Drachengeist

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Aus der Reihe: Drachengeist #1
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Andreas Kühnapfel Falk Enderle, Falk Enderle

Drachengeist

Das Erwachen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Ehrgeiz

Die Last des Regenten

Erwachen

Besucher und Beobachter

Überstürzter Aufbruch

Lowyan

Versteckt

Krönungstag

Das Rauschen seines Blutes

Der Raubzug

Freiheit

In der Falle

Impressum neobooks

Prolog

Vor vier Jahren

Im Laufschritt eilte der Kanzler die Treppe hinab. Sein Puls raste und er schnaufte bei jedem neuen Absatz. Verflucht, er war zu fett geworden! Wer hätte auch ahnen können, dass der Informationsdienst seine Leute so tief im Keller des Wahrheitsdomes verstecken würde. Das nächste Mal würde er verfügen, sie im Erdgeschoss unterzubringen. Das käme seiner augenblicklichen Verfassung eher zugute.

Endlich hatte er das fünfte Untergeschoss erreicht. Das Licht alter Öllampen warf unruhige Schatten auf die uralten, glatt behauenen Wände. Neben der feuerfesten Tür prangte das Symbol des Informationsdienstes. Sonderabteilung Albastairn. Nervös fummelte er an seinem Finger herum, drehte den Siegelring mit dem Symbol Richtung Handfläche und legte die Hand dann in die Vertiefung in der Wand. Mit einem hörbaren Klacken entriegelte sich die Tür und Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Im Halbdunkel des riesigen Raumes tuschelten und wuselten ein halbes Dutzend menschlicher Schemen umher, die sich über alte Abbildungen des Westmeeres beugten, Zettel hin- und herschoben und kleine Fähnchen in eine Karte von Albastairn steckten, die an der Wand hing.

Der Abteilungsleiter war von unverwechselbar schlaksiger Gestalt und näherte sich dienstbeflissenen Schrittes. Sein Gesicht wurde von einem schmalen Bart umrahmt. Zahllose Lachfältchen umgaben seine Augen. Die hohe Silberkappe, die ihn als Gelehrten auswies, glitzerte.

“Was hast du gefunden?”, fragte der Kanzler den Gelehrten. Mit Floskeln hielt er sich heute nicht auf.

“Wir haben alles zusammengetragen - Berichte, Beobachtungen, Zahlen und ein paar Gerüchte.” Der Gelehrte glitt zwischen seine Analytiker und fischte eine kleine, bebrillte Frau aus dem menschlichen Knäuel rund um den zentralen Kartentisch.

“Sergeant Vankhuus, berichtet”, gebot er und gab ihr einen kleinen Schubs in Richtung des nächtlichen Besuchers. Ihrem Blick war zu entnehmen, dass ihr die Anwesenheit des Kanzlers unangenehm war. Aber sie besann sich, straffte sich und strich eine blonde Strähne aus ihrer Stirn. Ihre grauen Augen suchten einen Punkt auf seiner schweren Kanzlerkette, bevor sie zu sprechen begann.

“Exzellenz, die Informationen aus Albastairn lassen darauf schließen, dass etwas Bedeutendes bevorsteht.”

Ihre Stimme klang gepresst und die versteinerte Mimik in ihrem burschikosen Gesicht verrieten ihm, dass ihr jegliches höfisches Gehabe fremd war. Also lächelte er, um sie ein wenig zu ermuntern.

“Was, Sergeant?”

Vankhuus blickte kurz unsicher zum Abteilungsleiter. “Die Eiserne Garde hat den Donjon abgeriegelt”, berichtete sie, nachdem ihr der Abteilungsleiter gütig zugelächelt hatte. “Unsere Agentin vermutet, sie öffnen die versiegelte Galerie im Donjon.”

Der Kanzler lächelte angestrengt weiter und widerstand dem Drang, alles aus der schmächtigen Analystin herauszuschütteln.

“Weiter.”

“Der Großalchemist von Albastairn weilt seit einer Woche im Donjon und richtet angeblich dort ein Labor ein. Die Küche soll ihm wegen seines Alters magenschonende Kost…”

“Ja, ich weiß”, unterbrach der Kanzler sie. “Sie öffnen die versiegelte Ahnengalerie nur bei Tod des alten und Inthronisierung des neuen Herrschers. Warum also jetzt?”

Der Abteilungsleiter warf ihm einen bedeutungsschweren Blick zu, während der Kanzler die Stirn runzelte. Er verstand noch nicht, worauf die beiden hinauswollten. Vankhuus blickte ihn erwartungsvoll an.

“Du willst sagen, dass…”, begann der Kanzler langsam.

“Es ist das Zepter”, half sie ihm aus, und fügte schnell “Exzellenz…” hinzu. “Der Großalchemist untersucht das Zepter von Albastairn.”

Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer. Um das Zepter rankten sich die seltsamsten Gerüchte. Es war unbestreitbar alt. Voller alchemistischer Symbolik.

“Ist das bestätigt?”, fragte er den Abteilungsleiter.

“Unserem albastairnischen Freund zufolge macht der Grandugh von Albastairn bedeutende Geldmittel frei, um sie dem Großalchemisten zur Verfügung zu stellen”, antwortete dieser.

Der Kanzler nickte langsam. Das war in der Tat nichts Alltägliches. Nichts, aus dem er alleine Nutzen ziehen konnte. Er würde Theabel informieren müssen.

“Unsere Agentin ließ uns wissen, dass sie bis auf Weiteres einen Unterschlupf bei ein paar Flüchtigen gefunden hat, die vor den Steuereintreibern des Grandugh geflohen sind. Sie hält sich für weitere Aktionen bereit.” Sergeant Vankhuus tat einen Schritt zurück ins Halbdunkel. Mehr hatte sie nicht zu diesem Gespräch beizutragen.

“Danke, Sergeant. Gute Arbeit.”

Einige Wimpernschläge später hetzte er wieder durch die Gänge. Seit Monaten mehrten sich die Anzeichen, dass Albastairn aufrüstete. Pläne für gepanzerte Schiffe wechselten den Besitzer. Die Militärschmieden erhielten viermal so viele Aufträge wie sonst. Kein Zweifel, der Grandugh würde in naher Zukunft die Schmach seines Vaters rächen wollen. Aber was in aller Welt wollte der Großalchemist mit dem Zepter?

Ehrgeiz

Provinz Vynnland – Das Moor, heute

Erstickende Hitze füllte das Innere des Wagens wie zäher Brei. Die Welt schien nur noch aus einem endlosen Schaukeln zu bestehen. Er hätte sich gern erbrochen, aber sein Magen war leer. Zurück blieb nur noch die Übelkeit. Schmerzen in seinen Eingeweiden. Als ob sich eine stachelbewehrte Faust in seinen Magen wühlte.

Ob seine Augen geschlossen oder geöffnet waren, erkannte er nur durch den schwachen Lichtschimmer, der durch winzige Lüftungsschlitze fiel. Von draußen drang das Klappern und Knirschen der Räder an sein Ohr, mal ein Lachen, das Schnauben der Ochsen. Er sehnte sich zurück in die geborgene Finsternis des Verlieses, nach dem Brüllen und Gekreische aus den anderen Zellen. Dort schaukelte nichts und er bekam etwas zu essen. Der Sud war immer derselbe und schmeckte widerlich, doch er füllte den Bauch. Und es gab genug Wasser, mit dem er das Zeug hinunterwürgen konnte.

Selbst der Schmerz, wenn sie ihm heiße Flüssigkeiten in die Adern pumpten, die Fesseln, mit denen sie ihn fixierten, erschienen ihm verlockender als dieser elende Karren.

Wieder hörte er Lachen. Wie lange war es her, dass er einen Himmel gesehen hatte? Die warmen Strahlen der Sonne auf der Haut, das helle Licht in seinen Augen? Er wusste es nicht, hielt die Augen schon seit langem geschlossen, weil sie nichts zu sehen fanden. All dies erschien ihm wie fremde Erinnerungen, die aus seinem Verstand krochen wie Würmer aus alter Rinde. Würmer, die seinen eigenen Verstand auffraßen und nur Zorn zurückließen. Zorn auf die Ketten um seine Füßen und Arme. Auf das Schaukeln des Wagens und auf die da draußen.

Zorn.

Eine fremdartige Hitze stieg in ihm auf, verdrängte alle Geräusche, breitete sich aus, durchzuckte jedes einzelne Körperteil. Wieder ertönte ein raues Lachen. Rote Schleier tanzten vor seinen Augen. Und er nahm die kochende Wut auf wie einen alten Freund, umarmte sie, wurde eins mit ihr.

Er spürte den Schlag am ganzen Körper, als der Wagen hart über einen Stein rumpelte, schlug mit dem Hinterkopf an die Seitenwand, die Wut schoss in ihm hoch wie eine wilde Welle an der letzten Klippe.

Er wollte sie töten. Jetzt.

Sie alle.

* * *

Der junge Alchemist genoss das Laufen, denn nach den Tagen auf dem schlingernden Schiff war er froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben – auch wenn es nur dieser uralte, brüchige Damm von Thamhaven nach Albastairn war. Missmutig dachte er an diesen beschissenen Felsbrocken namens Casthil Rhygidor, auf dem er seit Jahren festsaß und als Adlatus des Großalchemisten diente. Die Seefahrten zwischen der Insel und dem Festland hasste er fast so sehr wie Großalchemist Fullen, dieses eingebildete, alte Klappergestell. Jedes Mal, wenn die Alchemisten einen vielversprechenden neuen Körper für das Große Experiment vorbereitet hatten, war er derjenige, der auf Geheiß Fullens auf das unruhig stampfende Schiff steigen musste, um Seine Gnaden, den Fürsten, auf dem Laufenden zu halten. Nur diesmal war es anders. Diesmal hatte ihn niemand geschickt. Denn dieser Körper war sein Werk.

 

„Götterversengte Hitze, ich brauch einen Schluck Wasser“, knurrte jemand hinter ihm.

Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter. Die brennende Sonne ließ kaum Schatten zwischen den knorrigen Sumpfbäumen zu, die Luft flirrte vor Hitze und unzähligen Fliegen, die die schwitzende Wachmannschaft umschwärmten. Ihre runden Helme glichen sicherlich kleinen Glutöfen. Zwischen den Wachen zerrten zwei Ochsen einen eisernen Karren, in den winzige Luftlöcher gestanzt waren, über den Damm. Die Hitze dieses Frühlings musste den Wagen mittlerweile ebenfalls unerträglich aufgeheizt haben, dachte der Alchemist. Kein angenehmer Ort, aber er musste sichergehen, dass seinem Passagier nichts geschah. Die Klinken der Türen waren mit einer Siegel-Paste bestrichen, damit niemand anderer als der Alchemist sie öffnen konnte.

„Nur noch ein paar Stunden, Männer“, sagte der Alchemist und tastete nach seiner Wasserflasche. Er nahm einen kräftigen Schluck und prostete dem Soldaten aufmunternd zu. „Dann gibt’s kühles Bier.“

„Kühles Bad wär mir lieber“, ließ sich ein anderer vernehmen.

„Aye, mir auch“, antwortete sein Nebenmann lakonisch und rümpfte demonstrativ die Nase. Einige lachten.

Der Alchemist wusste, dass es ihnen nicht gefiel, das Ziel seiner Reise nicht zu kennen. Aber er hielt es für sicherer. Sie glaubten, sie transportierten eine Ladung Solarit irgendwohin in Albastairn. In gewisser Weise stimmte das ja auch.

Rasch wandte er sich wieder um, damit die Wachen sein versonnenes Lächeln nicht sahen. Seine Gnaden, der Grandugh, würde sprachlos sein, sobald er einen Blick in das Innere des Wagens warf und ihm der Alchemist erklärte, was er in den letzten Monden auf Casthil Rhygidor tagein, tagaus heimlich vorbereitet hatte. Oder besser, wen.

Ein schreckhafter Vogel flog auf und verschwand, ärgerlich keckernd, in einer nahen Hecke aus Moorrosen. Nachdenklich blickte er dem zerbrechlichen Tier hinterher. Das wichtigste Problem des Experiments schien lange Zeit nicht gelöst: Jede menschliche Hülle war viel zu schwach. Sobald der Geistsplitter ihr innewohnte, war es, als habe jemand eine viel zu große Flamme in einer Papierlaterne entzündet, denn der Splitter war mächtiger als sie alle zu hoffen gewagt hatten.

Der Alchemist allein kannte den Grund für das Dilemma seiner Kollegen: Die Forscher auf der Insel legten zu großen Wert darauf, ihre eigene Haut zu retten, anstatt die Formeln weiterzuentwickeln. Ihr einziger Gedanke galt dem unberechenbaren Zorn des Grandugh von Albastairn. Das einzige, was sie mit Bestimmtheit wussten, war, dass sie die Formel wohl niemals vollständig zu entwickeln vermochten. Denn daran, dass seine seit Jahren mühsam entwickelten Formeln fehlerhaft waren, verschwendete Großalchemist Fullen keinen Gedanken – was, wenn das Leben so unergründlich wäre, dass es sich selbst durch die geschickte Manipulation von Alchemie und Technik nicht dazu zwingen ließe, den Wünschen des Menschen zu folgen?

Die Tatsache, dass die Hüllen nach der langjährigen Vorbereitung auf das Experiment bar jeder Menschlichkeit waren, löste das Problem nicht, im Gegenteil – noch immer wurden alle, die den Splitter in sich aufnehmen konnten, schon nach wenigen Stunden verrückt. Oder starben. Oder beides.

Ein vielstimmiges Lachen ertönte hinter dem Alchemisten und schreckte ihn auf. Als er sah, wie eine der Wachen wild nach einer Stechmücke schlug, lachte er mit. Unwillkürlich durchzuckte ihn ein weiterer Gedanke. Er musterte erneut den Wagen, so als könne er geradewegs durch die eisernen Wände schauen.

Ob diese Hülle lachen konnte?

Der junge Alchemist hatte während einer der wenigen Vollversammlungen auf der Insel Rhygidor darauf bestanden, dass es kein alchemistisches, sondern ein psychisches Problem sei. Lebendige, aber leere Hüllen seien nicht fähig zu überleben, sagte er eindringlich, immer wieder, auch zu Fullen, der immer abwinkte. Er hatte den Großalchemisten sogar an die alten naturalistischen Schriften erinnert: Das menschliche Leben, so schrieben die alten Elementaren Meister dort, entstehe durch das göttliche Wirken der Natur und den lernenden Geist des Menschen. Die geistlose Leere in jenen Hüllen, welche die Alchemisten seit einiger Zeit auf der Insel erschufen, war deshalb zum Scheitern verurteilt.

Doch seine Kollegen hörten nicht auf ihn. Je mehr er sie bedrängte, desto unversöhnlicher zeigten sie sich ihm gegenüber. Schickten ihn immer öfter auf Botengänge zum Festland. Er wusste genau, dass sie ihn für viel zu jung und zu unerfahren hielten und deshalb nichts auf seine Meinung gaben. Allesamt Narren. Sie trugen ihr seit Jahren erworbenes Wissen wie Scheuklappen und scheuten neue Perspektiven.

Sie waren keine Künstler, wie er einer war. Manchmal glaubte er, seine wissenschaftliche Mitarbeit im Kreise seiner talentlosen Kollegen sei Verschwendung. Denn eigentlich konnten sie ihm nichts mehr beibringen. Es brauchte zwei Jahre, um zu erkennen, dass ihre Ignoranz in ihm einen grimmigen Ehrgeiz entfachte. Die langen, sonnenlosen Mondläufe in den Katakomben der Festung und das Studium von Anchares' „Schriften der Goldenen“ hatten in ihm einen gewagten Plan reifen lassen.

Er hörte auf, das zu tun, was sie von ihm verlangten, und nach einer Weile fruchtloser Diskussionen und Predigten über Loyalität und Gehorsam hörte auch Fullen endlich auf, ihm Befehle zu erteilen. Stattdessen zog er sich zurück und arbeitete nachts heimlich daran, die Formel des Experimentes im Geist von Anchares und den anderen Elementaren Meistern der Alchemie zu verändern.

Während die anderen sich über Grundsätzliches stritten, erschuf er über Monate hinweg immer öfter lebensfähige Hüllen, in die der Geist des Goldenen hineinschlüpfte wie in einen maßgeschneiderten Handschuh. Die meisten überlebten sogar.

Die Hülle auf dem Wagen hatte bisher am längsten überlebt, auch wenn der Splitter, wie bei allen übrigen, auch an seinem Geist zerrte. Aber die richtige Dosis Solarit in seinem Körper hielt das menschliche Empfindungsvermögen und die überschäumende Macht des Geistsplitters in einer bemerkenswerten Balance – sein größter Erfolg. Er hatte einen „Goldenen“ künstlich erschaffen, einen Menschen, der den Geistsplitter eines Drachen in sich trug. Und das Beste: Alle Rezepturen waren nur in seinem Kopf, nur er würde eine neue Hülle schaffen können, wenn die alte zerstört war.

Der Alchemist lächelte. „Fortschritt ist der Berg, den man noch nicht bestiegen hat“, schrieb Anchares einst. Sicher würde sich der Grandugh mehr als erkenntlich zeigen. Er konnte den Gipfel seiner Karriere bereits sehen. Großalchemist von Albastairn – er würde Fullen hinter sich lassen, ihn abstreifen wie einen alten, zu klein gewordenen Mantel. Nie wieder würde ihn jemand anbrüllen, er solle gefälligst die Bücher alphabetisch ordnen und nicht nach Jahren, nie wieder Botengänge, nie wieder im Schatten stehen. Ihm allein gebührte der Dank des Grandugh, weil er die Waffe erschaffen hatte, die er für seinen Krieg haben wollte.

Ein erstickter Schrei ertönte hinter ihm. Der Alchemist fuhr aus seinen triumphierenden Gedanken auf. Dort, wo der Wagen gewesen war, kochte nur noch eiserne Schlacke, dort, wo die Wachen gegangen waren, schmolz lebendes Feuer menschliches Fleisch von den Knochen, die leeren Rüstungen hässliche glühende Klumpen. Der Zug, der die Hülle transportierte, war von Flammen umhüllt. Entgeistert schnappte er nach Luft. Ein unartikulierter Schrei drang aus seiner Kehle. Brüllend schoss eine Lohe empor. Wie eine Lawine tobte sie auf ihn zu.

Nur einen Lidschlag später verwehte seine Asche im Wind.

Die Last des Regenten

Albastairn - Im Donjon

Als Lugh DeCulleon die Augen aufschlug, wehte ihm nur noch ein verschwindender Hauch von Moschus um die Nase, gerade so viel, dass er sich an die vergangene Nacht zurückerinnerte. Ein feines Schmunzeln stahl sich auf sein Gesicht, als die Gedanken zurückkehrten. Seine Linke tastete im Bett umher, bekam ein schlankes, Bein zu fassen und strich wohlwollend darüber. Dann schälte er sich langsam aus dem Bett. Das Haar seiner Mätresse floss lockig und unbändig über die Seidenlaken. Sie schlummerte immer noch friedlich. Ihr Anblick löste in ihm immer etwas Besonderes aus, dieses Gefühl, das viel stärker war als die reine Lust und fast wie ein Hauch von Liebe zu sein schien.

Er streckte sich, gähnte herzhaft und trat ans Fenster. Gelblich fahl kroch die Sonne ans Firmament hinauf und beschien die Dächer mit den roten, gelben und braunen Ziegeln, die hohen Giebel und Erker, unter denen die Menschen seiner Stadt, seines Landes erwachten. Langsam zersiebten die ersten Strahlen des Morgens den weißen Nebel, der vom Fluss heraufschwappte wie das Wasser selbst. Jeden Morgen stand er hier und beobachtete, wie die Stadt sich langsam regte.

Und wie jeden Morgen machte ihn das auf seltsame Art melancholisch. Vorsichtig berührte er seine Wange, aber er spürte die Berührung nur an seinen Fingerspitzen. Diese Hälfte seines Gesichts war tot, so tot wie sein Bruder, ein ewiges Mahnmal an die Stunde seines Leben, die ihn zum Grandugh gekürt hatte. Jeden Morgen erinnerte er sich daran, pünktlich zu Sonnenaufgang. Ein Mann wird an seinen Taten gemessen. Auch wenn sie hässlich waren: ihr Ergebnis zählte. Es kam nur darauf an, was diese Taten erschufen – in seinem Fall würde es die mächtigste Nation des Kontinents sein, sobald er Jestenburg endgültig in die Knie gezwungen hatte.

Wahrscheinlich wäre es nicht so weit gekommen, wäre sein Vater noch immer an der Macht. Niemand würde sich heute mehr fragen, warum das Land zum willfährigen Vasallenstaat des mächtigen Jestenburg geworden war. Keinen Menschen würde es interessieren, dass die Millionen Drachenkronen, die Jestenburg jedes Jahr verdiente, in Wahrheit albastairnisches Gold war, das einzig und allein ihm, dem Grandugh, zustand.

Doch bis es so weit war, gab es noch jede Menge zu tun. DeCulleons Blick fiel auf das polierte hölzerne Schreibpult neben dem Fenster. Die Arbeit wartete schon. Dort lagen noch immer die unbearbeiteten Dokumente von gestern: Analysen und Zahlen des Solarit- und Alabasterbergbaus im Schwarzensteingebirge; Statistiken und Zahlenkolonnen, die bewiesen, dass das Geschäft mit dem Solarit blühte wie nie zuvor, jetzt, da er die Jestenburger Minengesellschaften endgültig enteignet hatte.

Er nahm ein Blatt in die Hand und überflog es mit einem zufriedenen Grinsen. Der Solaritpreis an der Cronstader Börse war wieder gestiegen. Er war sich darüber im Klaren, dass Jestenburg seine aggressiven Vorstöße in das Monopol des Solarithandels keinesfalls auf sich sitzen lassen wollte. Dass die Handelsmacht seit Monden kein Wort darüber verlor, machte ihn ein wenig unruhig. Aber sie würden noch etwas Zeit brauchen, um sich von diesem Schock zu erholen, davon war er fest überzeugt.

Neben dem Stapel Blätter lag der Brief des jungen Alchemisten, der ihn vor ein paar Tagen erst erreicht hatte. Was der Adlatus von Großalchemist Fullen dort schrieb, war sicher wieder einer jener Versuche der Wissenschaftler, das Große Experiment irgendwie am Leben zu erhalten. Ständig gaukelten sie ihm vor, ihnen wäre der große Durchbruch gelungen. Aber er hatte sich geschworen, im kommenden Jahr keine einzige Drachenkrone mehr für diese Idioten auszugeben. Mittlerweile war er sich sicher, dass die Waffe, die Fullen so verbissen erschaffen wollte, nur in dessen Einbildung existierte. Doch die seltsamen Worte des Adlatus waren dieses Mal von einer großen Überzeugungskraft gewesen, selbstsicher und bestimmt. Die anderen Alchemisten erwähnte er mit keinem Wort. Das klang ganz so, als habe sich Fullens Bediensteter verselbständigt – ein Charakterzug, den DeCulleon gar nicht schätzte.

Es klopfte. Süßes Murmeln erklang unter den Seidenlaken, und seine Mätresse drehte sich zur Seite. Ungehalten darüber, dass man ihn zu dieser frühen Stunde störte, öffnete DeCulleon die Tür.

„Was ist?“, brummte er seinen Ersten Sekretär an, einen kleinen wieselflinken Albastairner bürgerlicher Abstammung, dessen Miene tiefstes Bedauern ausdrückte.

„Euer Gnaden, bitte untertänigst um Vergebung, Oberst Garland wünscht eine Audienz. Die Angelegenheit sei dringlich.“

DeCulleons gute Laune war wie weggewischt.

 

Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er dem Diener, Garland vorzulassen. Dann zog er sich gemächlich den schweren Seidenmantel über, schlang den Gürtel um die Hüften und blickte kaum auf, als Garland fast geräuschlos eintrat. Der Sekretär verneigte sich und schloss die Tür hinter sich.

„Was gibt es, Oberst?“, fragte DeCulleon und verlieh seiner Stimme einen freundlichen Unterton. Das tat er immer - nicht, um die Menschen in Sicherheit zu wiegen, sondern weil ihm der sanfte sonore Tonfall gefiel.

Garlands Uniform mit den silbernen Tressen und Orden an der Brust scharrte und klimperte leise. Unbehaglich musterte er seine Stiefelspitzen und umklammerte den Griff des Schwertes, das an seiner Seite baumelte.

„Euer Gnaden, Hauptmann Thael meldet, dass die ausgesandte Eskorte den Wagen auf dem Damm nach Thamhaven nicht finden konnten. Es gab keine Spur, weder von den Wagen, noch von dem Alchemisten, noch von dem … Gefäß.“

DeCulleons Kopf ruckte hoch, und er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Seine Finger krampften sich um den Bettpfosten.

„Was ist passiert?“, bellte er.

Garland versteifte sich unwillkürlich. „Das lässt sich nur vermuten. Wir versuchen, ihren Weg zurückzuverfolgen.“

„Jestische Saboteure?“

„Die Spitzel berichten, Jestenburg verhalte sich unauffällig. Es gibt keine Hinweise, dass die Jesten dahinterstecken.“

Nur mühsam konnte DeCulleon seine Wut niederkämpfen. Garland hier war nicht der Schuldige, versuchte er sich einzureden.

„Was ist mit … ihm, dem Gefäß?“, fragte er. Seine Stimme zitterte nicht, nein, sie war erstaunlich ruhig. Die Wutausbrüche waren in den letzten Monaten weniger geworden.

Er wurde langsam alt.

Garlands Gesicht war eine wie eine unbewegte Maske. „Keine Spur.“

DeCulleon spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Das waren die schlimmsten Nachrichten, die ihn seit langem heimgesucht hatten – abgesehen von der verheerenden Kesselexplosion vor einem halben Jahr in Thamhaven, die zwei seiner neuen Schiffe vernichtet hatte. Langsam atmete er ein und aus, um sich zu beruhigen.

„Das ist ungeheuerlich“, murmelte DeCulleon. Dann ruckte sein Kopf hoch. „Schickt die Eiserne Garde los“, knurrte er und spürte, dass seine Hände schweißnass waren. „Findet sie! Und lasst Hauptmann Thael hinrichten für seine Unfähigkeit!“

Garland verneigte sich steif. „Jawohl, Euer Gnaden.“ Seine Stimme knarrte genau wie seine Rüstung, abgenutzt wie ein alter Soldatenstiefel durch das Brüllen von Befehlen.

Als der Oberst das Zimmer verlassen hatte, sackte DeCulleon auf der Bettkante in sich zusammen. Fieberhaft dachte er nach. Was, wenn der Alchemist recht gehabt hatte? Was, wenn jemand den Leib gestohlen hatte?

Unruhig rieb er sich die Hände. Egal, was geschehen war: Was auf Casthil Rhygidor vor sich gegangen war, durfte niemand herausfinden. Ob erfolgreich oder nicht, das Experiment war beendet. Entschlossen richtete er sich auf. Er konnte sich einfach auf niemanden verlassen. Sie waren fehlbar, allesamt.

Als er angekleidet auf den Gang hinaustrat und die Tür hinter ihm ins Schloss knallte, erwartete ihn der Sekretär.

„Wir haben Nachricht aus Thamhaven erhalten, Euer Gnaden. Die ersten Erprobungen der neuen Kesseltypen sind vielversprechend“, berichtete er nach einer erneuten knappen Verbeugung.

„Wurden Uns die Anforderungslisten zugestellt?“, fragte DeCulleon abwesend. Seine Gedanken schweiften zu den Worten Garlands ab. Was, wenn es wirklich die einzig lebensfähige Hülle für den Geist des Drachen gewesen war?

Der Sekretär verneigte sich zum dritten oder vierten oder fünften Mal.

„Gemäß Euren Weisungen habe ich die Listen an den Quartiermeister der Albastairnischen Armada weitergeleitet. Die Solaritlieferungen für die Schmieden in Thamhaven werden um ein Drittel erhöht. Damit könnten...“ Der Sekretär hielt inne, warf einen Blick auf die zahllosen Papiere in seinen Händen und überflog sie rasch. „Damit könnten wir bis Ende des Jahres zwölf Panzerschiffe bauen und ausrüsten.“

DeCulleon blieb abrupt stehen. Das war zu wenig.

„Erhöht die Lieferungen auf siebzehn Raumklafter pro Monat. Wir wollen zwanzig Schiffe!“, blaffte er den Sekretär an. Dessen kleiner Kopf verschwand fast zwischen den spitzen Schultern. Zwanzig Schiffe, zwölfhundert Kanonen, zwanzigtausend Mann, weniger war kaum ausreichend, um Jestenburg zu schlagen.

Der Sekretär verneigte sich erneut.

„Ich werde es sofort veranlassen, Euer Gna-…“

„Warum bezahlen Wir Euch eigentlich? Sollen Wir Euch jede Information auf dem Silbertablett servieren? Vielleicht entlockt Ihr dem hässlichen Ding, das auf Eurem Hals sitzt, zur Abwechslung mal etwas Gescheites!“

„Ja, Euer Gnaden...“, murmelte der Sekretär und blinzelte.

DeCulleon kniff die Augen zusammen. Er kannte diesen Blick.

„Was denn noch?“

„Euer Gnaden, wir haben wieder einige Bittsteller. Sie beschweren sich wegen angeblich überhöhter Forderungen an Metallen, Salz und Mehl – die Missernten wegen des trockenen Winters und des heißen Frühlings...“, begann er, doch sein Fürst schnitt ihm mit einer missmutigen Geste das Wort ab. Er beschleunigte seine Schritte, sodass der Sekretär kaum folgen konnte.

„Alle nach Hause schicken“, befahl DeCulleon knapp. „Wir empfangen heute niemanden mehr, auch nicht in den nächsten Tagen.“

Natürlich verstand er, was sein Volk bedrückte. Missernten belasteten die Staatskasse seit ein paar Jahren, die merkwürdigen Wetterkapriolen beunruhigten seine Untertanen. Fast schien es ihm, als habe sich die göttliche Vierfaltigkeit gegen ihn verschworen, denn seit Jahren wurde es immer wärmer und trockener. Das Volk litt, aber vor jeden Aufstieg setzten die Götter den Fal. Ein Tal des Jammers, durch das er sie sicher hindurch geleiten würde. „Schickt eine verschlüsselte Nachricht zum Großalchimisten. Wir müssen wissen, welche Möglichkeiten uns noch bleiben. Schreibt ihm, falls die Hülle nicht wieder auftaucht, landet er auf dem Schafott.“

„Darf ich Euer Gnaden zu Bedenken geben, dass Großalchemist Fullen wahrscheinlich nichts über das gelungene Experiment weiß...“, hob der Sekretär an, aber ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

DeCulleon nickte nur knapp. Ja, das war ihm bewusst. Aber ein wenig Druck konnte nicht schaden. Vielleicht hatten die Jahre auf dem kargen Eiland im Westmeer diesem Hühnerhaufen endlich Ideen eingebläut. Sie erforschten diesen verdammten Geistsplitter seit fast einer Dekade, und es kam nichts dabei heraus – bis der merkwürdige Brief des Adlatus angekommen war.

Die Nachricht war kurz und knapp gewesen: er habe das Experiment vollendet und eine überlebensfähige, kontrollierbare Hülle geschaffen. Durch den Brief schöpfte er Hoffnung: Die gewaltigen Summen, die er in den Ausbau der Flotte steckte, waren nichts im Vergleich zu dem, was das Experiment auf Casthil Rhygidor verschlungen hatte. Wenn es sich bezahlt machen sollte, wäre die Flotte sogar überflüssig – denn dann konnte er mithilfe des Geistsplitters Jestenburg in einem einzigen Augenblick vom Angesicht Delireths tilgen; so einfach, als wische er es mit einer Handbewegung von der Landkarte.

Und jetzt dieses verfluchte Desaster. DeCulleons Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten, während er mit weit ausgreifenden Schritten den Gang entlangeilte. Die Feder des Ersten Sekretärs kratzte eifrig auf dem Papier, während sein Fürst weitersprach.

„Schickt Boten nach Thamhaven. Die Eiserne Garde soll die Wachmannschaft im Kriegshafen um hundert Mann verstärken. Lasst dem Volk verkünden, dass die Getreideabgaben um fünf Prozent steigen und dass Wir das Murren Einzelner wegen Unserer göttergefälligen Entscheidungen nicht länger ungestraft hinnehmen“, vollendete DeCulleon seine Anweisungen.

Er war es leid, ständig diese Jammertiraden zu hören. Zu Beginn seiner Herrschaft hatte er fast jeden Bittbrief gelesen, der ihn erreichte. Einige hatte er sogar beantwortet. Aber irgendwann hatte er aufgehört, seine Entscheidungen zu rechtfertigen. Es war seine Pflicht und sein Recht, sie auch gegen den Willen des Volkes durchzusetzen. Ein paar Unzufriedene forderten, dass er die Steuern senken solle, weil die Landwirtschaft in der alljährlichen Hitze darbte. Sie verlangten nach alchemischen Öfen für den Winter, die jüngste Erfindung der Alchemisten, aber die konnte sie sich nicht leisten. Sie wollten mehr als nur überleben, sie wollten leben, aber sie waren nicht bereit dazu, Opfer zum Wohle ihres Landes zu bringen. So wie er.

DeCulleon gelangte an einen steinernen Rundbogen, der den Blick auf einen der Innenhöfe des Donjons freigab. Dort unten stand das Schafott, und Garland stieß den wimmernden Hauptmann auf die Knie. DeCulleon verharrte und starrte hinab. Thael war vor vierzehn Jahren Soldat der Eisernen Garde geworden, nachdem sein Bruder die kleine Bootswerft in Thamhaven verkauft hatte. Er erinnerte sich an den Mann und sein eckiges Gesicht, die grauen Augen, aus denen Hoffnung und Vertrauen sprach. Das raue Training hatte er überlebt und mit strengem Blick und unerschütterlichem Glauben an das große Ziel seinem Herrn gedient – bis heute.