Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kuipergürtel im SOL-System, Forschungsstation CAVE, 17. Januar 2266, 00:10 Uhr

Seit über einer Stunde saß Admiral Juri Michalew in einem der Konturensessel und starrte auf den Stasetank. Er konnte einfach nicht den Blick abwenden, sich keiner anderen Arbeit widmen – obwohl es genug davon gab.

Direkt vor ihm, nur eine Armeslänge entfernt, lag der Stasetank von der PROTECTOR. Unter einer konvexen Oberfläche aus transparentem Stahl zeichneten sich die Konturen des darin liegenden Parliden ab. Juri lachte auf. Des niederen Parliden. Ein Unterschied, der weit deutlicher ins Gewicht fiel, als das Gros der Menschheit auch nur ahnte.

Bevor Captain Cross den Tank aus dem Elnath-System mit nach Hause gebracht hatte, waren Juris Pläne klar gewesen, und obendrein entwickelte sich alles prächtig. Doch jetzt hatte sich alles verändert. Er konnte den nächsten Schritt nicht einleiten, nicht handeln. Er musste warten, bis die Wissenschaftler ihre Arbeit vollendet hatten. Ihm wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, dass er die einmalige Chance vertan und für eine Intervention gestimmt hatte.

»Sir?«

Juri zuckte innerlich zusammen, ließ sich äußerlich jedoch nicht anmerken, dass er seinen Adjutanten nicht hatte kommen hören.

»Randall, Sie hier«, sagte er. »Was gibt es?«

Wie immer wand Randall Trace sich wie ein Aal.

Der hochgewachsene dürre Mann wirkte kaum wie ein Offizier der Space Navy. Die Uniform schlackerte an seinem Körper, das Haar war meist fettig, und aufgrund der Blässe, die seine Haut überzog, hätte man den Offizier für eine wandelnde Leiche halten können.

»Schlechte Neuigkeiten? Nun spucken Sie es schon aus!« Juri stand nicht der Sinn danach, diesen Waschlappen zu schonen. Er hatte ihn überhaupt nur als seinen Adjutanten angenommen, weil er seiner Familie einen Gefallen schuldete. Eines musste man Randall immerhin lassen: Er glich wahrlich einer Spinne. Sein Netz aus Informanten durchzog die Space Navy ebenso wie das Kabinett der Präsidentin.

»Sir, es tut mir leid, aber mir ist soeben zu Ohren gekommen, dass Admiral Sjöberg über Admiral Zhang bei der Präsidentin interveniert, um ebenfalls Zugriff auf den Parlidenkörper zu erhalten.«

»Der Waschlappen hat sich Zeit gelassen«, erwiderte Juri abfällig. Sjöberg war eine wahre Plage. Zuerst riss er das HYPERION-Projekt an sich, dann schnappte er sich die Federführung über das Fraktal-Projekt. »Aber darüber müssen wir uns keine Sorgen machen. Als er den Wissenschaftlern gestattete, das Fraktal auf dem Mars zu platzieren – und das, obwohl er durch Cross' Bericht hätte wissen müssen, wie gefährlich es ist –, hat er sich selbst einen Pulserschuss ins Bein gejagt.« Juri schüttelte den Kopf über so viel Dummheit. Ein Wunder, dass es nur einige Leichtverletzte gegeben hatte. »Ich werde meine Leute im Kabinett aktivieren. Der Parlide bleibt genau da, wo er ist: in meiner Obhut.«

»Eine gute Idee, Sir.« Randall nickte eifrig. »Was gedenken Sie wegen des Fraktals zu unternehmen?«

»Ich denke, es wird Zeit, der Presse ein paar Informationsbrocken vor ihre geifernden Mäuler zu werfen. Sorgen Sie dafür, dass die Regenbogenpresse erfährt, wer für das Debakel auf dem Mars verantwortlich ist. Immerhin wurde die gesamte Bevölkerung bewusstlos. Zu wie vielen Toten kam es dabei noch gleich? Ach, egal. Aber kein Wort über das Artefakt. Bezeichnen Sie es als 'Fehlgeschlagenes Experiment'. Wenn das neue Labor steht, will ich die Kontrolle über das Projekt. Mit den Rentalianern werde ich schon fertig.«

»Ich veranlasse das umgehend, Sir«, sagte Randall, während seine Finger über sein Memopad glitten. »Eine ausgezeichnete Idee, wenn ich das bemerken darf.«

Juri schenkte Randall einen durchdringenden Blick, worauf das debile Grinsen von dessen Gesicht verschwand. Vielleicht sollte er seine ursprüngliche Idee doch umsetzen und seinen Adjutanten auf eine Reise ohne Wiederkehr schicken. Gleiterunfälle geschahen zwar selten, aber ab und an … Er schüttelte den Kopf und verwarf den Gedanken.

»Gibt es sonst noch etwas?«

»Lieutenant Bruce Walker, Sir«, sagte Randall.

Maßlose Wut erfasse Juri. Walker, dieser dumme Hund, hatte wirklich alles falsch gemacht. Anstatt die Vorurteile der Crew auf subtile Art aufzubauen, war er mit voller Beschleunigung in den Konverter gekracht. »Ich denke, wir haben für Lieutenant Walker keine Verwendung mehr. Wenn ich recht informiert bin, befindet sich die HYPERION auf dem Weg zur NOVA-Station. Dort wird das Artefakt zusammen mit Lieutenant Walker übergeben. Ich bin sicher, auf einer so großen Station kommt es ab und an zu Unfällen.«

Randall schluckte. »Aber Sir, wird man nicht vermuten, dass Sie dahinterstecken?«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich bin momentan nicht angreifbar.« Juri schlug die Beine übereinander und genoss das Gefühl, die Macht über Leben und Tod, über so viele Schicksale in seinen Händen zu halten.

»Ich setze einen unserer Leute darauf an«, bestätigte Randall. »Darf ich fragen«, er räusperte sich, »wann Sie wegen des Parliden tätig werden wollen?«

»Bald. Aber vorher benötige ich noch etwas von unseren Freunden in den weißen Kitteln. Und jetzt, Lieutenant Trace, sollten Sie sich wieder an Ihren Schreibtisch begeben.«

Randall schluckte, nickte und wandte sich um. Er konnte gar nicht schnell genug davonkommen, und Juri schüttelte den Kopf über so viel Speichelleckerei gepaart mit Angst. Aber immerhin war er tüchtig. Sein letzter Adjutant hatte wirklich zu gar nichts getaugt.

Juri versank wieder in der Betrachtung des Stasetanks. Er musste seine Pläne erneut ändern. Wie damals, als Noriko Ishida ihn kurz vor der Durchführung des nächsten Schritts ins Abseits gedrängt hatte. Dieses Mal würde er nicht wieder Jahre verstreichen lassen, doch er musste vorsichtig sein. Es galt, wohlüberlegt vorzugehen. Es musste ihm irgendwie gelingen, den Parliden für sich zu nutzen. So schwer konnte das doch nicht sein.

Die Zeit verstrich, und in seinem Geist nahm ein neuer Plan Gestalt an.

*

HYPERION, Auf dem Weg zur NOVA-Station, 19. Januar 2266, 08:30 Uhr

Lieutenant Tess Kensington nippte vorsichtig an ihrem heißen ViKo-Drink, bevor sie ihn wieder in die Haltevorrichtung an ihrer Konsole stellte. Nach dem Trubel im Kartas-System tat es gut, wieder der einfachen Routine zu folgen: Dienst auf der Brücke, ein wenig Sport und erholsame Stunden in geselliger Runde im Vergnügungsbereich des Schiffes. Keine fliegenden Torpedos, keine einschlagenden Laser und keine Hackerangriffe von Verrätern.

Sie gähnte. Die Wirkung des Koffein-Zusatzes im ViKo ließ heute besonders lange auf sich warten. Sie warf einen Blick auf Captain Cross, der auch nicht gerade fit wirkte. Sie musste unweigerlich grinsen und wandte ihr Gesicht schnell wieder der Konsole zu.

Genau in diesem Moment flammte ein graues Icon auf. Eine unbekannte Signatur, stellte sie fest. Bevor sie Feinjustierungen vornehmen konnte, um herauszufinden, um wen oder was es sich handelte, verschwand die Signatur aus der Ortung.

Hier draußen konnte ein solcher Ortungsimpuls alles bedeuten. Vermutlich hatten die Sensoren einen Asteroiden falsch interpretiert und das Icon nach einer Reklassifizierung deaktiviert.

»Sir, ich habe Meldung vom Maschinenraum. Der Auftank-Vorgang ist beendet«, meldete Lieutenant McCall. »Wir können den Interlink-Flug fortsetzen.«

»Lieutenant Task, bringen Sie uns zur NOVA-Station«, befahl Captain Cross.

Tess beschloss, sich in aller Stille die Protokoll-Logs anzusehen. Wenn die internen Algorithmen eine fehlerhafte Einschätzung vorgenommen hatten, konnte sie die Informationen aus den Logs ablesen. Sie würde diese Sache in ihrem Schichtbericht erwähnen.

Wenige Minuten später baute sich die Interlink-Blase auf, und die HYPERION flog mit 6200-facher Lichtgeschwindigkeit Richtung NOVA-Station.

III

Enthüllungen

Sol-System, Kuipergürtel, Forschungsstation CAVE, 20. Januar 2266, 08:30 Uhr

Admiral Juri Michalew versah den letzten Bericht des heutigen Tages mit seiner Signatur, dann berührte er das »Senden“-Icon. Damit war der Papierkram erledigt. Zeit für einen Drink. Während er seinen Kopf vorsichtig bewegte – selten war er so verspannt gewesen –, ging er zu der kleinen Anrichte, auf der gläserne Flaschen verschiedenster Formen standen. Er griff nach jener mit der goldgelben Flüssigkeit, kippte sie in ein bereitstehendes Glas und ging zurück zum Schreibtisch. Müde fläzte er sich in seinen Konturensessel und aktivierte die Massage-Funktion, bevor er vorsichtig an dem achtzig Jahre alten weganischen Whiskey nippte. Das torfige Aroma breitete sich in seinem Mund aus und floss feurig seinen Hals hinab.

Als ein abgehackter Signalton erklang, überlegte er ernsthaft, einfach nicht zu reagieren. Er war müde und angespannt, konnte sich kaum noch auf die Arbeit konzentrieren. Wenn sein unfähiger Adjutant schon wieder mit schlechten Nachrichten kam, würde er ihn aus der nächsten Luftschleuse schleudern. Vielleicht machte er das so oder so.

Er warf einen Blick auf den Monitor und fuhr elektrisiert in die Höhe. Ein paar Tropfen Whiskey spritzten auf seine Uniformhose. Noch während der selbstreinigende Stoff sich um das Problem kümmerte, sagte Juri: »Herein!«

Die Türhälften fuhren mit einem Zischen in die Wand und gaben den Blick auf Florian von Ardenne frei. Der Wissenschaftler war vor einigen Tagen dem Parlidenprojekt zugeteilt worden, damit dort endlich Fortschritte erzielt wurden.

 

»Treten Sie ein, Doktor«, sagte Juri und winkte dem gedrungenen Mann mit dem beachtlichen Bauchumfang ungeduldig zu. »Setzen Sie sich.«

»Danke, Sir.«

Wie gefordert nahm von Ardenne Platz und legte seine Hände entspannt ineinander verschränkt auf seinen Bauch. Sein schlohweißer Haarschopf stand wie üblich zerzaust in alle Richtungen ab, was ihm das Aussehen eines verwirrten Genies verlieh.

»Ich hoffe, Sie bringen gute Nachrichten«, sagte Juri. Instinktiv schob er das Whiskeyglas zur Seite. In der Flotte wurde es nicht gerne gesehen, wenn jemand echten Alkohol trank. Nicht umsonst wurde auf Schiffen meist nur dieses widerliche Vitamin-Koffein-Zeug ausgeschenkt. Er wusste, dass Florian von Ardenne kein Kostverächter war und selbst ab und an während der Arbeit etwas Härteres kippte. Solange der Wissenschaftler Ergebnisse lieferte, wurde darüber hinweggesehen. »Auch einen?« Er deutete auf das Glas.

Der Wissenschaftler zögerte kurz, schüttelte aber den Kopf. »Danke, Sir. Auch wenn ich ihn jetzt nötig hätte. Ich fürchte, ich bringe schlechte Neuigkeiten.« Er rieb sich erschöpft die Augen. »Wir haben auf der Grundlage von Doktor Petrovas Analysen weitere Scans angefertigt und einen Weg gesucht, die Verbindung zu trennen.«

»Es ist misslungen«, sagte Michalew mit schwacher Stimme.

»Ich fürchte, so ist es. Es steht außer Frage, dass wir das Problem grundsätzlich lösen können, doch dafür benötigen wir mehr Zeit.«

»Die haben wir nicht, Doktor.« Beinahe hätte Juri sein Glas gegen die Wand geworfen. In letzter Sekunde beherrschte er sich und stürzte stattdessen den Rest der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in einem Zug hinunter. »Sie sind Geheimnisträger, Sie haben Zugriff auf alle Berichte und Dokumente, die der Admiralität zugehen. Lesen Sie zwischen den Zeilen, Doktor.«

»Sie meinen, es wird einen Krieg geben?«

Michalew lachte bellend. »Nein! Das ist ja das Problem. Das wird es nicht. Diese Sesselfurzer in der Regierung werden debattieren, Sanktionen beschließen und Reden halten, doch niemals feuern die den ersten Schuss ab. Nicht unter Präsidentin Ione Kartess. Die Frau weiß, wie das Spiel funktioniert. Glauben Sie ernsthaft, dieses Weib riskiert ihre Wählerstimmen?«

»Sollten wir ihr dann nicht dankbar sein?«

Michalew mochte von Ardenne. Der Mann neigte zwar zur Selbstüberschätzung und Arroganz, doch er ließ sich nicht einschüchtern, sagte offen seine Meinung. »Das dachte ich bisher auch. Doch nun sitzen Sie vor mir und erklären, dass wir noch Monate benötigen, bis ein geeignetes Mittel hergestellt ist. Diese Zeit haben wir nicht.«

»Warum nicht?«

Kommentarlos aktivierte Juri den im Schreibtisch integrierten Holo-Projektor. Innerhalb von Sekunden manifestierten sich Lichtpunkte, zerflossen und erschufen eine Szene. »Das sind die Aufnahmen eines Kampfes zwischen dem Interlink-Kreuzer HYPERION und einem Parlidenschiff im Elnath-System. Die Aufzeichnung stammt von einer der Außenkameras.« Juri stoppte die Aufzeichnungen, als der feindliche Raumer im Feuer der Torpedos explodierte. »Deshalb können wir nicht länger warten. Was denken Sie, geschieht, wenn die Wahrheit publik wird?«

»Dann wird die Präsidentin eine Flotte …«

»… aus Diplomaten losschicken – und das zu Recht. Sobald die Presse sich einschaltet, hat sie keine andere Wahl mehr. Solange diese Informationen aber geheim bleiben, gibt es eine zweite Option: eine Streitmacht, die gegen die Parliden losschlägt.«

»Ich glaube nicht, dass sie das tun wird.«

»Nein, vermutlich nicht.« Juri erhob sich. »Aber ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen, unseren trägen Politikern einen Schubs zu geben.«

»Was ist mit Sjöberg? Sollte er nicht erfahren … Nun ja … Sie wissen, was ich meine«, sagte von Ardenne.

Dies war einer der wenigen Momente, in denen Juri Mitleid mit seinem Feind hatte. Seitdem er Admiral Björn Sjöberg kannte, standen sie sich als Kontrahenten gegenüber. Ob im Rat der Admiralität oder – durch allerlei Verbindungen und Bestechungen – in der Politik. Doch heute war das anders. Und, wie Juri es Doktor Irina Petrova vor vielen Wochen versprochen hatte, er würde diese eine Waffe nicht gegen Sjöberg einsetzen.

Wenn alles wie erhofft funktionierte, wäre das auch gar nicht nötig. Und sollte es doch anders kommen, lag sein Ausweichplan bereit. So oder so, der Moment der Entscheidung war gekommen.

Er aktivierte das interne Komm-System und befahl seinem Adjutanten, eine Notfallsitzung des Rates einzuberufen. »Und bitten Sie auch die Präsidentin dazu«, schloss er.

Bevor der verblüffte Randall nachhaken konnte, hatte Juri die Verbindung wieder beendet.

Doktor von Ardenne verabschiedete sich mit besorgtem Blick. Er ahnte, was bald auf sie alle zukommen würde.

Juri starrte für einige Sekunden durch das Bullauge, bevor er sich erhob und sein Whiskeyglas erneut füllte. Rien ne va plus; nichts geht mehr.

*

Raumstation NOVA, Alzir-System, 21. Januar 2266, 08:30 Uhr

»Sir, ich beende in zehn Sekunden den Interlink-Flug«, meldete Lieutenant Peter Task in seiner typisch lethargischen Sprechweise von der Navigationskonsole.

Jayden lehnte sich entspannt in seinem Konturensessel zurück und beobachtete den Holotank im Zentrum der Kommandobrücke. Es dauerte nicht lange, und das Status-Symbol auf seiner Konsole wechselte von Interlink- auf Pike-Antrieb. Das Schiff raste mit einer Restgeschwindigkeit von 0,45 LG auf die inneren Planeten zu, während es mit 3700 m/s² abbremste.

»Sir, ich etabliere den Kontakt zu den stationierten Überlichtplattformen«, meldete Lieutenant Kensington von der Ortungskonsole. »Unser Code wird akzeptiert, Phasenverbindung steht.«

Um die Entfernung von etwas mehr als 16 AE ins Innere des Systems zurückzulegen, benötigten die Schiffssensoren normalerweise viele Stunden. Stattdessen behielten die stationären Überlichtplattformen das System mit ihren integrierten Sensoren im Blick und leiteten die Daten über eine Phasenfunkverbindung an einfliegende Schiffe der Space Navy und die Station weiter.

»Ich schalte uns auf den Kamera-Feed eines Überwachungssatelliten von NOVA«, sagte Kensington mit einem verschmitzten Grinsen. Sie ahnte wohl, worauf jeder schon sehnsüchtig wartete: den Anblick der Raumstation.

Jayden starrte, wie jeder seiner Offiziere, auf den Holotank, in dem sich NOVA manifestierte. Es war etwas Besonderes, hier zu sein; jene Raumstation zu besuchen, bei der sich die Flotte im Parlidenkrieg gesammelt hatte, um zur finalen Schlacht aufzubrechen. NOVA war Legende.

Vor neunzig Jahren erbaut, schwebte die Station im Grenzgebiet zwischen dem Raum der Parliden, der Rentalianer und der Menschheit. Aus Angst vor einem weiteren Krieg hatten die Vorgänger von Präsidentin Kartess die Raumstation nach und nach zu einer wahren Festung mit angeschlossener Raumwerft ausgebaut. Da es jedoch zu keinen erneuten Kampfhandlungen gekommen war, hatte sich NOVA zu einem Grenzposten entwickelt. Auf dem einzigen bewohnbaren Planeten des Systems war eine Kolonie entstanden, die sich hauptsächlich aus den Familien und zivilen Arbeitern der Station zusammensetzte. Mittlerweile lebte dort die dritte Generation.

NOVA glich in ihrer Form einem anthrazitfarbenen Ovoid, der von drei Ringen umhüllt wurde. Jeder Ring war durch mehrere Verstrebungen mit dem Hauptteil verbunden. Überwachungssatelliten, Torpedoforts, Überlichtplattformen und Phasenstörer hüllten NOVA in eine schützende Kugelschale, die vor feindlichen Angriffen warnen und die Station verteidigen konnte. In einer Entfernung von 0,2 AE drehte sich die blau-grüne Kugel von Alzir I, die von ihren Bewohnern Pearl genannt wurde.

»Sir, wir erhalten eine Nachricht von NOVA«, sagte Lieutenant Sarah McCall routiniert, während sie auf ihrer Kommunikationskonsole etwas eingab und parallel in ihr Headset lauschte. Die junge Frau mit dem braungelockten Haar blickte nicht mehr ganz so schüchtern drein wie in den vergangenen Wochen. Ihr Selbstbewusstsein wuchs langsam, aber stetig. Trotzdem wirkte sie noch immer wie ein Küken, das man viel zu früh aus dem Nest seiner Mutter gestoßen hatte. »Es ist Commodore Harris.«

Mit einem Nicken gab Jayden ihr zu verstehen, das Gespräch anzunehmen. Im Holotank baute sich das Abbild des kommandierenden Offiziers von NOVA-Station auf.

»Captain Cross«, grüßte Harris mit dröhnender Bassstimme. Sein weißes Haar hatte eine Vielzahl lichter Stellen, sein Vollbart glänzte seidig. »Wir haben hier selten einen solchen Helden zu Gast.«

Für einige Momente verschlug es Jayden ob dieses Verweises auf sein Meisterstück bei Tikara II – wo er eine Kolonie gegen eine angreifende Flotte des Eriin-Bundes verteidigt hatte – die Sprache. Es gelang ihm jedoch, sich zu fassen und die gekräuselten Mundwinkel von Commander Ishida zu ignorieren. »Danke, Sir. Es freut uns auch, dass wir hierher beordert wurden. NOVA ist etwas Besonderes.«

»Das ist sie«, sagte Harris geschmeichelt. »Und Sie kommen, wie mir mitgeteilt wurde, mit wertvoller Fracht. Ich werde Ihre Ankunft direkt an die Admiralität melden. Das rentalianische Schiff PI-RA-Irgendwas – ich kann mir diese verdammten Kettennamen einfach nicht merken – verspätet sich etwas.«

Jayden warf kurz einen Blick auf die Status-Konsole jenes Kreuzers, den sie noch immer im Schlepptau mit sich führten. Sie hatten die SE-RA-TA-LA-MU mit Traktorstrahlen an die HYPERION gekettet, um sie bei NOVA-Station an ein rentalianisches Schiff zu übergeben. An Bord befand sich der zweite Teil jenes geheimnisvollen Artefaktes, auf das sie erstmals im Elnath-System gestoßen waren.

»Ich würde mich freuen, Sie zum Essen an Bord der Station begrüßen zu dürfen«, sagte Harris und riss Jayden damit aus seinen Gedanken. »Ihren Offizieren steht es natürlich frei, die Station oder Pearl zu besuchen. Nach so vielen Monaten an Bord eines Raumschiffes stürzen sich die meisten Crews geradezu durch die Atmosphäre an den nächstbesten Sandstrand.« Er lachte dröhnend. »Ich kann Ihnen versichern, die goldenen Sandstrände der südlichen Areale sind nicht umsonst für ihre Schönheit bekannt.«

»Ich nehme Ihr Angebot gerne an, Commodore«, sagte Jayden dankbar. »Und meine Crew wird die Gelegenheit sicher auch ergreifen, ein wenig planetare Luft zu schnuppern.«

»Also abgemacht. Ich werde Sie abholen lassen, sobald die HYPERION angedockt hat. Harris Ende.«

Das Abbild des Commodore verschwand und machte wieder dem Bild der NOVA-Station Platz.

»Arbeiten Sie einen Rotationsplan aus, der es jedem an Bord gestattet, wenigstens einige Stunden am Boden zu verbringen«, sagte Jayden an Commander Ishida gewandt. »Ich denke, es reicht, wenn eine Rumpfmannschaft zurückbleibt.« Auf das Nicken seiner I.O. fügte er hinzu: »Und achten Sie darauf, dass Sie selbst auch ein wenig Freizeit abbekommen.« Er zwinkerte ihr zu.

»Natürlich, Sir! Ich denke, in der letzten Schicht werde auch ich mir Pearl genauer ansehen. Es soll dort einige beeindruckende Lagunen in den Küstenregionen geben.«

»Vermutlich ist für jeden etwas dabei.«

Ein Icon auf seiner Konsole machte Jayden auf eine eingehende Nachricht von der Station aufmerksam. Sie stammte vom I.O. der Station und betraf die Ortungsoffizierin der HYPERION. »Lieutenant Kensington«, wandte er sich an diese. »Sie werden ebenfalls auf die Station gebeten, um bei der Anpassung des neuen Ortungsprotokolls behilflich zu sein. Scheinbar gibt es dabei einige technische Schwierigkeiten.«

»Natürlich, Sir.« Kensington blickte zu ihm auf. »Die Station erhielt erst vor Kurzem die verbesserten Sensorlinsen inklusive einiger Updates im Computerkern. Wir hatten vor dem Start der HYPERION ähnliche Probleme.«

Ab und an vergaß Jayden, dass sein Interlink-Kreuzer Vorreiter an vielen Fronten war – genau genommen an allen. Erst nach und nach erhielten die anderen Schiffe die von der HYPERION erprobten technischen Neuerungen, die sie auf ein ähnliches Level wie den Interlink-Kreuzer aufrüsteten. Gerade das Fehlen eines Holotanks machte sich oftmals in der Kommunikation bemerkbar. Einige Raumer arbeiteten teilweise noch immer mit altmodischen 3D-Monitoren, wodurch der Computer das übertragene Bild in ein holografisches umwandeln musste. Darunter litt die Qualität.

»Sir, ich werde Alpha 365 bitten, sich mit der Stationssicherheit in Verbindung zu setzen«, sagte seine I.O. »Wir sollten Lieutenant Bruce Walker so schnell wie möglich überstellen.«

 

Sie ließ sich nichts anmerken, doch die Ereignisse während des Kampfes im Kartas-System steckten ihr zweifellos noch in den Knochen. Jayden hatte den Gefangenen zwischenzeitlich in der Arrestzelle besucht. Der Mann war noch immer uneinsichtig und behauptete weiterhin, weder den Kommandoaccount von Ishida gehackt noch einen Torpedoschuss ausgelöst zu haben. Der Sicherheitschef und die Chefingenieurin hatten Mister Walker die Tat jedoch zweifelsfrei nachgewiesen, weshalb ihm ein Militärgericht bevorstand. Dem wahren Drahtzieher der Geschichte konnten sie einstweilen leider nichts anhaben.

Wenn die HYPERION das nächste Mal die Erde ansteuerte, würde Jayden ein ernstes Gespräch mit Admiral Juri Michalew suchen, der zweifellos hinter der Angelegenheit steckte. Sein Hass auf Ishida schien mittlerweile wahnhafte Züge angenommen zu haben.

»Machen Sie das, Commander«, sagte er. »Soll sich das Militärgericht mit ihm herumschlagen. Je eher ich ihn von meinem Schiff habe, desto besser.«

Er warf einen Blick auf die Konsole. Bis zum Erreichen der Station würden noch einige Stunden vergehen. »Ich bin in meinem Bereitschaftsraum.«

*

Das Schott öffnete sich zischend. Jayden kam es so vor, als betrete er eine andere Welt. Der Verbindungstunnel war in ein angenehmes weiches Licht getaucht, und die Wände bestanden rundum aus transparentem Stahl. Mehrere Schiffe hatten an den Landepods der Ringe angedockt, darunter nun auch die HYPERION.

»Eine beeindruckende Station«, sagte Jayden.

»Das ist sie.« Lieutenant Kensington schritt bedächtig neben ihm her. »Ich habe mir auf unserem Flug hierher die technischen Spezifikationen angesehen. NOVA ist Jahrzehnt für Jahrzehnt gewachsen und hat sich weiterentwickelt – wie ein organisches Lebewesen. Die Waffen entsprechen noch immer dem neuesten Stand, da die Station aufgrund ihrer exponierten Lage stetig gewartet und erweitert wird.«

Kensington hatte ihre Hausaufgaben gemacht, doch nichts anderes hatte er erwartet. Seit sie in der Schlacht im Elnath-System im Alleingang zwei Kreuzer der Parliden zerstört hatte, hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Sie erledigte die ihr zugewiesenen Aufgaben mit Elan, hatte stets ein Lächeln auf den Lippen und bewies ein ums andere Mal sowohl Kompetenz als auch Einfallsreichtum.

»Oh!« Die Augen der Offizierin verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Lieutenant?« Jayden folgte ihrem Blick und entdeckte einen braunhaarigen schlanken Mann, der am nächsten Schott Stellung bezogen hatte. Die Rangabzeichen wiesen ihn als Commander aus. »Kennen Sie ihn?«

»Ich fürchte, das tue ich, Sir.« Ihre Lippen bildeten einen kerzengeraden Strich und jede Emotion war von ihrem Gesicht gewichen.

Der Unbekannte entdeckte Jayden und trat auf ihn zu. »Mein Name ist Commander Zev Buckshaw, Captain. Commodore Harris schickt mich, damit ich Sie zu seinem Quartier bringe und mich um Ihre Kommunikationsoffizierin kümmere.« Er nickte Tess knapp zu. »Lieutenant.«

»Sir«, presste sie hervor.

»Sie beide kennen sich?«, hakte Jayden nach.

»Miss Kensington und ich hatten bereits das Vergnügen«, erwiderte der Commander.

»Verlieren wir uns doch hier nicht in gekünstelter Etikette. Mister Buckshaw und ich können uns nicht ausstehen. Wir hatten in der Vergangenheit an Bord der SANNING einige Meinungsverschiedenheiten, was sich auf meine Personalakte auswirkte.«

Jayden erinnerte sich an die Personaldatei seiner Ortungsoffizierin. Während all ihre bisherigen Vorgesetzten ein Loblied auf sie sangen, gab es eine einzelne Beurteilung, die so unterirdisch schlecht war, dass sie einem Offizier durchaus die Karriere versauen konnte.

»Wir sind jedoch erwachsene Menschen«, fügte Kensington hinzu. »Ich versichere Ihnen, Sir, unsere Arbeit wird nicht darunter leiden.«

»In Ordnung, Lieutenant, ich verlasse mich darauf.« Er bedachte sie mit einem durchdringenden Blick, bevor er dem Commander bedeutete, voranzugehen. »Dann wollen wir den Commodore nicht warten lassen.«

Buckshaw führte sie auf direktem Weg durch die belebte Station, vorbei an einer Gruppe von Offizieren, Werftarbeitern und Zivilisten, die offenbar eine Führung erhielten, zum Quartier des Stationskommandanten. Als Jayden sich verabschiedete und seine Ortungsoffizierin neben dem Commander davongehen sah, war er beunruhigt. Sobald sie wieder an Bord der HYPERION waren, würde er ein Gespräch mit Lieutenant Kensington führen. Bis dahin brachten die beiden sich hoffentlich nicht gegenseitig um.

*

»Ich hätte nicht gedacht, dass es jemand wie Sie auf die HYPERION schafft«, sagte Commander Zev Buckshaw überheblich, als Captain Cross außer Hörweite war. »Das Niveau in der Flotte ist doch weiter gesunken, als ich bisher dachte.«

Er machte sich nicht die Mühe, leise zu sprechen, was ihnen neugierige Blicke von vorbeigehenden Offizieren einbrachte.

»Ich frage mich, warum Commodore Harris Sie überhaupt hierher gebeten hat«, sagte er. »Ich habe ihm erklärt, dass Sie eher etwas zerstören werden, uns aber sicher keine Hilfe sind.«

Tess ballte beide Hände deutlich sichtbar zu Fäusten, schwieg jedoch.

»Ich denke, bevor ich Sie zur Kommandozentrale bringe, sollten wir uns unter vier Augen unterhalten, um einige Dinge klarzustellen.«

Tess schnaubte. »Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Sir.« Sie hatte die Pläne der Station studiert und längst bemerkt, dass sie sich nicht auf dem Weg zur Zentrale befanden. Gut so!

Buckshaw führte sie zu einem der multidirektionalen Lifte, mit dem sie weiter in die Tiefen von NOVA fuhren. Sie quetschten sich zu einer dichten Menschentraube in die Kabine.

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn sie unsere Ortungsstation nicht alleine aufsuchen würden«, sagte er hämisch – natürlich erneut laut und deutlich. »Die Systeme sind weitreichend vernetzt und äußerst komplex. Wir haben auch ohne Ihre Pfuscherei genug zu tun.«

»Da habe ich keinen Zweifel, Sir«, presste Tess hervor. »Vor allem, wenn Sie für die Personalführung verantwortlich sind.«

Buckshaw sog scharf die Luft ein. »Auf der HYPERION können Sie Ihren vorgesetzten Offizier vielleicht beleidigen, hier auf NOVA sollten Sie sich das aber verkneifen!«

Die Lifttüren öffneten sich und der Commander führte Tess durch einen verlassenen Gang. Dicht vor einem Schott blieb er stehen. Ein leises Ping signalisierte, dass die K.I. seine persönliche I.D. akzeptierte. Die Tür rollte zur Seite und schloss sich hinter ihnen wieder.

»Hab ich übertrieben?«, fragte Zev zaghaft und lächelte ihr zu.

Tess schüttelte grinsend den Kopf. »Das war perfekt.« Sie griff nach seiner Hüfte und zog ihn zu sich heran. »Gott, habe ich dich vermisst.«

Sie versanken in einem innigen Kuss.

*