Kluge Muskeln

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Muskeln und der „Spiritus animalis“



Wenn die Muskeln so wichtig sind, dann sollte man noch einen näheren Blick auf sie werfen. Eigentlich sind Muskeln ja nichts anderes als kleine Mäuschen. Ihr Name kommt aus dem Lateinischen und „Musculus“ bedeutet „Mäuschen“. Die Griechen nannten die Muskeln noch „Mys“, was „Maus“ heißt, die Römer verniedlichten sie zum Mäuschen.



Die lustig unter der Haut hüpfenden Muskeln interessierten schon die frühen Mediziner. Sie rätselten darüber, warum sich Muskeln überhaupt bewegen und ihre Form verändern können. Einer der ersten war Galen (129–216 n. Chr.), ein griechischer Arzt, der in Pergamon, dem heutigen Bergama, in der Türkei lebte. In zwei Büchern berichtet er „Über die Bewegung der Muskeln“ und stellt eine erste Theorie auf: Wird im Gehirn ein Gedanke zur Bewegung eines Muskels gefasst, fließt ein „Pneuma psychikon“ zu den Muskeln. Diese Substanz rege dann die Muskeln dazu an, sich zu verformen. Ärzte der Renaissance und frühen Neuzeit sprachen dann vom „Spiritus animalis“, einer geistigen Substanz, die beim Bewegungsgedanken in die Muskeln gepumpt werde, um diese aufzublähen.



Geheimnis „Muskelbewegung“



Diese Theorie hielt sich hartnäckig bis ins 17. Jahrhundert. Erstmals ins Wanken brachte sie der niederländische Naturforscher Jan Swammerdam (1637–1680). In Experimenten mit Froschschenkeln zeigt er, dass Muskeln ihr Volumen in Bewegung nicht verändern. Eine Substanz, wie immer sie auch heißen möge, um Muskeln aufzublähen, konnte es also gar nicht geben. Es dauerte dann aber noch bis Ende des 18. Jahrhunderts, bis Forscher erkannten, dass Nerven elektrische Impulse an die Muskeln übertragen, um diese zur Bewegung zu stimulieren. Legendär sind dafür die Experimente von Luigi Galvani (1737–1798), einem italienischen Mediziner und Naturforscher, der in Bologna lebte. Inspiriert hatte Galvani dabei der Zufall. Weil seine Frau krank geworden war, wollte er ihr eine Freude bereiten und ihr eine kräftigende Suppe aus in Fett gesottenen Froschschenkeln zubereiten. Galvani zerlegte die Tiere in seinem Labor, wo er mit seinem Assistenten mit einer Reibungselektrisiermaschine experimentierte.



Luigi Galvani lüftet ein Geheimnis



Als sein Assistent die Maschine in Betrieb setzte, zog sie wie immer lange Funken. Galvani, vertieft ins Sezieren, berührte dabei den freigelegten Nerv des Froschschenkels mit seinem Messer – die Muskeln zuckten. Unbeabsichtigt hatte er einen Stromkreis hergestellt – und entdeckt, dass Muskeln durch Elektrizität erregt werden können.



Bis zur Erklärung, wie Muskeln elektrische Nervenimpulse in einer Kaskade von biochemischen Vorgängen zu Bewegung verarbeiten, vergingen aber noch einmal mehr als 200 Jahre. Eine schlüssige Erklärung dafür brachten Forscher erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Kurzfassung davon ist die: In den Muskelzellen schieben sich bei einem Bewegungsimpuls zwei Eiweißschichten übereinander. Bei Entspannung des Muskels gleiten diese wieder auseinander. Beim Anspannen verkürzen sich die Muskelzellen, beim Entspannen verlängern sie sich wieder. Damit das passieren kann, spielt freilich eine halbe LKW-Fuhre an chemischen Stoffen mit.





Bewegt euch!



Muskeln sind von ihrem anatomischen Aufbau auf den ersten Blick ziemlich einfach gestrickt und mit vielteiligen „Kabelsträngen“ vergleichbar, die selbst wieder aus vielen Muskelfaserbündeln zusammengesetzt sind. Zoomt man näher an die Muskeln heran, sieht man, dass die einzelnen Muskelfasern in den „Kabelsträngen“ noch einmal in Muskelzellen unterteilt sind, die sogenannten Muskel- oder Myofibrillen. Und auch diese sind noch immer etwas „Zusammengesetztes“. Sie bestehen nämlich aus winzigen aneinandergereihten Kammern, den „Sarkomeren“. Das Wort „Sarkomer“ deutet schon darauf hin, was die Anatomen darunter verstehen. „Sarkomer“ steht für „sárx“, was „Fleisch“ bedeutet und „méros“, das für „Teil“ steht. Ein „Sarkomer“, also „Fleischteil“, ist die kleinste funktionelle Einheit der Muskeln.



Wie Muskeln aufgebaut sind



Unter dem Mikroskop sind die Sarkomere übrigens als Querstreifen erkennbar. Die Skelettmuskeln werden daher auch als „quergestreifte“ Muskulatur bezeichnet. Damit unterscheiden sie sich von der „glatten“ Muskulatur, die im Darmtrakt und den Blutgefäßen für Bewegung sorgt. Die glatte Muskulatur besitzt zwar auch Sarkomere, diese sind aber nicht so regelmäßig angeordnet, dass man ein Muster erkennen könnte – deshalb: „glatte Muskulatur“. Der Herzmuskel, übrigens auch quergestreift, nimmt eine Sonderstellung ein. Er kann, so wie die glatte Muskulatur, nicht willentlich gesteuert werden. Dafür aber hat er ein eigenes Erregungssystem.



Anatomen teilen die Skelettmuskeln in Spieler und Gegenspieler ein, in „Agonisten“ also und in „Antagonisten“ – aber auch in „Synergisten“, wenn bei einer Bewegung mehrere Muskeln zusammenspielen. Im Prinzip erfüllen alle Muskeln auf den ersten Blick nur eine klar definierte Aufgabe: Wenn die Zentrale Gehirn via Nerven den Impuls an die Muskeln für „beweg dich“ schickt, verkürzt sich aktiv Muskelgewebe im Agonisten und wird Muskelgewebe im Antagonisten passiv gestreckt.



Das kann im Zusammenspiel ganzer Muskelpartien äußerst komplizierte Bewegungsmuster erzeugen. Man denke nur an die virtuosen Artisten im Cirque du Soleil, an Turmspringer oder Turnerinnen. Das ist Körperbeherrschung pur und höchste Bewegungskunst. Hier laufen parallel hunderte Muskelan- und -entspannungen ab und das Spiel zwischen Agonisten, Antagonisten und Synergisten wird zu einem kunstfertigen Spiel in Reinkultur. Muskeln haben freilich auch noch eine Funktion, auf die gerne vergessen wird. Sie sind nicht nur Bewegungsermöglicher, sondern stützen und stabilisieren auch Knochen und Gelenke.



Gerader Rücken schützt beim Bücken!



Zum Beispiel versehen entlang der Wirbelsäule in den tiefen Schichten der Rückenmuskulatur gelenksnahe kurze Muskeln ihren Dienst, indem sie die Wirbelkörper stabilisieren und die Bandscheiben schützen. Sind diese Muskeln geschwächt, kann sich das bald in Rückenschmerzen bemerkbar machen. Aber davon später mehr. Muskelgeführt sind auch die großen Gelenke, das Knie, die Hüfte oder die Schulter. Auch hier arbeiten immer Muskelgruppen zusammen. Ein Muskel allein, so kann man sagen, wird bei alltäglichen Bewegungen so gut wie nie bewegt. Schon an einem Stirnrunzeln sind 40 Muskeln beteiligt.



Und wenn man an ein Mozart-Klavierkonzert denkt, wird erst klar, wie wunderbar feinfühlig und unglaublich komplex so ein Befehl „beweg dich“ überhaupt von einem virtuosen Klavierspieler ausgeführt werden kann. Für die mentale Fitness ist Klavierspielen – oder überhaupt das Spielen eines Musikinstrumentes – übrigens hervorragend geeignet. Für die körperliche Fitness aber kommt es darauf an, die großen Muskelpartien des Körpers zu bewegen. Von Schultern, Rücken, Bauch bis zu den Beinen und Armen. Das aber hat durchaus auch positive Auswirkungen auf die Intelligenz, wie Studien zeigen. Aber davon später.



Skelettmuskeln haben trotz ihres kabelstrangartigen Aufbaus eine große Bandbreite, was Größe, Form und Design betrifft. Sie können spindelförmig, riemenartig, spiralig, zweibäuchig, dreiköpfig, ringförmig, dreieckig, einfach, doppelt oder mehrfach gefiedert oder auch platt wie eine Flunder sein.



Variantenreiches Muskeldesign: Form folgt der Funktion



Je nachdem, ob ein Muskel für große Kraft, einen großen Bewegungsumfang, für eine oder gleich mehrere Aktionen verantwortlich ist, sind die Muskelfasern verschieden angeordnet. Die Anordnung der Fasern lässt sich praktisch aber immer in eine von zwei Kategorien einteilen: Parallel oder gefiedert.



Von gefiederten Muskeln spricht man dann, wenn ihr Design einer Vogelfeder gleicht. Dabei setzen die Muskelfasern in einem schiefen Winkel an einer zentralen Sehne an. Dieses Bauprinzip setzt der Körper dann ein, wenn ein Muskel mehr Kraft, dafür aber einen geringeren Bewegungsumfang gene-rieren soll. Ein einfach gefiederter Muskel ist etwa der hintere Schienbeinmuskel, der den Fuß sohlenwärts bewegen und den inneren Fußrand heben kann. Doppelt gefiederte Muskeln finden sich in der Hand (M. lumbricales), aber auch im Oberschenkel. Ein Beispiel für einen mehrfach gefiederten Muskel ist der Deltamuskel (M. deltoideus), der wie ein Paket über dem Schultergelenk liegt und gemeinsam mit anderen Muskeln die Rotatorenmanschette bildet, die den Kopf des Oberarmknochens in der Gelenkspfanne hält.



Der berühmte Bizeps besteht hingegen aus parallel angeordneten Fasern. Sein Kennzeichen ist, dass er über einen großen Muskelbauch und kräftige Sehnen verfügt. Im Gegensatz zu gefiederten Muskeln verfügt er über weniger Kraft. Dafür aber kann er Oberarm- und Unterarmknochen perfekt zueinander bewegen – insofern ihm dabei der Trizeps auf der Rückseite des Oberarms zur Seite steht und mit ihm gemeinsam das Spiel des Spielers und Gegenspielers ausführt.



Andere Muskeln, wie etwa der längste Muskel, den der Mensch besitzt, der Schneidermuskel am Oberschenkel, sind mit einem Riemen vergleichbar. Dreieckig, mit aufgefächerten Fasern, ist dafür etwa der große Brust- und Rückenmuskel.



Das „Arskratzermäuslein“



Welcher der größte Muskel des Körpers ist, kann nicht so einfach beantwortet werden. Flächenmäßig ist es ist der große Rückenmuskel. Dieser „Musculus latissimus dorsi“ ist dafür verantwortlich, dass man die Arme an den Oberkörper heranziehen und diese der Länge nach verdrehen kann (Innenrotation). Gemeinsam mit dem Trapezmuskel formt der Latissimus den oberen Rücken. Mit dem Latissimus kann man den Arm mit der Hand nach außen gedreht in Richtung Gesäß bewegen. Früher wurde er daher auch als „Schürzenbindermuskel“ bezeichnet. Noch ältere Übersetzungen sprechen vom „Arskratzermäuslein“. Der große Rückenmuskel macht sich übrigens auch beim Husten bemerkbar und wird, weil er gleichzeitig auch ein Atmungshilfsmuskel ist, als „Hustenmuskel“ bezeichnet. Hartnäckiger Husten kann daher zu einem Muskelkater im Latissimus führen.

 



Fragt man nach dem Muskel mit dem größten Volumen, dann ist das der Musculus gluteus maximus, der große Gesäßmuskel. Er ist für uns Zweibeiner nicht von ungefähr so groß ausgefallen, da er für den aufrechten Gang, die Streckung im Hüftgelenk und die Stabilisierung des Oberschenkels eine unerlässliche Funktion hat. Dass er neben seiner Funktion als „Sitzfleisch“ auch noch eine erotische Komponente besitzt, ist eine andere Geschichte, die hier nicht verhandelt wird. Mit vielen Beinübungen wird er mittrainiert, etwa durch Kniebeugen, Beinpressen, Ausfallschritte oder Treppensteigerübungen.



Hitparade der Muskeln



Aber wenn wir gerade bei der „Hitparade der Muskeln“ sind: Der stärkste Muskel des Menschen befindet sich, anders als viele annehmen, nicht an Armen oder Beinen, sondern am Schädel. Es ist der Kaumuskel „Musculus masseter“, der als stärkster von vier Kaumuskeln für den Kieferschluss verantwortlich ist. Beim normalen Kauen entwickelt er eine Kraft von 30 Newton, also drei Kilo. Er kann aber auch ein Vielfaches davon erreichen und sich auf bis zu 4000 Newton, also 400 Kilogramm Beißleistung, aufschwingen.



Als aktivste Muskelgruppe fungieren die Augenmuskeln. Sie zeigen bei lang andauernden Tätigkeiten die geringsten Ermüdungserscheinungen. Dafür werden sie besonders gut mit Nerven versorgt und verfügen über eine hohe Blut- und Sauerstoffkapazität.



Der kleinste Muskel mit einer Länge von 0,27 Millimeter sitzt übrigens im Ohr, heißt Steigbügelmuskel (Musculus stapedius) und sorgt mittels Kontraktion dafür, dass das Gehörknöchelchen namens „Steigbügel“ bei zu lauten Geräuschen nicht mehr so stark schwingen kann. Damit wird das Innenohr vor zu hohen Schallpegeln geschützt.





Romeo und Julia im Muskeltheater



Muskelbewegung als Beziehungskiste



Warum bewegen sich Muskeln? Das war Forschern über Jahrhunderte ein Rätsel. Vom „Spiritus animalis“ haben wir ja schon gehört. Jetzt wollen wir einmal einen Blick in den Muskel werfen und uns ansehen, wie ein Muskel Bewegung biochemisch umsetzt. Nein, keine Sorge, das wird jetzt keine Medizin-Vorlesung! Vielmehr machen wir jetzt einen Ausflug in die Welt des Theaters, der großen Gefühle und der amourösen Abenteuer und, ja, das spielt sich in Ihren Muskeln ab! Sie kennen wahrscheinlich die Liebesgeschichte von Romeo und Julia oder von Tristan und Isolde. Großes Welttheater! Tragik und Romantik!








Die von Aktin und Myosin wird Ihnen wahrscheinlich weniger geläufig sein, außer Sie studieren gerade in den USA Medizin und lernen in einem Crashkurs den Muskelstoffwechsel. Den Studierenden wird der biochemische Stoffwechselprozess der Muskelbewegung als unglückliche Liebe zwischen zwei Hauptdarstellern, dem Eiweiß Aktin und dem Eiweiß Myosin, nähergebracht. Denn deren hindernisreiche Beziehungskiste erklärt, wie Muskeln in Bewegung biochemische Energie in mechanische Energie umwandeln. Dabei laufen parallel dazu eine Vielzahl an Stoffwechselprozessen ab, deren Details noch heute erforscht werden.



Aber sehen wir uns zuerst an, wo unsere beiden Hauptdarsteller Aktin und Myosin leben. Dafür müssen wir nicht nach Verona reisen, wo Romeo und Julia leben, sondern uns in die Welt der Muskeln begeben.



Im Sarkomer eines Skelettmuskels, der Muskelzelle, herrscht reges Treiben. Es ist der Ort, wo die Liebesgeschichte von Aktin und Myosin beginnt. Mit dem Blut werden in die Muskelzelle permanent Nährstoffe herangebracht. Sie werden in eigenen Kraftwerken, den Mitochondrien, für die Energieproduktion aufbereitet. Die Muskelzellen (oder genauer: die in ihnen schwimmenden Kraftwerke, die Mitochondrien) sind also der Ort, wo Kohlenhydrate und Fett verbrannt werden, damit der Muskel Energie für die Bewegung bekommt.



Und die Muskelzelle ist eben auch die Heimat unserer Hauptdarsteller Aktin und Myosin, diese unglücklich Verliebten, die an Romeo und Julia erinnern. Aktin und Myosin sind zwei schlanke Eiweißfädchen. Sie sind sozusagen die Einwohner der Muskelzelle und bevölkern das Sarkomer zu Tausenden. Und hier beginnt das romantische Muskeltheater der Bewegung: Das zarte Aktin hat entlang seines schlanken Körpers kleine Einbuchtungen und übernimmt in unserem Stück die weibliche Rolle der Julia. Das Eiweiß Myosin spielt den Romeo. Denn Myosin ist stärker und verfügt entlang seines Körpers über viele kleine Köpfchen.



„Liebe“ gibt es nur im bewegten Muskel



Unser Romeo würde nichts lieber tun, als sich in Aktins Einbuchtungen einzuschmiegen. Aber das gelingt ihm nur, wenn der Muskel in Bewegung ist. Ist der Muskel in Ruhe, gibt es zwischen Aktin und Myosin keine Berührung und keine noch so romantische Verbindung. Traurig sehen sich Aktin und Myosin im unbewegten Muskel nur von der Ferne und können nichts weiter tun, als einander entgegenzuschmachten …



Es ist Nacht. Die Muskeln sind in Ruhe. Unser Myosin-Romeo blickt mit seinen Köpfchen sehnsüchtig in Richtung Aktin-Julia. Eine lange Balkonszene, in der Myosin als Romeo des Muskelgewebes schmachtende Worte der Liebe an seine Julia richtet. Doch für eine Begegnung tête-à-tête zeigt sich keine Chance. Denn in Aktins und Myosins Heimat, dem Sarkomer, herrschen strenge Gesetze. Keine Muskelbewegung, keine Liebesromanze! Dafür sorgen eine Reihe von Gegenspielern, die Aktin und Myosin auseinanderhalten. Mit gesenkten Köpfchen muss unser Romeo zur Kenntnis nehmen, dass seine Julia von zwei kräftigen Bodyguards beschützt wird. Sie heißen Tropomyosin und Troponin, und so gerne sich Romeo zu Julia bewegen würde: die beiden Leibwächter versperren ihm den Weg.



Myosin versucht es mit einer List. Um Tropomyosin und Troponin dazu zu bewegen, ihren Dienst zu vernachlässigen, versucht er die Bodyguards zu bestechen. Dafür setzt er auf eine überall in Körperzellen hoch im Kurs stehende Währung. Das ATP – das berühmte Adenosintriphosphat. ATP ist die Muskelwährung schlechthin, denn sie ist reine Energie, nach der alle Handelnden in der Muskelzelle gieren.



ATP: Die „Muskelwährung“



Warum das ATP so gefragt ist, ist für jeden Muskelzellen-Einwohner klar. Denn mit ATP hat man bereits muskelgerecht aufgearbeitete Energie in der Hand. Kohlenhydrate, Fette? Damit kann in Muskelzellen niemand etwas anfangen. Erst wenn diese „Rohstoffe“ in den zelleigenen Kraftwerken, den Mitochondrien, mit viel Zugabe von Sauerstoff zu ATP „verbrannt“ werden, kommt Stimmung auf. In viel und gut bewegten Muskeln gibt es viel ATP, in schwachen Muskeln wenig.



Unser Myosin-Romeo ist traurig und wütend zugleich. Er befindet sich in einer Muskelzelle eines recht unsportlichen Zeitgenossen. ATP ist Mangelware. Auch wenn er sich anstrengen würde, er würde zu wenig ATP zusammenkratzen können, um Julias Leibwächter zu bestechen. Unser Romeo versucht es dennoch. Mit ein bisschen ATP in der Hand taucht er bei Julias Bodyguards auf. Die schauen ihn mürrisch und von oben herab an. „Es ist keine Bewegung angeordnet, hau ab“, teilen sie ihm mit. Romeo bleibt hartnäckig. Wenn er vielleicht noch ein bisschen ATP drauflegen könnte? Julias Leibwächter wiegen den Kopf. Romeo weiß, dass sie bestechlich sind. Ein wenig überrascht ihn dann ihre Antwort doch. „Wenn du uns noch ein bisschen Kalzium aufs ATP drauflegst, überlegen wir es uns.“ Kalzium also. Romeo weiß, wie wichtig Kalzium für die Erregbarkeit von Muskeln ist. Es befindet sich im Zellplasma und könnte durch eigene Pumpen in den Zellmembranen des Sarkomers herbeigeschafft werden.



Myosin fasst Hoffnung. ATP wäre, wenn auch wenig, vorhanden, die Kalziumpumpen könnten angeworfen werden und dann würden die Bodyguards Julia freigeben. Myosin-Romeo könnte ungehindert an seine geliebte Aktin-Julia andocken und der Himmel hinge voller Geigen …



Aber: es passiert nichts. Die Couchpotato ist vor dem Fernseher eingeschlafen und bewegt ihre Muskeln nicht. Die Bodyguards bewegen sich nicht weg. In der kleinen Muskelwelt bleibt alles beim Alten. Aktin weint, Myosin ist verzweifelt.



Wenn die Couchpotato in Bewegung kommt



Doch dann, als die beiden Liebenden sich schon mit ihrem Schicksal abzufinden beginnen, kommt plötzlich Hilfe von außen. Die Couchpotato hat Besuch bekommen. Myosin und Aktin hören einen Streit. Offensichtlich will ein Freund die Couchpotato zu einem Fitnessprogramm überreden. Nach vielen „Nein …“ „Keine Lust …“, „Morgen vielleicht …“ scheint sich der Freund tatsächlich durchzusetzen. „Na gut, aber nur eine halbe Stunde.“ Das Gehirn der Couchpotato, sozusagen der oberste Fürst und Muskeldirigent, fasst einen Beschluss. Bewegung ist angesagt! „Leute, es tut sich was!“ Myosin wird hellhörig und macht sich bereit. Wenn der Fürst eine Aktion plant, kann alles schnell anders werden.



Was der Befehl „Beweg dich!“ im Muskel bewirkt



Plötzlich herrscht im kleinen Sarkomer helle Aufregung. Der Befehl „Beweg dich!“ löst eine Kettenreaktion aus. Über Nerven und Motorneuronen kündigt sich ein elektrisches Aktionspotenzial an. Der elektrische Impuls jagt über Nervenendigungen und Synapsen zu den Muskeln hin. Muskelrezeptoren erkennen den Bewegungsbefehl als besonders wichtige Botschaft von außen und winken die Impulse durch. „Ok, rein mit euch.“ Augenblicklich öffnen sie Natrium-Kanäle und setzen den gesamten Muskel unter Strom.



Ohne große Hindernisse gelangt so der Impuls bis in die Heimat unseres Liebespaares, zu Aktin und Myosin, ins Innere der Muskelzelle. Jetzt geht alles ganz schnell. Im Sarkomer scheint auf den ersten Blick das Chaos auszubrechen. Eine Armada von winzigen Molekülen wird in Aufruhr versetzt. Botenstoffe bringen sich in Stellung, die Zellkraftwerke werden hochgefahren, um mehr Fett zu verbrennen. ATP!



Myosin ist jetzt sprungbereit wie eine Wildkatze. Er behält die Bodyguards von Aktin im Auge. Durch die elektrischen Impulse öffnen sich plötzlich die Kalzium-Speicher im Sarkomer. Und das ist der Moment, in dem Myosin losspringt. Unser Romeo schnappt sich ATP und Kalzium und bringt es zu Julias Bodyguards. Troponin, den ersten Aktin-Bodyguard, fasst die Gier. Er schnappt ein Kalzium-Molekül und gibt Aktin frei. Wenig später kann Romeo auch den zweiten Bodyguard, das Tropomyosin, bestechen. Unser Myosin-Romeo hat sein Ziel fast erreicht! Im allgemeinen Chaos schnappt er sich ein freies ATP-Molekül, spaltet einen Teil davon ab – und produziert Adenosindiphosphat (ADP) plus Phosphat. Das ist dann genau derjenige Moment, in dem chemische Energie in mechanische umgewandelt wird. Die frische Energie macht Myosin selbstbewusst. Er richtet seine Köpfchen auf – und dockt an Aktin an.



Die biochemische Begierde der Muskelkontraktion



Endlich haben es die Liebenden geschafft. Aktin und Myosin umarmen, liebkosen einander. Die vielen Myosinköpfchen schmiegen sich in die zarten Aktin-Einbuchtungen. Endlich sind Romeo und Julia vereinigt. Unser Romeo fühlt sich jetzt mächtig und stark. Nicht ganz jugendfreie Szenen spielen sich ab. Die kleinen Köpfchen unseres Myosin-Romeos sind jetzt kraftvoll und erregt. Eingehakt in die Aktin-Einbuchtungen, neigen sich Romeos Köpfchen kraftvoll zur Seite und ziehen das zarte Julia-Eiweißfädchen über sich. Eine zarte „Muskelkontraktion“ beginnt.



Stammelnde Worte der Begierde. Romeo und Julia sind vereint.



Doch die erregende Berührung zwischen Aktin und Myosin währt nicht lange. Andere Muskeln bringen sich ins Spiel. Spieler und Gegenspieler, Agonisten und Antagonisten, beginnen ihr Spiel. Myosin-Romeos an unterschiedlichsten Muskelorten schmachten ihren Aktin-Julias entgegen. ATP und Kalzium-Bestechungen, so weit das Auge reicht! Für unser Liebespaar hat das dramatische Folgen. Ihre erregende Verbindung entlang ihres ganzes Eiweißkörpers neigt sich dem Ende zu. Aktin löst sich von Myosin und unser Romeo lässt seine Köpfchen wieder hängen. Einsam und allein. Die Bodyguards Troponin und Tropomyosin kehren zurück. Unsere Aktin-Julia ist wieder umschlossen und unerreichbar für unseren Myosin-Romeo. Damit ist die Ausgangssituation wieder erreicht.



Zum Glück wurde unsere Couchpotato aber zu Fitness überredet. Und so bleibt es nicht bei einem kleinen Bewegungsimpuls. Ständig feuert das Gehirn weitere Befehle zu den Muskeln und für Aktin und Myosin wird die erste Romanze zu einem Fortsetzungsroman an Leidenschaft. In Abermillionen Sarkomeren spielen sich nun parallel Muskel-Soap-Operas der Spitzenklasse ab. Romantisches Muskeltheater vom Feinsten … Das ist sozusagen der Basisplot für die Muskelbewegung. Romeo und Julia: Auseinander, wieder z’samm …

 



Immer komplexer wird die Handlung …



Wenn wir in dieser Fortsetzungsgeschichte noch einen Blick in die nächsten Folgen werfen, dann sehen wir, wie einfallsreich Mutter Natur Regie führt. Immer mehr Handelnde kommen ins Spiel. Denn sobald die Muskelzellen begreifen, dass es das Gehirn ernst mit der Bewegung meint, werden uralte Informationen aus der Stammesgeschichte des Menschen aktiviert, die in den Chromosomen im Zellkern der Muskelzellen gespeichert sind. Je mehr Bewegungsimpulse die Muskelzellen erreichen, umso komplexer wird die Handlung. Je stärker das Liebesspiel von Millionen Romeos und Julias andauert, desto mehr Myokine, also Muskelbotenstoffe, werden auf den Weg geschickt. Die Muskelzellen „erinnern“ sich plötzlich an Millionen Jahre alte Programme. Der Stoffwechsel kommt immer mehr in Schwung.



Während die Romeos und Julias einander lieben, werden etwa die Mitochondrien informiert. Die Zellkraftwerke bekommen den Befehl übermittelt, sich zu teilen und mehr Kohlenhydrate und Fett zu verbrennen. Denn für die häufigen Kontraktionen, herbeigeführt durch Aktin und Myosin, wird nun viel mehr ATP gebraucht.



Und nicht nur das: Je mehr unsere Romeos und Julias in den Muskelzellen ihre herzzerreißenden Liebesgeschichten erleben, umso mehr wird in den Muskelzentralen überlegt, die Zellen wieder verstärkt für die Zuckerzufuhr zu öffnen. Antennen, wegen langer Inaktivität schon abgebaut, werden an den Zellwänden wieder ausgefahren. Diabetes, ade!



In weiteren Folgen des Muskeltheaters kommen neue Überraschungen auf die Muskelzentralen zu.



Weil unsere Couchpotato von ihrem Freund überredet wurde, mit schweren Gewichten zu trainieren, melden Muskelwächter nun immer wieder kleinste Verletzungen in den Muskelzellen. Sofort werden nun alte zelleigene Reparaturmechanismen in Gang gesetzt. Die Zellkerne beschließen, Aktin und Myosin zu stärken und Eiweiß von außen einzulagern. Unsere beiden Hauptdarsteller der Muskelkontraktion werden nun stärker und beleibter. Die zarten Eiweißfädchen blühen auf, werden selbstsicherer und stark. Zuseher von außen sehen nun plötzlich mehr und mehr Muskelerhebungen.



Doch nicht nur das. Während alte genetische Programme im Muskel reaktiviert werden, schwirren Muskelbotenstoffe über das Blut, das nun vom Herzen viel stärker in die Muskeln gepumpt wird, in den gesamten Körper.



Myokine machen sich auf den Weg



Die Botenstoffe überbringen den Gefäßen den Befehl, zu wachsen, damit mehr Nährstoffe angeliefert werden können. Bereits verengten Blutgefäßen überbringen die Muskelboten die Mitteilung, wieder mehr für Geschmeidigkeit und größere Querschnitte zu sorgen. Die Botschaft wird ausgesandt: Blutdruck, bitte senken. An die Bauchspeicheldrüse geht der Auftrag, sich doch bitte die Produktion von Insulin näher anzusehen und auf die neue Bewegungssituation Rücksicht zu nehmen. An die Leber überbringen die Botenstoffe die Mitteilung, die Produktion von Cholesterin und Triglyzeriden wieder zu normalisieren. Mit dem Fettgewebe vereinbaren die Muskelzentralen einen Waffenstillstand. Das Fett willigt widerstrebend auf den Fettabbau ein. Entzündungen, die von Adipokinen, den feindlichen Botenstoffen des Fettgewebes, angeregt werden, werden nun von Muskelbotenstoffen bekämpft.



Je länger die Liebesgeschichte in den Muskelzellen anhält, umso mehr Informationen schicken die Muskeln an den Körper aus: „Leute, es ist wieder so, wie es einmal war. An die Arbeit.“ In den Darm werden Botenstoffe geschickt, um Krebszellen daran zu hindern, sich einzunisten. An die Brust ergehen ähnliche Botschaften. Insgesamt wird von den Kommandozentralen im Muskel mit dem Immunsystem vereinbart, sich viel stärker mit Eindringlingen und Feinden zu befassen. Die Knochen bekommen die Benachrichtigung, mehr auf die Knochendichte zu achten und ihrerseits ihre Kommunikation mit dem Körper zu verstärken. Die Zellkerne in Knochen und Muskeln beschließen, Entzündungen in den Gelenken viel stärker zu bekämpfen, solange das Gehirn seine Bewegungsimpulse sendet.



„He! Bewegung macht Spaß“



Solange Romeo und Julia sich lieben, arbeiten alle Systeme auf Hochtouren. Die Muskeln sehen ihre Chance. Wenn man nur das

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