Aufgeklärtes Heidentum

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Ich finde, hier wird eine wichtige ethisch-moralische Lehre verbreitet, nämlich daß man Fehlverhalten weder übermäßig noch überhaupt nicht bestrafen sollte, sondern den oder die Verursacher zwingen sollte, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen, ggf. mit zusätzlicher Strafe, die der Schwere der Tat angepaßt ist, damit sich Verbrechen nicht mit etwas Glück als kostenfreie und möglicherweise positive Möglichkeiten darstellen. Der Umgang Thors mit Zuwiderhandlungen gegen seine wegen der naturbezogenen Rahmenbedingungen wichtige aufgestellte Forderung zeigt, wie sich eine Gesellschaft in Bezug auf Verbrechen verhalten sollte. Das mag jetzt weit hergeholt klingen, aber mit Überlegungen dieser Art kann man meiner Meinung nach so manches Sinnvolle aus Mythen herausholen, ohne daß sie reale historische Ereignisse wiedergeben.

Das Nibelungenlied beruht in Teilen auf geschichtlichen Vorlagen wie dem Hunnensturm in der Völkerwanderungszeit. Man vermutete auch, daß der Drachentöter Siegfried den Cherusker Arminius darstellen soll, der Drache den „Heerwurm“ der drei Legionen des Varus [Höf61]. Auf die Zusammenfassung des gesamten Inhalts will ich hier verzichten, die Geschichte sollte einigermaßen bekannt sein. Stattdessen soll auf die charakterlichen Archetypen der Protagonisten sowie die sogenannte „Nibelungentreue“ eingegangen werden. Beides paßt zu der zuvor schon ausgebreiteten Weise der Mytheninterpretation, und letztere hatte einen feststellbaren negativen Einfluß auf die deutsche Geschichte, was meiner Meinung nach an der christlichen statt einer heidnischen Deutung der Archetypen und der daraus folgenden Sichtweise auf Gefolgschaft und herrschaftliche Hierarchien liegt.

Wie man auch an diversen Verfilmungen der Sage schön sehen kann, gilt Siegfried als der Held, der Gute, Hagen von Tronje als der finstere Böse und König Gunther als der intellektuell wie militärisch Überforderte, der auf die Hilfe seiner Helden angewiesen ist, um seine hehren Ziele zu erreichen. Siegfrieds Heldenrolle in Bezug auf die Drachentötung aus älteren Quellen ist nachvollziehbar, im späteren Verlauf des Nibelungenlieds trifft sie meiner Meinung nach nicht mehr zu. Hagen als der übriggebliebene Heide ist der Böse von Natur aus, ebenso werden seine Handlungen als Verbrechen gedeutet. Der herrschende König ist zwar leider etwas unfähig, aber ihm gehorchen die Untergebenen, wie es sich gehört, und helfen ihm, wo sie können und müssen. Soweit die gängige Deutung.

Ich deute die Charaktere ganz anders. Hagen ist der tragische Held, der Gute, Gunther der Böse, der Tyrann, der nur eigennützig nach Macht und Wohlstand strebt, und Siegfried der intellektuell Unbedarfte, der vom König schamlos ausgenutzt wird, um seine Ziele zu erreichen.

Entscheidend für diese Deutung sind die Handlungsstränge um Brünhild. Diese hatte erwartet, von Siegfried umworben zu werden, was ein Verliebtsein ihrerseits ausdrücken mag, aber dann wurde von Gunther um ihre Hand angehalten. Um als tauglicher Ehemann zu gelten, mußte der Bewerber sie in einem Kampfspiel besiegen, wozu Gunther nicht fähig war. Zum Sieg verhalf ihm Siegfried unerkannt mittels seiner Tarnkappe. Dies war gegenüber Brünhild schon nicht gerade gentlemanlike. Sie vermutet richtigerweise einen Betrug und wiederholt das Kampfspiel quasi in der Hochzeitsnacht. Gunther hätte hier zugeben müssen, ein Betrüger zu sein, doch Siegfried hilft ihm wieder mit der Tarnkappe, nach Ansicht mancher Interpreten vergewaltigen sie Brünhild sogar. Dieses Verbrechen will Hagen sühnen, er ist aber aufgrund der bis auf eine Stelle am Körper gegebenen Unverwundbarkeit Siegfrieds (eine deutliche Parallele zu Achilles aus der Illias) nicht in der Lage, ihn mittels üblicher körperlicher Gewalt zu bekämpfen. Der angeblich hinterlistige Mord mit intriganten Erkundigungen zuvor ist daher eher eine Kriegslist gegen einen ansonsten unbesiegbaren Gegner zur Wiedergutmachung eines Verbrechens als ein Verbrechen selbst.

Im Gegensatz zu Siegfried handelt Hagen hier im damaligen kulturellen Kontext durchaus ehrenhaft, ebenso in anderen Handlungssträngen. Er begeht in der Sage nur einen entscheidenden Fehler: Er hält einem falschen, nämlich tyrannischen Herrscher die Treue. Da steht er nicht allein, die übrigen Burgunder tun es ihm gleich. Aber er ist der Protagonist, der den Fehler versinnbildlicht, an dem am Ende das gesamte Volk zugrunde geht.

Diese Nibelungentreue der Burgunder gegenüber ihrem König ist also keine Tugend, sondern eine Warnung vor den möglichen negativen Konsequenzen, wenn die geschworene Treue nicht gegenseitig erbracht wird, sondern nur von unten nach oben oder von einer Seite zur anderen. Im christlichen Kontext wird die unbedingte Treue der Untergebenen nach oben, die Gnade der Oberen nach unten als richtig angesehen. Dies entspricht der mythologischen Hierarchie mit einem obersten Gott. Im Heidentum, speziell im germanischen, ist Treue eine bilaterale Angelegenheit2. Sie muß erwidert werden, auch und gerade vom Herrscher, Heer- oder Anführer, was Gunther nirgends einhält. Wird die Treue von einer Seite gebrochen, ist die andere nicht mehr verpflichtet, sich daran zu halten.

In der deutschen Geschichte gibt es einige Beispiele, wie der falsche Umgang mit der Treue in Katastrophen endete. Wann immer deutsche Herrscher im 19. und 20. Jahrhundert die Nibelungentreue als vom Volke zu leistende Tugend forderten, führten sie das Land in einen Weltkrieg und dann in den Untergang. Für die Angehörigen der militärischen Widerstandsbewegung im Dritten Reich war der Treueschwur auf Adolf Hitler persönlich lange ein ernstzunehmendes Hindernis, aktiv gegen den Herrscher vorzugehen. Stauffenberg zum Beispiel fühlte sich lange an diesen Eid gebunden, bevor er als Attentäter auftreten konnte [Hof07].

Bei einem anderen – wirklich heidnischen – Verständnis der Treue wäre dieser Bruch weit früher gekommen (siehe auch Seite 151f). Ein Beispiel dazu liefert der als historisches Vorbild für Siegfried vermutete Arminius. Dieser war von mehreren Stämmen als Heerführer gegen die Römer ausgewählt worden, nach seinem Sieg war diese Rolle abgelaufen. Er versuchte aber, sich als Alleinherrscher zu etablieren – vielleicht auch mit militärischer Gewalt, das wissen wir nicht –, woraufhin er von seiner eigenen Verwandtschaft beseitigt wurde. Nun mag ein solcher vorbeugender Tyrannenmord nach heutigem Rechtsverständnis nicht korrekt sein, beim tatsächlichen Tyrannenmord ist man da auch heute noch aufgeschlossener. Kaum einer verurteilt das Attentat Stauffenbergs als übles Verbrechen, und in germanischer Zeit ohne Rechtsstaat oder Staat überhaupt gab es wohl kaum andere Optionen, gegen einen militärisch hochgerüsteten potentiellen Herrscher vorzugehen, den man als halbwegs freier Mensch nicht wollte.

Eine besondere Art von Mythen sind Schöpfungsgeschichten. Auch hier ist es wenig ratsam, sie als historische beziehungsweise naturwissenschaftliche Berichte zu sehen. Es gibt aber zwischen verschiedenen Schöpfungsmythen aus verschiedenen Religionen einen gewichtigen Unterschied: Es gibt solche, in denen ein ewiger Gott den Kosmos erschafft, wie im Christentum, und solche, in denen der Kosmos von allein entsteht und die verehrten Götter erst später gezeugt werden. Letzteres ist zum Beispiel in den germanischen und griechischen Mythen der Fall.

Ein Mythos von der Entstehung oder dem Aufbau des Universums hängt stark mit der Kosmologie beziehungsweise kosmologischen Grundannahmen zusammen, sei es mit der Annahme einer Schöpfung durch höhere Wesen, eines spontanen Auftretens oder ewiger Existenz, auch in Form zyklischer Epochen. Das ist zwar noch Philosophie und keine Naturwissenschaft, aber nahe dran, so daß man Vergleiche zu naturwissenschaftlich ermittelten Kosmologien ziehen kann.

Im germanischen Mythos gibt es zunächst nur das Ginnungagap, die „gähnende Leere“. Aus dem Nichts erscheinen zwei Welten, die des Feuers (Muspelheim) und die des Eises (Niflheim). Das Feuer läßt das Eis schmelzen, es dringt in die Leere ein und bildet den späteren Kosmos in der Urform des Riesen Ymir [Jor01].

Im griechischen Mythos ist das sehr ähnlich formuliert. Am Anfang gibt es das Chaos, einen völlig ungeordneten Zustand. Daraus entsteht der Kosmos in Form titanischer Urgötter, unter denen Gaia (auf Deutsch auch „Gäa“), die Erdmutter, die wichtigste ist [Hes99].

In beiden Fällen treten die Götter erst nach einigen wenigen Generationen andersartiger höherer Wesen, den Riesen oder Titanen, auf, von denen sie abstammen. Die verehrten Götter sind also keine Schöpfer des Universums, weshalb ich diese Geschichten auch lieber „Weltwerdungsmythen“ statt „Schöpfungsmythen“ nenne. Hierbei ist noch zu beachten, daß die Annahme der Existenz weiterer Welten, wie eines Jenseits oder der nordischen Neun Welten, sogar ganzer Universen, keine Ausnahme bildet. Die über die Welt der Menschen und das von uns bewohnte Universum hinausgehenden Welten zählen ebenso zum gesamten Kosmos wie die unsere.

Gegenüber dem Konzept von einem oder mehreren ewigen Göttern, die den Kosmos aus dem Nichts erschaffen, haben die Weltwerdungsmythen meines Erachtens nach zwei Vorteile und machen darüber hinaus einen wesentlichen Unterschied für die möglichen Vorstellungen der involvierten Götter aus.

Der erste Vorteil ist die Übereinstimmung der Grundaussage, daß der Kosmos von selbst entstand, mit dem aktuellen naturwissenschaftlichen Wissensstand. Unabhängig davon, daß man einen Mythos nicht im Detail naturwissenschaftlich analysieren sollte, ist ein mit der modernen Kosmologie übereinstimmendes Gesamtmotiv nicht abwegig. Die Entstehung des Kosmos „aus dem Nichts“ ist die allgemein akzeptierte physikalische Theorie [Gut99], einen dazu passenden Mythos halte ich für besser als einen dazu unpassenden.

 

Im nordisch-germanischen Weltwerdungsmythos kann man das Zusammenspiel von Feuer, Eis und leerem Raum als poetisches Bild für das frühe expandierende Universum nehmen, in dem Strahlung und Materie durch die allgegenwärtige Abkühlung, die aus der Expansion folgte, voneinander getrennt wurden und daraufhin die heutige erfahrbare Struktur des Universums bildeten, inklusive der Galaxienhaufen und Hintergrundstrahlung [Wei77]. Muspelheim, Niflheim und Ginnungagap bilden auf ähnliche Weise Ymir und Audhumbla, die man in diesem Zusammenhang als materielle Struktur des Kosmos interpretieren kann. Bevor die Götter die Welt der Menschen schaffen, töten sie Ymir, um aus seinen Überresten Material dafür zu gewinnen. Physikalisch kann durch Kernfusion innerhalb der Sterne maximal Eisen als schwerstes Element entstehen. Kupfer, Silber, Gold und das für menschliche Schilddrüse notwendige Jod gibt es nur, weil frühe Sterngenerationen als Supernovae explodiert sind, wobei die Elemente, die schwerer als Eisen sind, produziert wurden, die nun auch Grundbestandteile der Erde und des Lebens darauf bilden. Das heißt, wie der Tod des Ymir der menschlichen Welt vorausgehen mußte, war im physikalischen Universum der Tod von Sternen notwendig, bevor ein für Menschen geeigneter Planet entstehen konnte.

Das soll jetzt weder be- noch andeuten, daß unsere Ahnen, die diesen Mythos verfaßt haben, diese Zusammenhänge erkannt oder heutige astronomische Erkenntnisse dahingehend vorausgesehen haben. Sie scheinen aber eine wesentlich besser zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen passende Kosmos-Vorstellung gehabt zu haben als so manche religiöse Konkurrenz. Darüber hinaus finde ich es äußerst interessant, welche Möglichkeiten man hat, den Mythos aus moderner Sicht zu interpretieren, auch wenn das nicht unbedingt notwendig ist.

Der zweite Vorteil ist, daß ein ewiger Gott, der ein endliches Universum schafft, zu ernsthaften gedanklichen, wenn nicht gar logischen Problemen führt. Zur Erläuterung muß man zunächst definieren, was „ewig“ bedeuten soll. Da gibt es zwei Optionen, erstens einen „unendlich langen Zeitraum“ und zweitens „zeitlos“.

Die meisten aktuellen Kosmologien gehen davon aus, daß die Raumzeit zusammen mit dem Universum entstand [Haw88]. Einen Zeitraum vor dem Urknall kann es somit nicht gegeben haben, wodurch die erste Definition von „ewig“ als „unendlich langer Zeitraum“ physikalisch unsinnig wäre. Allerdings gibt es auch Hypothesen, die auf andere Verhältnisse hindeuten, so daß ein reiner physikalischer Einwand bezüglich der Definitionen nicht unbedingt sinnvoll ist.

Ein Gott, der unendlich lange existiert hat und dann zu einem bestimmten Zeitpunkt in dieser Ewigkeit das Universum schafft, läßt die Frage aufkommen, wieso er unendlich lange gewartet hat, bevor er den Kosmos schuf und was den tatsächlichen Zeitpunkt der Schöpfung nun so besonders macht, daß er gerade dann schuf und nicht irgendwann unendlich zuvor.

Dieses Problem war schon vor dem Christentum bekannt; die Epikureer argumentierten schon im ersten vorchristlichen Jahrhundert gegen das platonische Gottesbild, das auch von einem ewigen Schöpfer ausgeht [Cic95]: „An euch […] richte ich die Frage, warum die Baumeister der Welt plötzlich hervorgetreten sind, aber zahllose Jahrhunderte lang geschlafen haben. Denn wenn auch noch keine Welt existierte, so gab es doch die Zeit […]; weswegen also […] war eure Pronoia3 während dieser unermeßlichen Zeitspanne untätig? Scheute sie die Mühe? Aber ein Gott empfindet keine, und es gab auch gar keine, da alle Kräfte der Natur, Himmel, Feuer, Erde und Wasser der göttlichen Macht gehorchten.“

In einer unendlich langen Zeitspanne einen zeitlich endlichen Kosmos, dessen Dauer gegenüber der Ewigkeit immer so gut wie Null ist, anzunehmen, der von einem oder mehreren Wesen aus dieser Ewigkeit heraus bewußt erschaffen wurde, ergibt wenig bis keinen Sinn.

Setzt man Ewigkeit mit Zeitlosigkeit gleich, entgeht man zwar dem oben angesprochenen physikalischen Problem, erhält aber einige neue. Ein zeitloser Zustand kann sich nicht ändern; zu einer Veränderung braucht man immer Zeit, so daß an einem Zeitpunkt t 1 ein Zustand, an einem anderen Zeitpunkt t 2 ein anderer Zustand herrscht. Ein zeitloses Wesen, ob Gott oder nicht, könnte weder denken noch planen und somit keinesfalls einen Kosmos erschaffen, denn jede Handlung produziert eine Veränderung und erfordert damit Zeit. Das einzige (Hilfs-)Verb, das keine Zeit benötigt, ist „sein“. Ein zeitloser Gott könnte sein, aber nicht handeln.

Zudem, wenn es ein ewiges Leben nach dem Tod geben sollte, wäre dieses dann auch zeitlos, d. h. ohne jede Veränderung. „Leben“ kann man das kaum nennen, wenn man sich nicht mehr ändern, nicht mehr handeln, nichts mehr wahrnehmen kann. Von einem endgültigen Tod ohne jedes Jenseits unterschiede sich dieser Zustand nicht.

Bei diesen gedanklichen und logischen Schwierigkeiten nimmt es nicht Wunder, daß Theologen, die einen zeitlosen Gott als ewigen annehmen, ihm ab und zu zeitliches Eingreifen in die Welt zutrauen. Dies macht meiner Ansicht nach noch schlimmere Probleme als alles andere. Wie soll das physikalisch funktionieren, in einer Zeitlosigkeit von Zeit zu Zeit reale Zeitpunkte zum Handeln zu haben? Das ergibt keinerlei Sinn.

Die Annahme, daß man Schöpfer für den Kosmos brauche, kommt aus einer philosophischen Sicht, die zum Beispiel Titus Lucretius Carus, genannt Lukrez, wie folgt formulierte [Car12]: De nihilo quoniam fieri nihil posse videmus. = „Denn wir sehen, daß nichts von nichts entstehen kann“, was oft zu Ex nihilo nihil fit = „Von nichts kommt nichts“ verkürzt wird.

Man geht hier davon aus, daß alles Existierende und besonders etwas, das irgendwie entstanden ist, also nicht immer existiert hat, eine Ursache haben muß. Für den Kosmos, der einen Anfang besitzt, muß es demnach eine Ursache geben, die in einem zuvor oder ewig existierenden Schöpfergott gesehen wird. Gegen diese Sicht gibt es einen logischen und einen physikalisch-philosophischen Einwand, letzterer stammt allerdings erst aus dem frühen 20. Jahrhundert.

Die Annahme einer ununterbrochenen Ursache-Wirkungs-Kette, die eine Ursache für den Kosmos erfordert, bedingt ebenso, daß es für die Existenz des Schöpfergottes eine Ursache geben muß, womit man in einen infiniten Regreß gelangt, der hier an einer beliebigen Stelle, nämlich dem Schöpfergott, abgebrochen wird, für die es keinerlei logische Begründung gibt. Genausogut könnte man einen „Meta-Gott“ fordern, der den Schöpfergott erschafft, und dort die Kette abbrechen. Oder man bricht die Ursache-Wirkungs-Kette bei der Entstehung des Kosmos selbst ab, so daß philosophisch gar kein Schöpfergott notwendig wäre.

Nach der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, die die Nobelpreisträger Niels Bohr und Werner Heisenberg formuliert haben und die heutzutage von den allermeisten Physikern akzeptiert wird, geschehen in der mikroskopischen Welt permanent indeterministische Vorgänge, auf die eine beständige und für alles geltende Ursache-Wirkungs-Kette nicht anwendbar ist [Hei55]. Dies gilt dann natürlich auch für die Entstehung des Kosmos, die man als ursachenloses Quantenereignis auffassen kann, insbesondere bei einem expandierenden Universum, das zu Beginn Ausmaße hatte, die im subatomaren Bereich liegen. Bei dermaßen kleinen Abständen der Raumzeit ist wegen der Heisenbergschen Unschärferelation [Hei27] energetisch so ziemlich alles möglich, auch die Entstehung eines gigantischen Universums.

Ein weiteres Problem mit Schöpfergottheiten, die den Kosmos um des Menschen willen hervorgebracht haben, sind die Ausmaße unseres Universums. Unsere Welt macht darin nur einen winzigen Ausschnitt aus, vermutlich gibt es unzählige weitere, auf denen Leben und wohl auch Intelligenz entstanden sein mag. Ein solch gigantisches Gebilde nur zum Zwecke des Menschengeschlechts zu erschaffen, erscheint wenig sinnvoll. In Zeiten eines Weltbildes, das sich aufgrund der limitierten Beobachtungsmöglichkeiten auf das Sonnensystem mit einer abschließenden Fixsternsphäre beschränkte, fiel dieser Umstand nicht auf. Vielleicht mag ein Schöpfergott mit dem Kosmos weit mehr intendiert haben, als uns zugänglich ist oder gar offenbart wurde; einsichtig erscheint mir das aber nicht.

Eine Mischform zwischen einem Schöpfergott und immanentem Polytheismus zeigen zwei ägyptische Schöpfungsmythen, jene aus Memphis und die Enneade von Heliopolis [Sha91]. Hier entsteigt der eine Gott, der den gesamten Kosmos inklusive aller anderen Götter erschafft, zunächst dem Nun, dem Urmeer. Im Mythos von Memphis ist es Ptah, der Baumeister, in der Enneade Atum, der Selbsterschaffene. Das Nun kann man mit dem Ginnungagap und dem Chaos vergleichen. Das Tohuwabohu im Alten Testament geht in dieselbe Richtung.

Die ungeordneten Zustände der literarischen Mythen vor dem Kosmos, ob nun Nun, Ginnungagap, Chaos oder Tohuwabohu genannt, lassen sich einigermaßen mit dem kosmologischen Zustand beim Urknall vergleichen, sei es nun ein Nichts oder nach neueren Hypothesen eine Art ewiger Quantenschaum, aus dem Universen als materielle Blasen entstehen [Vil07]. Oft gibt es noch Erweiterungen zu den Mythen, die von einem zyklischen Werden und Vergehen des Kosmos ausgehen, z. B. das Aufkommen einer neuen Welt nach Ragnarök in der nordischen Mythologie. Zyklische Konzepte werden von modernen Kosmologen ebenfalls diskutiert: Sollte die gesamte Masse des Universums groß genug sein, ist ein ewiger Zyklus von Expansion und Implosion aufgrund der Gravitation unausweichlich [Wei77].

Die empirische Tatsache, daß das Universum sich ausdehnt und somit einen Anfang gehabt haben muß, statt ewig zu existieren, wird von den Religionen gerne als Beweis für eine Schöpfung genutzt, die eine solche postulieren. Interessanterweise war es ein katholischer Priester und Astrophysiker, Georges Lemaître, der die erste Urknalltheorie formulierte [Lem27]. Schließlich sah man lange nur zwei Optionen, eine Welt mit einem durch einen transzendenten Schöpfer initiierten Anfang und ein ewiges Universum. So sagte schon Heraklit [Stä06]: „Diese Welt […] hat weder ein Gott noch ein Mensch geschaffen, sondern sie war immer, ist immer und wird sein ewig lebendes Feuer.“

Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erlauben aber, sowohl einen zyklischen als auch einen endlichen Kosmos anzunehmen, der ohne transzendente Ursache aus einem zeitlosen Nichts oder Quantenschaum spontan entstanden ist, wenn man die gängige Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik mit einbezieht.

In Anbetracht all dieser Umstände halte ich die Grundidee der Weltwerdungsmythen für weitaus sinnvoller und besser zu den naturwissenschaftlichen Tatsachen passend als jene Mythen, die von einer Schöpfung des Kosmos als Handlung eines oder mehrerer höherer Wesen erzählen.

Ebenfalls eng mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden sind die Mythen, die von der Entstehung des Menschengeschlechts berichten. Hier sind in allen mir bekannten Mythen die Götter involviert, so daß man fragen kann, wie das mit der Evolutionstheorie zusammenpaßt, nach der das Leben von allein entstanden ist, sich selbst weiterentwickelt und so auch den Menschen ohne Planung oder äußere Einflußnahme hervorgebracht hat.

Hierbei sind zwei Dinge wichtig: Zum einen der schon erläuterte Umstand, daß ein Mythos eine Lehre enthält, die nicht unbedingt etwas mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu tun haben muß, zum anderen die Vorstellung, die man mit den in den Mythen agierenden Göttern verbindet und die wir im nächsten Kapitel im Detail analysieren werden.

Nimmt man die Götter zum Beispiel als personifizierte Naturgesetze, so wie Jordan in seiner Edda-Übersetzung die Götter einige Male „Ordner“ nennt [Jor01], dann ist die „Erschaffung“ der Menschen durch diese Götter ein völlig natürlicher Vorgang.

Gerade bei der Erschaffung der Menschen in der Völuspa gibt es vielfältige Interpretationsmöglichkeiten. Rein wörtlich finden die Götter Odin, Hönir und Lodur am Strand zwei Baumstämme, die sie durch die Gabe diverser Eigenschaften und Fähigkeiten in das erste Menschenpaar Ask und Embla (= „Esche und Ulme“) verwandeln.

Nun ist eine Schöpfung des Menschen aus Bäumen ein sehr archaischer Mythos [Tho58] und mag von den Erzählern der Völuspa so beabsichtigt gewesen sein – es sind hier aber weitere Deutungen möglich: So mögen die Baumnamen rein symbolisch oder poetisch gemeint gewesen sein, und die Menschwerdung ist hier die erste Begegnung mit und der Erhalt gewisser Fähigkeiten von den Göttern. Es geht also nicht um die biologische Erschaffung des Menschen, sondern um seine kulturelle beziehungsweise zivilisatorische Entwicklung. Der Kontakt mit den Göttern, bei dem der Mensch Gaben erhält, was man als die Erlangung ganz neuer Arten von Wissen deuten kann, versetzt den Menschen auf eine andere Entwicklungsstufe. Evolutionär geschah das natürlich nicht zu einem Zeitpunkt, sondern über einen sehr langen Zeitraum, aber im Mythos kann man das konzentriert darstellen.

 

Aus heutiger Sicht wissen wir natürlich, daß alle Lebewesen auf der Erde evolutionär miteinander verwandt sind, so daß eine moderne Interpretation dieser Stelle der Völuspa die biologische Verwandtschaft des Menschen mit allem Leben als möglichen Hintergrund für die Bäume sieht. Dazu paßt, daß die Götter die Menschen nicht aus unbelebtem Material einfach so herstellen, sondern sie „lediglich“ auffinden. Die Anführungsstriche habe ich gesetzt, weil ich das „lediglich“ in diesem Kontext keinesfalls abwertend meine, eher im Gegenteil.

Interessant ist auch, wie sehr Mythen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen sich ähnlich sehen. Soweit ich das überblicken kann, enthalten zum Beispiel alle indogermanischen Religionen den Kampf eines Gottes, meistens eines Wettergottes, oder Helden gegen eine Schlange oder einen Drachen. In den Veden ist es Indra gegen Vithra [Thi77], bei den Hethitern Tarhunna gegen Illuyanka [Sch65], bei den Griechen Herakles gegen die Hydra [Sch82], bei den Germanen Thor gegen die Midgardschlange oder Sigurd gegen Fafnir, den Lindwurm [Sim76]. Selbst im Christentum wird Satan gerne als Schlange dargestellt, die von Jesus erfolgreich bekämpft wird, und es gibt dort die Legende vom Drachenkampf des heiligen Georg [Vor07]. Der Kampf eines Gottes oder Helden gegen eine den Menschen bedrohende Macht wird also über einen langen Zeitraum in unterschiedlichsten Kulturen mit sehr ähnlichen Bildern dargestellt, was nun kein Wunder ist, erzählen die Mythen doch von Archetypen, und die sind nun mal identisch.

Ebenso interessant und erstaunlich ist, wie sehr sich die alten Mythen im Brauchtum niedergeschlagen haben und auch von Menschen praktiziert werden, die keinerlei Bezug zu ihnen haben noch sie kennen. So gibt es hierzulande immer noch den Brauch, zu Weihnachten keine Wäsche zu waschen oder aufzuhängen. Dies ist mitnichten ein christliches Arbeitsverbot, sondern geht wohl auf die Furcht zurück, daß sich in den zur selben Zeit stattfindenden Rauhnächten, in denen die von Wodan angeführte Wilde Jagd tobt, sich die Geister der Toten in den Wäscheleinen oder aufgehängten Wäsche verfangen oder sie gar stehlen könnten und im weiteren Verlauf des Jahres als Leichentücher für den Besitzer nutzen könnten. Weiteres zu den Rauhnächten in [Frü99].

Ob einem die Inhalte der Mythen nun zusagen oder nicht, und ob man sie kennt oder nicht – die kulturelle Bedeutung, so unscheinbar sie auch bei obigem Beispiel sein mag, zeigt, wie sehr sie das menschliche Gemüt dazu animieren, sich auf feste, gegebene Grundformen, eben jene Archetypen, zu beziehen.

Schwierig wird es, wenn ein Mythos von einer Kultur zur nächsten, von einer Zeit zur nächsten und somit von einer Sprache zu einer anderen weitergegeben wird. Man kennt es von Diskussionen um Bibelübersetzungen, bei denen man eigentlich Griechisch oder Hebräisch können muß, um den Inhalt und die dahinterliegende Intention vollständig begreifen zu können. Bei den nordisch-germanischen Mythen, so sie denn aus den Eddas stammen, ist das genauso, wobei noch hinzukommt, daß nicht nur das Altnordische übersetzt wird, sondern auch die verwendeten Worte den Stabreim nachbilden sollen. Dies macht es oft schwierig, überhaupt einen zum Original passenden Begriff zu finden, und treibt mitunter den Leser arg verwirrende Blüten.

Ein Beispiel aus der Völuspa. – Keine Angst, ich möchte mich auf vier Originalverse beschränken [Mun47]:

Áðr Burs synir bjöðum um ypðu,

þeir er Miðgarð mœran skópu;

sól skein sunnan á salar steina,

þá var grund gróin grœnum lauki.

Simrock übersetzte dies folgendermaßen [Sim76]:

Bis Börs Söhne die Bälle erhuben,

Sie, die das mächtige Midgard schufen.

Die Sonne von Süden schien auf die Felsen

Und dem Grund entgrünte grüner Lauch.

Und Jordan so [Jor01]:

Bis Bur erzeugte die Zirkelbahnen,

Geschaffen für sie, worauf sie den schönen

Garten der Mitte gemodelt, die Erde.

Von Süden besonnt ward die starre Steinflut

Und die Gründe grünten von Gräsern und Kraut.

Bälle? Zirkelbahnen? Der Google-Übersetzer [Goo12] macht aus der ersten Zeile grob „bis Burs Söhne die Last gehoben“, kennt allerdings kein Altnordisch, nur Isländisch, was zu Bedeutungsverschiebungen einzelner Worte führen kann. Kombiniert man Simocks und Jordans Übersetzungen, kann man „Bälle“ als Planeten deuten und „Zirkelbahnen“ als deren Umlaufbahn um die Sonne, aber ob dies vor tausend Jahren und früher wirklich gemeint war, wage ich zu bezweifeln, auch wenn es von der Bedeutung her gewiß nicht falsch ist, statt der Erde das gesamte Sonnensystem als von den Göttern geordnet anzusehen.

Henry Adams Bellows übersetzte dagegen [Poe12]:

Then Bur’s sons lifted the level land,

Mithgarth the mighty there they made;

The sun from the south warmed the stones of earth,

And green was the ground with growing leeks.

Mit dieser englischen Übersetzung als Vorbild, die, so finde ich, weit hübscher und passender als die deutschen Versuche klingt, versuche ich mich nun darin:

Bald erhoben Burs Söhne das ebene Land,

Das mächtige Midgard machten sie dort,

Die Sonne im Süden schien auf die steinige Erde,

Und grünes Gras wuchs auf warmem Grund.

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