Neues vom Tatort Tegel

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OLIVER BOTTINI
Nach dem Krieg

Edin Musić brachte den Krieg nach Sarajevo. Am 1. März 1992 schoss er als Soldat der bosnischen Armee in der Altstadt auf eine serbische Hochzeitsgesellschaft. Ein Serbe starb, ein orthodoxer Priester wurde verwundet.

Wenig später rächten sich die Serben. Ein Heckenschütze tötete zwei Teilnehmerinnen einer Demonstration, eine Kroatin und eine Muslima.

Der Krieg um Sarajevo hatte begonnen.

So einfach war es – glaubte man den Serben. Die Muslime und die Kroaten dagegen sagten, in Wahrheit habe der serbische Heckenschütze den Krieg ausgelöst. Die Schüsse auf die orthodoxe Hochzeitsgesellschaft seien von einem privaten Todfeind des Ermordeten abgegeben worden.

Und Edin Musić sagte: »Ich hab niemanden getötet. Ihr verwechselt mich. Ich war gar nicht dort an jenem Tag.«

Edin Musić wurde nicht angeklagt. Es gab keine Beweise und keine Zeugen, und die Menschen hatten andere Sorgen. Seit Wochen herrschten Unruhen im Osten und im Nordwesten Bosniens, die immer wieder eskalierten, und nun war der Krieg auch in ihre Stadt gekommen.

Dreieinhalb Jahre lang kämpfte Edin Musić, mit Hunderttausenden eingeschlossen in Sarajevo, gegen die bosnisch-serbischen Belagerer. Er war ein guter Soldat, bald wurde er zum Befehlshaber einer Brigade befördert. Zu seinem Stellvertreter ernannte er seinen besten Freund Adnan, den er von klein auf kannte. Adnan sorgte dafür, dass die Soldaten der Brigade taten, was Edin Musić befahl. Immer stand Adnan vor dem Freund, wenn auf sie geschossen wurde, immer ging er voran, wenn sie bei Häuserkämpfen gegen den Feind vorrückten. War das Grauen zu schlimm, sagte er: »Komm nicht herein, Edin. Es reicht, wenn ich das sehe.«

Zehntausend starben in diesen Jahren, zehnmal so viele flohen aus der Stadt. Edin Musić und Adnan überlebten und blieben. Als der Krieg zu Ende war, legten sie die Gewehre nieder und kehrten nach Hause zurück. Sie waren dreißig und Helden. »Ich hab viele Serben getötet«, erzählte Edin Musić. »Aber den einen, den habe ich nicht getötet. Ich war ja gar nicht dort, vor der Kirche der Orthodoxen, ich war ein paar Straßen entfernt.«

Die Eltern, Adnan, die Mädchen glaubten ihm, zumindest sagten sie das.

»Lass uns nicht mehr darüber reden«, sagten sie.

Bald heiratete Edin Musić eines der Mädchen, Adnan war Trauzeuge. Die Schwiegereltern waren wohlhabend und schenkten dem Paar eine kleine Wohnung im Herzen Sarajevos, nicht weit von der orthodoxen Kirche entfernt. Ein Sohn wurde geboren, dann eine Tochter. Edin Musić nannte sie Adnan und Adina.

»Erzählt ihnen nie davon«, sagte er oft mit Tränen in den Augen. »Ich möchte nicht, dass meine Kinder mich für einen Mörder halten, wo ich doch keiner bin. Ich war Soldat, aber kein Mörder, den Krieg, den hat ein anderer ausgelöst.«

Im Frühjahr 2004 wurde Edin Musić doch noch wegen Mordes angeklagt. Der Sohn des erschossenen Serben hatte ihn angezeigt, nach jahrelanger Suche hatte er einen vermeintlichen Zeugen gefunden. Ein bosnisch-serbischer Soldat, bis kurz nach Kriegsbeginn Kamerad von Edin Musić in der Armee, hatte ihn als den Schützen identifiziert. »Er war es, ich bin fast sicher«, sagte er im Sommer vor Gericht.

»Aber ich war doch gar nicht dort!«, rief Edin Musić. »Und diesen da hab ich überhaupt nicht gesehen an jenem Tag!«

Aus Mangel an Beweisen wurde er freigesprochen.

»Endlich ist es vorbei!«, sagte Adnan. »Feiern wir!«

Doch Edin Musić war nicht nach Feiern zumute. Seine Kinder wussten jetzt, dass es Menschen gab, die behaupteten, ihr Vater sei ein Mörder und habe den Krieg nach Sarajevo gebracht. »Warum aus Mangel an Beweisen?«, rief er auf der Straße vor dem Gerichtsgebäude. »Ich war es nicht! Deshalb bin ich frei!«

»Lass uns nicht mehr darüber reden«, sagte Adnan.

Am selben Abend kamen sie bei den Eltern zusammen, Edin Musić und seine Frau, Adnan mit seiner aktuellen Freundin, die Schwiegereltern. Sie senkten die Stimmen, im Nebenzimmer schliefen die Kinder.

»Was ich nicht verstehe«, sagte Edin Musićs Vater, »ist, warum sie nicht den Serben verklagen, den Heckenschützen. Der ist ein Mörder, seinetwegen gab es den Krieg in Sarajevo. Der gehört vor Gericht.«

»Ja«, sagte Edin Musić. »Warum verklagen sie den nicht? Oder den Soldaten, der eine falsche Aussage gegen mich gemacht hat?«

»Die Justiz hat Angst«, sagte sein Vater. »Angst vor den Serben.«

»Ich werde den Heckenschützen verklagen«, sagte Edin.

Adnan schlug mit der Faust auf den Tisch. »Versteht doch«, rief er, »es ist Zeit zu vergessen! Keiner soll mehr angeklagt werden! Der Krieg ist vorbei. Wie können wir vergessen, wenn der eine diesen anklagt und der andere jenen?«

Niemand erwiderte etwas. Aus dem Nebenzimmer drang Kinderlachen zu ihnen herüber. Dann tuschelten die Kinder, sangen schließlich mit leisen Stimmchen und einer schiefen Melodie »Der Krieg, der Krieg, der Krieg, der ist vorbei« und brachen erneut in Lachen aus.

»Sag das den Serben«, flüsterte Edin Musićs Vater. »Die wollen nicht vergessen. Und sie haben noch immer viel Macht in Sarajevo.«

»Aber es gibt doch kaum noch Serben hier«, erwiderte Adnan genauso leise. »Keine zehn Prozent!«

Edin Musićs Vater hob bedeutungsvoll die Schultern, als wollte er so etwas sagen wie: Das sind die offiziellen Zahlen. Oder: Die wenigen sitzen eben auf einflussreichen Posten.

»Der Krieg, der Krieg, der Krieg, der ist vorbei«, sangen die Kinderstimmchen, »und der Papa und der Adnan, die haben ihn gewonnen.«

Die Eltern, die Schwiegereltern, die Frauen lachten, nur Edin Musić und Adnan nicht. Sie sahen einander mit leeren Blicken an, sie wussten, dass der Krieg nicht vorbei war und dass viele Geschichten in der Welt waren, die stimmen mochten oder nicht, und alle taten weh.

»Lasst uns über was anderes sprechen«, sagte Edin Musić schließlich. Er stand auf und ging zu den Kindern, um mit ihnen andere Lieder zu singen.

Am Tag darauf ging Edin Musić zur Polizei und erstattete Anzeige gegen den serbischen Heckenschützen.

»Nein, einen Zeugen habe ich nicht, aber das weiß doch jeder, Sie wissen es auch«, sagte er.

»Ja«, entgegnete der Polizist, »ich weiß es und der Richter bestimmt auch, aber was nützt das, dem Recht muss Genüge getan werden. Sie brauchen einen Zeugen oder einen Beweis, so ist das, der Krieg ist vorbei, jetzt haben wir Demokratie.«

»Dem Recht? Und was ist mit der Gerechtigkeit?«, fragte Edin Musić.

Der Polizist überlegte eine Weile. »Tja, mit der Gerechtigkeit ist es in einer Demokratie wohl so eine Sache«, sagte er dann.

Edin Musić begann, nach Zeugen oder Beweisen zu suchen. Er befragte aktuelle und ehemalige Angestellte des hässlichgelben Holiday Inn, aus dem der serbische Heckenschütze 1992 auf die Demonstranten geschossen hatte. Er sprach mit Journalisten, verbrachte Stunden in Archiven. Sogar zur Armee der bosnischen Serben ging er. Weil er weder einen Zeugen noch einen Beweis fand, klebte er schließlich Zettel an Laternenmasten und Häuserwände, doch auch das half nichts. Jeder hatte gehört, dass der bosnische Serbe Dragan Nenadić damals auf die Demonstranten geschossen und eine Muslima und eine Kroatin getötet hatte. Doch niemand hatte es gesehen oder mit dem Schützen darüber gesprochen.

»Hör auf damit«, sagte Adnan, nachdem Edin Musić drei Monate lang gesucht hatte. »Bitte.«

Sie saßen wie jeden Morgen vor der Arbeit in einem Café in der Baščaršija und tranken Mokka. Durch die Ritzen der Türen und Fenster drang die Dezemberkälte.

»Aber es muss einen Zeugen geben«, sagte Edin Musić.

»Vielleicht hat es mal einen gegeben, doch jetzt gibt es keinen mehr. Niemand will sich erinnern. Die Leute wollen vergessen. Nach vorn schauen. Warum schaust du nicht auch nach vorn, Edin?«

»Wie kann ich das, solange es Leute gibt, die sagen, ich wäre ein Mörder und hätte den Krieg ausgelöst?«

»Niemand sagt das noch.«

»Sie denken es.«

»Du machst es nur schlimmer«, sagte Adnan. »Du läufst herum und sprichst Tag für Tag von den Dingen, die sie vergessen wollen. So verhinderst du, dass die Leute vergessen, dass sie mal gedacht haben, du wärst ein Mörder.«

»Und der andere? Der Heckenschütze? Der wird schon dafür sorgen, dass die Leute es nicht vergessen.«

Adnan schüttelte den Kopf. »Der hat andere Sorgen, Edin. Meine Freundin kennt einen, der sieht ihn manchmal. Er wohnt oben in den Hügeln, nicht weit von ihrem Bekannten entfernt. Er geht den ganzen Tag lang mit seinem Hund spazieren, zu den Friedhöfen, quer durch die Stadt, den ganzen Tag. Der Bekannte meiner Freundin ist Friedhofsgärtner und sieht ihn mal hier, mal dort, immer geht er die Gräberreihen ab, aber er scheint niemanden zu suchen, er könnte ja fragen, aber das tut er nicht.«

»Er sucht die, die er damals erschossen hat.«

»Vielleicht ist er auch einfach nur verrückt geworden.« Adnan tippte sich gegen die Schläfe. »Er wäre nicht der Erste, den der Krieg verrückt gemacht hat, Edin. Die Erinnerung macht sie verrückt. Die Erinnerung an das, was sie gesehen und getan haben.«

Edin Musić zuckte die Achseln. »Welche Freundin überhaupt? Die Sanja? Nein, warte, die hat dir ja nicht mehr gefallen, wie hieß die neue … Nikolina?«

»Nein, nein, das war nichts mit der Nikolina, jetzt bin ich mit Katarina zusammen.«

»Katarina? Die kenne ich noch gar nicht.«

»Ich hab sie gestern Abend kennengelernt, bei Kollegen. Liebe auf den ersten Blick, Edin, so was gibt es.«

»Das hast du in den letzten Jahren von vielen gesagt.«

 

»Mit Katarina ist es anders«, erwiderte Adnan knapp.

»Ist sie Kroatin?«

»Ja, aber es ist doch egal, was eine ist, oder?«

»Natürlich. Na ja … solange sie keine Serbin ist.«

Adnan zuckte die Achseln. Er schien etwas sagen zu wollen, doch dann schwieg er.

»Dann feierst du nächste Woche also Weihnachten, ja?«, sagte Edin Musić schmunzelnd. »Gehst in die Kirche der Katholiken und so?«

»Ach, mal sehen.«

»Zieh deinen Anzug an, Adnan, und mach ihr ein schönes Geschenk. Weihnachten ist wichtig für die Katholiken.«

Wieder zuckte Adnan die Achseln und sagte nichts. Sie schwiegen eine Weile, sahen hinaus auf die dunkle Gasse, die von einer Laterne spärlich beleuchtet wurde. Die weihnachtlichen Lichterketten, die Sarajevo zu Ehren seiner wenigen verbliebenen katholischen Einwohner über die Straßen der Altstadt gespannt hatte, waren noch nicht eingeschaltet.

Schließlich sagte Edin Musić: »Ich werde mit ihm reden.«

»Dem Heckenschützen? Was soll das bringen?«

»Vielleicht ist er bereit zu gestehen. Dann braucht es weder einen Zeugen noch einen Beweis, dann gibt es ein Geständnis. Ich habe die beiden Frauen getötet, ich habe den Krieg nach Sarajevo gebracht. Die Zeitungen drucken es, und dann ist es egal, ob er angeklagt wird oder nicht. Dann kann niemand mehr etwas anderes behaupten. Und ich werde endlich in Ruhe gelassen.«

Adnan schüttelte den Kopf, während er sich eine Zigarette anzündete. Er musterte Edin Musić lange, leerte schließlich seine Tasse, stand auf und sagte: »Denk daran: Wer nicht vergessen kann, der wird verrückt.«

Edin Musić lächelte. »Ich habe eine wunderbare Frau und zwei wunderbare Kinder und dich zum Freund, Adnan. Ich kann gar nicht verrückt werden.«

Sie reichten einander die Hand.

»Morgen um sieben?«, fragte Edin Musić.

»Morgen um sieben«, bestätigte Adnan.

Am Nachmittag begann es zu schneien. Der Weg zum Haus des Heckenschützen, das an einer Hügelflanke lag, war steil, und Edin Musić rutschte auf der unebenen Straße wieder und wieder aus. Unter ihm lag das in der Dämmerung festlich leuchtende Sarajevo, die katholische Kathedrale glitzerte vor Lichterschmuck, umgeben von den zahllosen kaum erkennbaren, unbeleuchteten Minaretten der Moscheen.

Schwer atmend stand er nach einer Stunde Fußmarsch vor einer schmalen Haustür und klingelte mehrfach. Doch niemand öffnete. Im Schnee waren keine Hundespuren zu erkennen, und so vermutete er, dass Dragan Nenadić noch unterwegs war auf seiner täglichen Runde über die Friedhöfe Sarajevos.

Als es dunkel geworden war, kamen sie endlich, Dragan Nenadić und sein Hund, ein kleiner schwarzer Foxterrier, der an einer langen Leine ging. Beide waren übergewichtig und bewegten sich sehr langsam, als fürchteten sie, auf dem glatten Untergrund zu stürzen.

Ein paar Meter vor seinem Haus blieb Dragan Nenadić stehen. »Du?«, stieß er hervor.

Edin Musić nickte überrascht. »Woher weißt du, wer ich bin?«

»Ich war bei deinem Prozess im Gericht, jeden Tag. Und jede Sekunde habe ich gebetet, dass sie dich für das bestrafen, was du getan hast.«

»Ich habe nichts getan. Ich war doch gar nicht dort an jenem Tag, ich war ein paar Straßen weiter.«

Dragan Nenadić schien ihn nicht gehört zu haben. Er zerrte den Hund zu sich heran, löste die Leine von dessen Hals und ließ sie wie eine Peitsche in Edin Musićs Richtung schnellen. »Verschwinde, du verfluchter Mörder, du hast den Krieg über diese Stadt und uns alle gebracht, all das furchtbare Leid, verschwinde, sonst schlage ich dich tot!«

Die Leine traf Edin Musić an der Schulter. Er bekam sie mit der Hand zu fassen und zog zornig daran, bis sie straff gespannt war. So standen sie da und starrten einander an, zwischen ihnen kläffte der schwarze Hund. Edin Musić wollte dem Heckenschützen ins Gesicht schreien, dass alles ganz anders sei, dass er, Dragan Nenadić, den Krieg ausgelöst und das furchtbare Leid über Sarajevo und seine Menschen gebracht habe und ins Gefängnis gehöre. Doch vor Wut brachte er kein Wort hervor.

Schließlich schleuderte er die Leine von sich und wandte sich ab.

»Eines Tages wirst du für deine Taten büßen, die Gerechten werden nicht ruhen, sie werden meine Gebete erhören!«, krächzte Dragan Nenadić hinter ihm her.

Edin Musić gingen ähnliche Worte durch den Kopf, aber noch immer verschloss ihm die Wut die Kehle, und so tauchte er schweigend in die Dunkelheit ein, und unter ihm lag das glitzernde Sarajevo, und all die Lichter schienen zu ihm empor zu starren, zu ihm und Dragan Nenadić.

»Er war beim Prozess?«, fragte Adnan.

Edin Musić nickte.

»Und hat dich geschlagen

»Das muss man sich vorstellen. Er, der Mörder, der an allem die Schuld trägt.«

»Ich habe dir geraten, nicht zu ihm zu gehen.«

Draußen läuteten die Glocken der katholischen Kathedrale zur Morgenmesse. Sie warteten, bis sie verklungen waren.

»Du weißt, dass ich es tun musste«, sagte Edin Musić. »Und ich werde wieder hingehen. Irgendwann, in einem Monat, einem Jahr, egal. Wieder und wieder werde ich zu ihm gehen. Bis er für einen Moment noch mal klar wird in seinem Kopf und die Wahrheit erträgt.«

»Ja«, sagte Adnan, als wäre das keine Überraschung für ihn.

Mehr sagten sie nicht an diesem Morgen.

Häufig lag in diesen Tagen der Klang der Glocken über Sarajevo, während die Katholiken ihr Fest begingen. Ohne Unterlass fiel Schnee, in Mengen wie seit Jahren nicht mehr. Edin Musić sah Adnan nicht in dieser Zeit, der Freund schien unabkömmlich zu sein, er war ja nun selbst ein halber Katholik.

»Sieht er denn jetzt anders aus als früher?«, fragte die kleine Adina.

»Er hat jetzt bestimmt weiße Haare wie der Papst«, sagte der kleine Adnan.

Edin Musić lachte, aber eigentlich war ihm nicht nach Lachen zumute. Seit jenem Nachmittag oben an der Hügelflanke dachte er unablässig an Dragan Nenadić, den Heckenschützen, sah ihn vor sich, sah die Wut in seiner Miene, seine erhobene Hand, die die Leine wie eine Peitsche schwang, spürte den Schlag gegen die Schulter.

»Und zieht er dann auch immer so ein Kleid an wie der Papst?«, fragte Adina.

»Aber nein«, sagte Edin Musić, »er sieht aus wie früher, alles ist wie früher.«

Kurz vor dem Silvesterfest der bosnischen Kroaten wurde Dragan Nenadić ermordet. Er war mit seinem Hund auf einem der verschneiten Friedhöfe Sarajevos unterwegs gewesen, als ihn zwei Kugeln aus einem Scharfschützengewehr trafen. Die Polizei fand heraus, dass die Schüsse vom Dach eines einhundert Meter entfernten mehrstöckigen Wohnhauses abgegeben worden waren. Dutzende Menschen hatten die Schüsse gehört und für verfrühte Silvesterknaller gehalten. Niemand hatte den Mörder gesehen.

»Dragan Nenadić, war das nicht einer der serbischen Heckenschützen?«, sagten die Muslime und die Kroaten. »Dann ist er ja gestorben, wie er gemordet hat.«

»Das wird schon einer von euch getan haben«, erwiderten die Serben, »einer hat sich gerächt nach so vielen Jahren.«

»Jetzt ist es also vorbei«, murmelte Adnan.

Zum ersten Mal seit mehr als einer Woche saßen sie wieder in dem kleinen Café in der Baščaršija und tranken zusammen Mokka.

Edin Musić schwieg. Er fand, dass Adnan bedrückt wirkte, seine Stimme klang traurig, seine Bewegungen waren ziellos. Groß und dunkel ruhten Adnans Augen auf ihm, wollten nicht von ihm lassen.

»Du denkst doch nicht, dass ich …« Edin Musić brach ab.

Adnan schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Du darfst nicht an mir zweifeln, Adnan. Nicht du. Wenn auch du mich jetzt für einen Mörder hältst … Warum hätte ich ihn töten sollen … Ich bin kein …«

»Ich glaube dir«, unterbrach Adnan.

»Nicht du, Adnan, zweifle nicht du an mir!«

»Ich sage doch: Ich glaube dir.« Adnan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich glaube dir.«

Edin Musić nickte und hob den Kopf und sah in die weißliche Dunkelheit hinaus, durch die lautlos Schemen glitten, und einer der Schemen war Dragan Nenadić, der sich rasch entfernte und gleich für immer verschwunden wäre. »Wie soll ich den Leuten jetzt beweisen, dass alles mit ihm angefangen hat? Dass nicht ich der bin, der den Krieg nach Sarajevo gebracht hat?« Er sah Adnan an, und ihm war, als stürzte er in dessen große, dunkle Augen wie in den tiefsten Brunnen der Welt. »Nein, Adnan«, sagte er, »es ist nicht vorbei. Jetzt wird es nie vorbei sein.«

An einem der folgenden Tage klingelte es um drei Uhr morgens an Edin Musićs Tür. Mit klopfendem Herzen sah er durch den Spion. Es war Adnan.

»Du musst fort!«, sagte Adnan, nachdem er in die enge Diele getreten war. »Sie wollen sich rächen!«

»Die Serben?«

»Ja.«

»Sie glauben, ich hätte Dragan Nenadić ermordet?«

Adnan nickte.

»Aber ich war es nicht!«

»Sie sind auf dem Weg, Edin. Sie kommen, um dich zu töten.«

Edin Musić wandte sich zu seiner Frau um, die in der Schlafzimmertür stand. »Geh nach Slowenien zu meinen Großeltern«, sagte sie mit Tränen in den Augen.

»Nur für eine Weile«, sagte Adnan. »Bis ich alles in Ordnung gebracht habe.«

»Aber wie soll ich nach Slowenien kommen?«

»Ich habe einen Wagen besorgt. Ich bringe dich nach Kroatien, nach Split. Von dort aus schaffst du es allein.«

Auch die Kinder waren aufgewacht und kamen in die Diele gelaufen. Als sie Adnan sahen, blieben sie stehen.

»Aber er sieht doch ganz anders aus als früher«, sagte die kleine Adina erschrocken. »Die Katholiken haben ihn verhext.«

»Nur eine«, murmelte Edin Musić.

Adnan kniete nieder. »Kommt her«, sagte er, »kommt zu mir.«

Aber die Kinder gingen nicht zu ihm. Sie drängten sich an den Leib ihrer Mutter und blickten ihn verwirrt an.

Adnan erhob sich. »Ich warte unten«, sagte er, und auch er hatte jetzt Tränen in den Augen.

In aller Eile packte Edin Musić das Nötigste zusammen und besprach sich dabei mit seiner Frau.

»Nur ein paar Wochen«, sagte er, »nicht länger, Adnan wird alles regeln.«

»Ja«, erwiderte sie, »ein paar Wochen, ein paar Monate, dann ist alles wieder gut.«

Die Kinder hatten sich auf dem Sofa zusammengerollt wie Katzen und waren eingeschlafen. Edin Musić strich mit der Hand über ihre Köpfe und bemühte sich, nicht zu weinen, dann umarmte er seine Frau und weinte nun doch, die Stirn auf ihrer Schulter.

»Geh jetzt«, flüsterte sie nach einer Weile, und er ging.

Auf verschneiten Straßen fuhren sie nach Nordwesten in Richtung Travnik, das etwa einhundert Kilometer entfernt war. Von dort wären es noch einmal hundertsiebzig Kilometer zur Grenze, dann wären sie schon beinahe in Split. Adnan fuhr vorsichtig, sie kamen nur langsam voran. Hin und wieder hielten sie und stiegen aus, um zu rauchen. Adnan hatte gesagt, der Freund, von dem er das Auto geliehen habe, wolle nicht, dass man darin rauche.

»Was denn für ein Freund?«

»Du kennst ihn nicht. Ein Freund von Katarina.«

»Die Katarina hast du mir auch noch nicht vorgestellt.«

»Wenn du zurück bist«, sagte Adnan, und Edin Musić nickte.

»Das scheint gut zu laufen, das mit dir und Katarina.«

»Ach, mal so, mal so.«

Nach einer Stunde Fahrt musste Edin Musić auf die Toilette.

»Warte noch einen Moment«, sagte Adnan, der den Blick auf den Rückspiegel gerichtet hielt.

»Ist jemand hinter uns her?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

Edin Musić drehte sich um. In der Dunkelheit hinter ihnen leuchteten zwei Scheinwerfer. Aber der Wagen schien nicht näher zu kommen, er behielt den Abstand bei.

»Da vorn ist ein Wald«, sagte Adnan. »Wir fahren von der Straße runter, dann werden wir schon sehen, ob er uns folgt.«

Kurz darauf schaltete er die Lichter aus und bog schlitternd in einen Forstweg ein. Zwischen blattlosen Bäumen holperten sie einhundert Meter in den Wald hinein und blieben stehen.

Mit angehaltenem Atem blickte Edin Musić durch die Heckscheibe. Er fragte sich, was Adnan tun würde, falls der andere Wagen ihnen in den Wald folgte. Auf diesem verschneiten, schmalen Weg hätten sie kaum eine Chance zu fliehen.

Doch der Wagen fuhr vorbei.

»Jetzt muss ich aber wirklich«, sagte Edin Musić und stieg aus.

Während er sich einen Weg durch Zweige und Äste bahnte, hörte er, dass auch Adnan ausstieg, er schien den Kofferraum zu öffnen und dann wieder zu schließen. Nach ein paar weiteren Metern hockte Edin Musić sich im Schutz der Bäume hin und verrichtete sein Geschäft.

 

Anschließend ging er zum Auto zurück. Adnan war nicht zu sehen.

»Pass auf, dass du nicht in meine Scheiße trittst«, sagte er laut. Aber es war ein schlechter Witz, nicht einmal er selbst konnte darüber lachen. Die Leute sagten, Probleme seien schon fast keine Probleme mehr, wenn man den Humor nicht verliere. Aber das sagte sich leicht. Späße änderten an seiner Situation nichts und hätten Dragan Nenadić nicht das Leben gerettet und den Mordprozess nicht verhindert und jenen unseligen 1. März 1992, mit dem alles begonnen hatte, nicht aus dem Kalender gestrichen.

Edin Musić lehnte sich auf der Beifahrerseite ans Auto und zündete sich eine Zigarette an. Er fragte sich, was aus Dragan Nenadićs übergewichtigem schwarzem Hund geworden sein mochte und ob er Adnan bitten sollte, sich nach ihm zu erkundigen. Die Kinder waren alt genug für ein Tier, und er fand, dass er irgendwie Verantwortung trug für Dragan Nenadićs Hund.

Er führte die Zigarette zum Mund und ließ die Glut aufglimmen. Da zerriss ein Schuss die Stille, gleich darauf ein zweiter, und dann war auch Edin Musićs Leben ausgelöscht.

Adnan brauchte mehrere Stunden, um in der hartgefrorenen Erde ein Grab zu schaufeln. Die Kälte lähmte ihm die Glieder, vielleicht war es auch die Verzweiflung. Der Schnee kleidete die Grube mit einem weißen Totenlaken aus, auf das er die Leiche von Edin Musić sanft bettete. Er legte ihr das Gewehr in den Arm, dann schüttete er das Grab zu.

Schnell hatte der Schnee jegliche Spuren verdeckt.

Adnan kniete vor dem Grab nieder und bat Edin Musić um Vergebung und begann flüsternd zu erklären, warum er ihn und Dragan Nenadić am Ende hatte töten müssen, und der Krieg und all das Grauen und der Wahn wurden lebendig in dem einsamen Wald vor Travnik. Wieder lagen blutüberströmte Leichen in stinkenden Kellern, von Bomben zerfetzte Kinder auf den Straßen, wieder schrien Sterbende vor Schmerz und Fliehende in Panik, wieder erklang das Stakkato der Maschinengewehre aus den Häusern oder von den Hügeln herab, pfiffen und donnerten die Granaten. Adnan hörte nicht auf zu sprechen, er wollte dieses letzte Gespräch mit dem Freund nicht beenden, denn danach wäre Edin Musić endgültig fort, doch solange er sprach, war er noch bei ihm und hörte zu und verstand vielleicht.

Als er irgendwann erschöpft und frierend schwieg, kehrte die Stille in den Wald zurück.

Ein lichtloser, grauer Tag war angebrochen.

Adnan erhob sich und klopfte sich den Schnee von der Kleidung. Eine kalte Faust zerdrückte ihm das Herz, als ihm bewusst wurde, dass er nun in eine Welt ohne Edin Musić zurückkehren musste. Eine Welt, in der der Krieg und das Grauen und der Wahn trotzdem niemals enden würden.

Diese Geschichte ist ein kleines bisschen wahr und zum größten Teil erfunden.

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