der ’Ndrangheta verurteilt wurden. Das war ein harter Schlag für die meisten Familien. Daher glaube ich, dass der Angriff auf die Institutionen des Staates in Kalabrien begrenzt bleiben wird und aus einem gewissen Machtvakuum hervorgeht. Viele Bosse wurden verhaftet, neue Kräfte streben nach Machtgewinn. Möglicherweise waren die verhinderten Attentate Machtproben, mit denen das interne Gleichgewicht wiederhergestellt werden soll. Als würde man sich sagen: ‚Jetzt lege ich erst mal die Bomben, dann sehen wir weiter.‘ Ich glaube, die Oberbosse der ’Ndrangheta fahren im Moment diese Strategie. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass es ein gemeinsames Vorgehen der Paten gibt. Es ist klar erkennbar – und unsere Ermittlungen weisen ebenfalls in diese Richtung –, dass von den gewaltbereitesten und unversöhnlichsten Mitgliedern eine Art stillschweigendes Einverständnis kommt, das signalisiert, dass hinter schwerwiegenden Ereignissen wie diesen eine doppeldeutige Botschaft steht.“
