Lehren und Lernen

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4.2.2 Stoffanalyse und Stoffreduktion

Goethe hat einmal geschrieben: «Da ich keine Zeit habe, dir einen kurzen Brief zu schreiben, schreibe ich dir einen langen.» Dieser Satz drückt das Paradoxon aus, das auch in Lernprozessen zur Geltung kommt. Stoffumfang und Qualität des Lernprozesses stehen zueinander in umgekehrtem Verhältnis. Die gute Reduktion des Stoffumfangs verlangt aber eine intensive intellektuelle Auseinandersetzung mit den Inhalten.

Den Lehrpersonen ist vielfach ein Stoffplan mit einem bestimmten Zeitbudget vorgegeben, evtl. sind noch Richt- und Grobziele formuliert. In der Lehrpraxis fällt auf, dass der Stoffplan meist vollumfänglich übernommen, ja sogar noch ausgebaut wird. Damit bleibt wenig Zeit für den Lernprozess und die Wahl der Methode fällt auf den zeitsparenden Lehrvortrag. Wird diese Methode über mehrere Lektionen eingesetzt, ist das für Lehrende wie Lernende anstrengend und ermüdend. Ein solches Vorgehen ist weder lernfördernd noch kompetenzentwickelnd. Die didaktische Stoffreduktion hat also im Hinblick auf das Erreichen der Lernziele, das Zeitbudget und den Lernerfolg (Lernprozessstufe der Informationsverarbeitung) höchste Priorität.

4.2.2.1 Formen der Stoffanalyse

Bevor der Lehrstoff reduziert werden kann, ist eine klare Vorstellung der Inhalte mit all den Ausprägungen und Eigenheiten notwendig. Um diese Übersicht zu gewinnen, bietet sich eine Analysematrix an, mit welcher der Stoff nach dem Inhalts- oder Situationsprimat sequenziell-analytisch bzw. ganzheitlich betrachtet wird.


Sequenziell-analytisch Ganzheitlich
Inhaltsprimat •Dezimalklassifikation •Lehrmittelaufbau •Innere Logik des Faches •Fachlandkarte •Mindmap •Cluster
Situationsprimat •Kompetenzen und die dazu nötigen Ressourcen (Wissen, Fertigkeiten etc.) •Kompetenzstufen •Kompetenzaufbau (Kubatur der Kompetenz) •Prototypenbildung •Typische Situationen und Handlungsabläufe •Orientierung an Arbeitsprozessen •Beispielhafte Problemstellungen

Abbildung 14 Stoffanalyse

1)Beispiel einer Analysetechnik mit inhaltlicher Perspektive und sequenziell-analytischem Blickwinkel

Dezimalklassifikation

Das zu vermittelnde Wissen wird in einer Übersicht mit Über- und Unterordnung und einer logischen Abfolge zusammengefasst. Eine praktikable Möglichkeit ist zum Beispiel die Erstellung eines Inhaltsverzeichnisses mit Dezimalklassifikation:


1 Dezimales Zahlensystem
1.1 Stellenwertigkeit
1.1.1 Absolute Stellenwertigkeit
1.1.2 Stellenwertigkeit als Potenz
1.2 Basiszahl
1.2.1 Basiszahl aus der Stellenwertigkeit als Potenz
1.2.2 Notwendige Anzahl Ziffern in Abhängigkeit von der Basis
1.3 Zusammensetzung von Dezimalzahlen
2 Duales Zahlensystem
2.1 Stellenwertigkeit
2.1.1 Absolute Stellenwertigkeit
2.1.2 Stellenwertigkeit als Potenz
2.2 Basiszahl
2.2.1 Basiszahl aus der Stellenwertigkeit als Potenz
2.2.2 Notwendige Anzahl Ziffern in Abhängigkeit von der Basis
2.3 Zusammensetzung von Dualzahlen
2.4 Umrechnungen
2.4.1 Umrechnungen vom dezimalen ins duale Zahlensystem
2.4.2 Umrechnungen vom dualen ins dezimale Zahlensystem
2.5 Negative Zahlen im dualen Zahlensystem (Zweierkomplement)
2.5.1 Vorzeichenbit
2.5.2 Bildung des Zweierkomplements

Abbildung 15 Dezimalklassifikation

2)Beispiel einer Analysetechnik mit inhaltlicher Perspektive und ganzheitlichem Blickwinkel

Fachlandkarte

Auf einer Fachlandkarte werden Schwerpunkte, Zusammenhänge und Nebensächlichkeiten überblicksartig dargestellt.


Abbildung 16 Fachlandkarte

3)Beispiel einer Analysetechnik mit Situationsprimat und analytischem Blickwinkel

Kompetenzaufbau

Hier wird der Blick auf die Situation gerichtet, die bewältigt werden muss. Die benötigten Kompetenzen und die dazu gehörenden Ressourcen wie Wissen, Fertigkeit, Haltung etc. werden systematisch erfasst.


Abbildung 17 Primat der Situation

4)Beispiel einer Analysetechnik nach dem Situationsprinzip und unter ganzheitlichem Blickwinkel

Prototypenbildung

Bei der Prototypenbildung geht es um die direkte Konkretisierung am typischen, möglichst exemplarischen Einzelfall. Fallbeispiele sollen übergreifend sowohl das gesamte Themenfeld als auch einzelne Fachinseln repräsentieren.

Beispiel: Von Beginn an wird mit einer praktischen Problemstellung (Musterfirma) gearbeitet, auf die je nach Lernprozessstufe unterschiedlich Bezug genommen wird.

4.2.2.2 Stoffreduktion

Eine Stoffreduktion lässt sich aus drei Perspektiven herleiten.

(1)Die Reduktion aus inhaltlicher Sicht (quantitativ und qualitativ) basiert auf der Erkenntnis, dass im Unterricht nie das vollständige Wissen vermittelt werden kann.

(2)Die Reduktion aus der Lehrplanoptik orientiert sich daran, was fachintern oder fachübergreifend benötigt wird. Es werden in erster Linie die Anforderungen des Lehrplans erfüllt. Vervollständigende oder persönlich als relevant betrachtete Ergänzungen haben nachrangige Bedeutung.

(3)Die Reduktion aus lernpsychologischer Sicht basiert auf der Erkenntnis aktueller Forschungen zum menschlichen Lernen, nach der es unterschiedlich günstige Verläufe von Lernprozessen gibt. Prinzipien empfehlenswerter Lernverläufe sind:

–von der Übersicht zum Detail

–Einbindung neuer Inhalte in bestehende Strukturen

–Stoffgerüst vor Stofffülle

–Lernen am Exemplarischen etc.

Die entscheidenden Fragen lauten somit: Welche Inhalte, welche Strukturen und welche Hilfestellungen benötigen Lernende, damit neues Wissen erfolgreich verarbeitet und integriert werden kann?

Die Stoffreduktion muss gleichwohl der Komplexität des Stoffes Rechnung tragen. Die Herausforderung ist es, Inhalte wegzulassen, ohne dabei Wesentliches zu vernachlässigen und Zielvorgaben zu missachten.

Folgende Reduktionstechniken haben sich in der Praxis bewährt (in Anlehnung an Lehner, 2006):

 


Technik Beschreibung Perspektive
Reduktion nach Zielen, Zeit und Zielgruppe Hilfreiche Fragen, die den Rahmen abstecken und den Stoffumfang begrenzen: Welches sind die zu erreichenden Ziele? Welche Zeit steht zur Verfügung und welche Voraussetzungen bringen die Lernenden mit? (2)
Rundflug mit anschliessender Tiefenbohrung Mit exemplarischen Tiefenbohrungen wird eine Thematik oder Problematik in ihrer ganzen Tiefe angegangen. Die Beispiele sind so angelegt, dass sie auf andere Situationen der Thematik adaptierbar sind. Ich gebe zuerst eine Übersicht mit dem zentralen Orientierungswissen, verorte die Thematik im Gesamtzusammenhang und lasse durch die Lernenden einen Bezug zu ihrer Realität herstellen. (3)
In + out Neue Ziele und Inhalte werden nur dann integriert, wenn andere in vergleichbarem Umfang ausgesondert werden. (1)
Streichkonzert Eine Mindmap erfasst alle möglichen Lerninhalte zu einem Ziel. Streichen aller Inhalte, die nicht zwingend für die Zielerreichung notwendig sind. (1)
Auf den Punkt bringen Ein Satz formuliert, was die Lernenden am Schluss der Veranstaltung können und nicht nur wissen müssen. Diesem Satz wird alles untergeordnet. (3)
Siebreduktion Festlegung der Themen für dasselbe Lernziel mit abnehmender Zeit: (1)2 Tage (2)60 Minuten (3)20 Minuten (1)
Substanzcheck: Überprüfung des Stoffes auf handlungswirksames Wissen Leitfrage: Welches Wissen wird wirklich benötigt, um in der Praxis kompetent handeln zu können? Diese Fragestellung verhindert, dass «der Vollständigkeit halber» unnötiges Wissen vermittelt wird. (2)

4.2.3 Von den Lernzielen bis zur Lernveranstaltung

Es gibt zwei wesentliche Gründe, die für die konsequente Lernzielorientierung sprechen. Einerseits unterstützt die sorgfältige Lernzielanalyse die Vorbereitungsarbeit und verhindert ein zielloses, von Zufälligkeiten und Vorlieben geprägtes Vorgehen. Andererseits gibt eine anschauliche Zielformulierung den Lernenden zu Beginn einer Lernveranstaltung Übersicht und weckt Erwartungen. Beides sind wichtige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Unterricht.

Hinweise zu den Lernzielen:

•keine Unterrichtsplanung ohne Lernziele

•Lernziele präzise und anschaulich formulieren

•Lernziele nach bestimmten Graden der Allgemeinheit zuordnen

•Lernziele nach Intensitätsstufen (Schwierigkeitsgrade/Taxonomie) präzisieren

Grade der Allgemeinheit

Es werden drei Zielarten mit unterschiedlichem Allgemeinheitsgrad unterschieden:

1)Leitziel/Richtziel (Situation, Performanz): Leitziele weisen auf die zu bewältigenden Arbeitssituationen oder Fachbereiche hin. Sie geben die Richtung an, die in den Lernveranstaltungen eingeschlagen werden soll. In neuen kompetenzorientierten Lehrplänen definieren Leitziele die in der Praxis zu bewältigenden Situationen und Arbeitsprozesse.

2)Grobziel/Dispositionsziel (Kompetenz): Grobziele sind bedeutend konkreter und beschreiben das zur Bewältigung der Arbeitssituation notwendige Können. Heute wird dafür der Begriff Kompetenz (Fachkompetenzen wie auch überfachliche Kompetenzen) verwendet.

3)Lernziel/Leistungsziel: Lernziele sind konkret und eindeutig. Sie beschreiben sowohl den Inhalt als auch das erwünschte Verhalten der Lernenden.

Die meisten Einteilungen von Lernzielen nach dem Intensitätsgrad beziehen sich auf die Lernzieltaxonomie von Bloom (1956) oder Krathwohl und Anderson (2000). Nachfolgend werden die kognitiven Stufen im Sinne beider Autoren beschrieben:

Taxonomie kognitiver Lernziele (K1–K6):

K1: Wissen reproduzieren und nennen können

Das Gelernte auf dieser Stufe kann wiedergegeben werden, nachdem es auswendig gelernt wurde. Hierbei handelt es sich vorwiegend um Kenntnisse von Begriffen, Einzelheiten, Mitteln und Wegen. Lernziele der Stufe K1 sollten in Lehrplänen übertroffen werden, weil erfahrungsgemäss auswendig gelerntes Wissen für die Praxis nicht ausreicht.

Beschreibungen des Endverhaltens sind zum Beispiel:

Aufzählen, Nennen, Beschreiben, Darstellen, Kennen von Zusammenhängen, Gesetzmässigkeiten und Anwendungen (Abfragen von Begriffen, Definitionen, Fakten, Daten, Namen, Abläufen, Verfahrensweisen, Regeln, Theorien, Darstellungen etc.)

K2: Wissen verstehen und in der eigenen Sprache rekonstruieren können

Auf der Stufe K2 wird das Gelernte verstanden und kann in eigenen Worten wiedergegeben werden. Es können Beispiele für einen bestimmten Sachverhalt genannt und wesentliche Inhalte in eigenen Worten zusammengefasst werden. Das Wissen wird sowohl mit vorhandenem Wissen als auch mit der Praxis verknüpft.

Beschreibungen des Endverhaltens sind zum Beispiel:

begründen, beschreiben, deuten, einordnen, erklären, erläutern, interpretieren, ordnen, präzisieren, schildern, übersetzen, übertragen, umschreiben, unterscheiden, verdeutlichen, vergleichen, wiedergeben

K3: Wissen auf einfache Aufgaben anwenden können

Auf der Stufe K3 kann das neue Wissen in einzelnen und konkreten Situationen angewendet werden. Lernaufgaben fordern dazu auf, das neue Wissen auf neue Situationen und Aufgabenstellungen zu übertragen und anzuwenden.

Beschreibungen des Endverhaltens sind zum Beispiel:

abschätzen, anknüpfen, anwenden, aufstellen, ausführen, begründen, berechnen, bestimmen, beweisen, durchführen, einordnen, erstellen, entwickeln, interpretieren, formulieren, lösen, modifizieren, quantifizieren, realisieren, übersetzen, unterscheiden, umschreiben, verdeutlichen

K4: Mit dem Wissen Situationen analysieren können

Eine Problemlösung beginnt immer mit der Analyse der Situation resp. Problemstellung selbst. Auf dieser Stufe werden Sachverhalte in Teile gegliedert, Kriterien ermittelt, Wesentliches von Unwesentlichem und Fakten von Meinungen unterschieden, Vergleiche angestellt und Folgerungen gezogen etc. Diese Stufe wird vor allem durch die Analyse von angebotenen Problemstellungen erreicht.

Beschreibungen des Endverhaltens sind zum Beispiel:

ableiten, analysieren, auflösen, beschreiben, darlegen, einkreisen, erkennen, gegenüberstellen, gliedern, identifizieren, isolieren, klassifizieren, nachweisen, untersuchen, vergleichen, zerlegen, zuordnen

K5: Mit dem Wissen Lösungen und Vorschläge entwickeln können

Auf der Basis der Situationsanalyse bzw. Problemanalyse werden Lösungswege vorgeschlagen und ausgearbeitet. Es werden Pläne, Strukturen, Gliederungen und Schemata entworfen, Hypothesen entwickelt, Vermutungen angestellt, Annahmen getroffen und Verallgemeinerungen vorgenommen.

Beschreibungen des Endverhaltens sind zum Beispiel:

abfassen, aufbauen, aufstellen, ausarbeiten, definieren, entwerfen, entwickeln, erläutern, gestalten, kombinieren, konstruieren, lösen, optimieren, organisieren, planen, verfassen, zusammenstellen

K6: Mit dem Wissen Lösungen und Vorschläge evaluieren und beurteilen – sich für die eine oder andere Lösung begründet entscheiden können

Auf der Stufe K6 werden die Lösungen zur Problembewältigung verglichen und beurteilt. Die Beurteilung erfolgt nach Kriterien innerer Klarheit und äusserer Vorgaben. Es werden die inhaltliche und logische Richtigkeit überprüft sowie Normen, Werte und Ideen beurteilt.

Beschreibungen des Endverhaltens sind zum Beispiel:

äussern, auswählen, auswerten, beurteilen, bewerten, differenzieren, entscheiden, folgern, gewichten, messen, prüfen, qualifizieren, urteilen, vereinfachen, vergleichen, vertreten, werten, widerlegen

Vieles spricht dafür, die sechs Stufen in vier Taxonomiestufen einzuteilen, wobei die letzten drei Stufen zusammengefasst werden.

K1: Wissen

K2: Verstehen

K3: Anwenden

K4–K6: Probleme lösen (Analyse – Lösungsmöglichkeiten – Entscheidung)

4.2.4 Lehrplan als Produkt der Grobplanung

Der eigentliche Fachlehrplan zeigt in drei Schritten, wie Lernende die notwendigen Kompetenzen im Unterricht und im Selbststudium erreichen:

1.Wissen aufbauen

2.Fertigkeiten aufbauen

3.Transferaufgaben lösen

Wissen aufbauen

Wissen kann Theorien, Konzepte, Vorgehensweisen, Prinzipien und Begriffe beinhalten. Im Lehrplan wird definiert, auf welchem kognitiven Niveau dieses Wissen vermittelt wird. Mittels der Lernzieltaxonomie (K1–K6) wird jeweils die höchste Stufe angegeben, die in einer Unterrichtseinheit erreicht werden soll.

Fertigkeiten aufbauen

Fertigkeiten sind durch Übung erreichte Automatismen oder Routinen, die in der Anwendungssituation abgerufen werden. Sie können sowohl motorischer wie auch kognitiver Art sein. Fertigkeiten werden im schulischen Kontext meist nur angebahnt und anschliessend in der Praxis automatisiert.

Es bietet sich an, auch die Fertigkeiten nach ihrem Intensitätsgrad in eine Taxonomie einzuteilen:

Stufe 1: Die kognitive oder sensomotorische Fertigkeit wird unter Anleitung einer Checkliste ausgeführt.

Stufe 2: Die Fertigkeit wird in wiederkehrenden Aufgaben unter bewusster Steuerung ausgeführt.

Stufe 3: Die Fertigkeit wird automatisch und ohne bewusste Steuerung ausgeführt (Internalisierung).

Das Erreichen der Stufen 2 und 3 bedingt regelmässiges Üben bzw. Anwendung in der Praxis. Im schulischen Kontext kann realistisch höchstens die Stufe 2 erreicht werden.

Transferaufgaben lösen

Wenn das Wissen aufgebaut und Fertigkeiten eingeübt wurden, kann der Transfer in die Praxis angebahnt werden. Die Lernenden erhalten Transferaufgaben, welche sie im Selbststudium lösen. Damit zeigen sie Performanz und dokumentieren, dass sie die in den Lehrplänen festgelegten Kompetenzen erreicht haben.


Komplexität Einfach überschaubar Unüberblickbar komplex
Vorhersehbarkeit Berechenbar Unberechenbar, offen
Zusammenarbeit Einzelarbeit Teamarbeit
Verantwortlichkeit Klare Vorgaben (Lernaufgabe) Eigenverantwortlich (Projektarbeit)

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