Buch lesen: «Mit Engeln und Eseln»

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Andreas Knapp Mit Engeln und Eseln

Andreas Knapp

Mit Engeln
und Eseln

WEISE

WEIHNACHTS-

GESCHICHTEN


Inhalt

Wie der heilige Nikolaus die Mitra erfunden hat

nikolaus

Wie ein Engel aussieht

adventskalender

Unter kalten Sternen

höhlengleichnis

Die Geschichte vom Grübchen

engelsgleich

Schneekristall

rettungsseil

* Wer glaubt denn noch an Engel?

nicht zu vergessen

Friedensengel

krippe und kreuz

Die Erfindung des Krippenspiels

Krippenspiel

Rede des Esels von Betlehem an das Jesuskind

SMS zu Weihnachten

* Das Kerzenwunder

wunschzettel

Die drei weisen Frauen aus dem Morgenland

Sterndeuter

* Eine heiße Idee

Heilige Nacht

*vor allem für Kinder und Jugendliche

Wie der heilige Nikolaus die Mitra erfunden hat

Meistens leuchteten Himmel und Meer von Myra in tiefblauen Farben. Dann bot die kleine Hafenstadt in der geschützten Bucht an der Küste Kleinasiens mit ihren weißen Häusern ein Bild des Friedens. Doch in diesem Jahr hatten die langen wolkenlosen Monate das Trinkwasser in dem malerischen Städtchen knapp werden lassen. Was aber noch schlimmer war: Die gesamte Getreideernte auf den umliegenden Feldern war aufgrund der großen Dürre völlig ausgefallen. Seit Wochen gab es kein Brot mehr und die Leute litten Hunger.

Der Bischof von Myra mit dem schönen Namen Nikolaus war sehr besorgt um die Menschen seiner Stadt. Er hatte mit den Bauern der Umgebung verhandelt und die letzten Reserven Getreide in die Stadt bringen lassen, damit vor allem die Kinder nicht vor Hunger sterben müssten. Doch nun waren auch diese Vorräte aufgebraucht.

An einem milden Abend ging Nikolaus durch die engen Gassen der Stadt. Er hörte, wie in den Häusern die Kinder weinten und die Mütter und Väter vor Kummer seufzten. Es brach dem Bischof schier das Herz und er beschloss seinen Rundgang in der kleinen Kirche von Myra, wo er Gott die Not der Stadt klagte.

Am nächsten Morgen hatte sich das gewohnte Blau des Himmels in ein trübes Grau verwandelt. Ein Sturm kam auf und bald setzte ein heftiger Regen ein. Endlich gab es wieder frisches Wasser, an Getreide jedoch fehlte es immer noch.

Nikolaus feierte in der Kirche von Myra einen Dankgottesdienst, da hörte er laute Stimmen durch die Gassen rufen: „Ein Schiff! Ein Schiff!“ Schnell eilte Nikolaus in seinem langen weißen Gewand zum Hafen hinunter, den Hirtenstab in der Hand. Tatsächlich: Ein mächtiges Schiff näherte sich der Hafeneinfahrt. Das war ungewöhnlich, denn die großen Handelsschiffe steuerten die Bucht von Myra normalerweise nicht an. Der Kapitän dieses Schiffes aber suchte anscheinend einen sicheren Ankerplatz, weil draußen immer noch ein heftiger Seesturm tobte.

Nikolaus ließ sich zum Schiff rudern, das schwer mit Getreide beladen war und einem reichen Kaufmann aus Konstantinopel gehörte. Dieser schaute auf den Mann mit dem langen weißen Gewand und dem Stab in der Hand verächtlich herab. Nikolaus indessen sprach ihn ruhig an:

„Die Bewohner der Stadt Myra sind Christen und ich bin ihr Bischof, das ist so etwas wie ein Hirte. Ich bitte dich, uns Getreide zu verkaufen, da die Bewohner der Stadt schon seit Wochen Hunger leiden.“

Der Kaufmann blieb ungerührt.

„Deine Religion interessiert mich nicht. Mich interessiert nur eines: Habt ihr Gold? Du weißt, dass in diesem Jahr aufgrund der schlechten Ernten Getreide sehr wertvoll ist. Ich habe bestes Korn aus Ägypten an Bord und werde dafür in Konstantinopel einen hohen Preis erzielen. Wie viel Gold kannst du mir bieten?“

Nikolaus runzelte die Stirn und antwortete:

„Man sollte die Not anderer nicht dazu benutzen, sich zu bereichern! Aber ich will sehen, was wir an Gold zusammentragen können.“

Als der Bischof eine Stunde später wieder auf dem Schiff erschien, konnte er nur eine kleine Schatulle mit wenigen Münzen und etwas Goldschmuck anbieten. Die Bewohner der Stadt hatten den größten Teil ihrer Wertsachen schon an die Bauern der Umgebung abgegeben, um dafür Getreide zu erhalten. Als der Händler das wenige Geld sah, lachte er laut auf.

„Der Preis für Weizen ist in diesem Jahr sehr hoch. Für diese kleine Menge an Gold kann ich dir nur drei, vier Säcke Getreide geben.“

Nikolaus schaute dem Kaufmann ins Gesicht. „Denk an die Kinder!“

Der Kaufmann aber brummte: „Und wer denkt an mich?“

Nach kurzem Schweigen machte er Nikolaus einen Vorschlag.

„Also gut. Ich nehme das bisschen Gold, das du mir anbietest. Dafür darfst du morgen den ganzen Tag über Getreide entladen. Siehst du die Luke hier? Wenn dein Boot unterhalb der Luke festgemacht wird, kannst du den Weizen aus der Luke heraus in das Boot schütten.“

Nikolaus atmete schon auf; der Kaufmann hatte allerdings noch nicht geendet.

„Doch nur unter einer Bedingung: Du musst mit leeren Händen in den Laderaum steigen – und dort unten gibt es kein Schöpfgefäß!“

Nikolaus verzog das Gesicht.

„Und womit soll ich das Getreide ins Boot schütten?“

„Du hast doch Hände – zum Beispiel.“ Der Kaufmann lächelte eisig. „Ich gebe dir einen ganzen Tag Zeit, vom Sonnenaufgang bis zum Untergang. Das ist mein letztes Angebot.“

Die Augen des Bischofs blitzten kurz auf. Dann fragte er mit ruhiger Stimme:

„Darf ich in meiner Amtskleidung als Bischof kommen?“

Der Kaufmann wandte sich an den Steuermann seines Schiffes und fragte im Flüsterton:

„Weißt du, wie ein Bischof gekleidet ist?“

Der Steuermann nickte. „Das weiße Gewand und der Stab, das ist alles.“

Der reiche Händler aus Konstantinopel wandte sich wieder an Bischof Nikolaus.

„Das Geschäft ist abgemacht. Ich behalte das Gold – und du kannst morgen von Sonnenaufgang an Getreide entladen.“

Als Nikolaus wieder an Land war, ging er als Erstes zum Schmied und schaute sich in dessen Werkstatt um. Er griff nach den Eimern, die aus dünnem Kupferblech gehämmert waren.

„Kannst du mir daraus eine Kopfbedeckung machen?“

Der Schmied starrte den Bischof ungläubig an.

„Ich brauche einen Hut! Bitte bearbeite den Eimer so, dass er mir nicht mehr über den Kopf rutschen kann.“

Mit ein paar gezielten Hammerschlägen hatte der Schmied für Nikolaus einen merkwürdigen Hut angefertigt, der ihm genau auf den Kopf passte und nach oben spitz zulief.

Nikolaus setzte den Hut auf und ließ sich von der Frau des Schmieds einen Bronzespiegel bringen. Als er sich mit dem sonderbaren Ungetüm auf dem Kopf erblickte, konnten er und auch der Schmied und seine Frau sich vor Lachen kaum halten.

„Was hast du vor, Nikolaus?“, wollte der Schmied wissen.

„Ich brauche eine neue Amtskleidung als Bischof. Bisher gibt es nur das weiße Gewand und den Hirtenstab. Aber es braucht doch auch eine besondere Kopfbedeckung!“

„Ich werde diesen ulkigen Hut mit feinem Stoff umhüllen“, schlug die Frau des Schmieds vor. „Dann siehst du darin vornehmer aus als mit einem Blecheimer auf dem Kopf.“

Wieder mussten die drei herzhaft lachen. Noch am gleichen Abend machte sich die Frau des Schmieds an die Arbeit.

Am nächsten Morgen zog Nikolaus kurz vor Sonnenaufgang in seiner neuen Amtskleidung durch die Straßen. Die Leute lachten über die merkwürdige Form des Hutes, der nun mit goldgelbem Seidenstoff bezogen war, auf dem ein rotes Kreuz leuchtete. Nikolaus musste zunächst auch grinsen, dann aber schärfte er den Bewohnern von Myra ein, dass sie ihn mit ernster Miene zum Schiff begleiten sollten.

Der Kaufmann staunte nicht schlecht, als Nikolaus mit Gewand, Stab und Hut sein Schiff betrat. Er warf dem Steuermann einen fragenden Blick zu, doch der zuckte nur mit den Schultern. Der reiche Getreidehändler schaute etwas argwöhnisch auf die eigentümliche Kopfbedeckung des Bischofs. Doch bald war er wieder beruhigt, denn ein Hut aus dünnem Seidenstoff konnte sicher nicht als Schöpfgefäß benutzt werden.

Nikolaus drückte dem Kaufmann seinen Stab in die Hand und sagte: „Wie vereinbart steige ich mit leeren Händen in den Laderaum hinab!“

Der Bischof verschwand unter Deck, die Luke wurde geöffnet und ein Boot mit einem großen Bottich fuhr direkt unter die Luke. In diesem Augenblick fielen die ersten Sonnenstrahlen auf das Schiff und die Leute am Ufer riefen laut: „Nikolaus! Nikolaus!“

Wenig später schon rieselte eine große Menge Getreide aus der Luke in den Bottich. Und wieder eine. Der Kaufmann erbleichte. Das war viel, viel mehr, als man mit beiden Händen schöpfen konnte. Wenige Minuten später war der Bottich gefüllt und das nächste Boot fuhr unter die Luke des Schiffes.

Hastig stieg der Kaufmann in den Laderaum hinunter. Nikolaus stand in der Nähe der Luke und schöpfte mit seinem Hut Getreide, dass es nur so staubte. Als er den Kaufmann erblickte, sagte er mit ruhiger Stimme: „Ich bin mit leeren Händen gekommen, wie vereinbart. Und du hattest mir zugestanden, dass ich meine Amtskleidung tragen darf.“

Dem konnte der Kaufmann nichts entgegensetzen. Er knirschte mit den Zähnen und ging wieder an Deck.

Boot um Boot wurde gefüllt und um die Mittagszeit standen schon viele gefüllte Getreidesäcke im Hafen von Myra. Doch Bischof Nikolaus schien nicht zu ermüden. Ohne Unterbrechung schöpfte er mit seinem Eimer-Hut Getreide und schüttete es in die Bottiche der Boote. Als die Sonne unterging, war so viel Getreide an Land gebracht worden, dass die Bevölkerung der kleinen Stadt für viele Wochen mit Brot versorgt werden konnte.

Nikolaus stieg an Deck und ging auf den Kaufmann zu. Mit dem Hut auf dem Kopf und dem Hirtenstab in seiner Rechten hatte er trotz seines staubigen Gewandes ein würdevolles Aussehen. Der Kaufmann machte ein grimmiges Gesicht.

„Ich habe ein schlechtes Geschäft gemacht! Du hingegen hast dir heute eine große Geldsumme verdient!“

Nikolaus schaute den Kaufmann verständnislos an. Dieser fuhr fort:

„Was lässt du dir denn für ein Pfund Getreide bezahlen?“

„Ich lasse mir gar nichts bezahlen! Ich bin der Bischof dieser Menschen. Wenn ich ihnen helfe, dann ist das für mich so etwas wie ein Gottesdienst.“

„Ein Gottesdienst? Was ist das für ein Gott, an den du glaubst?“

„Wir glauben an Jesus Christus. Er war ein Freund der Armen und der Sünder. Er hat den Hungernden zu essen gegeben, ohne dafür Geld zu nehmen. Er hat Menschen geheilt, ohne Bezahlung. Dadurch hat er uns gezeigt, dass Gott der Freund aller Menschen ist. Wir versuchen daher, uns als Freunde zu behandeln. Und von Freunden nimmt man doch kein Geld, wenn sie einem in der Not helfen.“

Bischof Nikolaus schaute dem Kaufmann tief in die Augen.

„Hast du Freunde?“

Der Händler senkte seinen Blick.

„Ich habe Gold, Schiffe und große Häuser. Aber ob ich Freunde habe …“

Nikolaus drückte dem Kaufmann zum Abschied lange die Hand.

„Wenn du wieder durch diese Gewässer segelst, besuche mich! Du bist mir willkommen – auch wenn du kein Getreide an Bord hast.“

Als das Schiff aufs offene Meer hinaussegelte, schaute Nikolaus ihm noch lange nach. Dann ging er zum Schmied, um sich für dessen Hilfe zu bedanken. In den Gassen der Stadt duftete es nach frischem Brot und aus den Häusern drangen fröhliche Kinderstimmen.

Nikolaus ließ sich vom Schmied gerne zum Essen einladen. Plötzlich waren vor der Haustür laute Rufe zu hören. Die Menschen von Myra hatten sich auf dem kleinen Platz draußen versammelt, um Nikolaus zu danken.

„Hoch lebe unser Bischof Nikolaus!“ „Dank dir, Nikolaus!“ „Du hilfst uns – mit Rat und Tat!“, so riefen die Stimmen durcheinander.

Nikolaus stand auf, nahm seinen Stab und wollte hinausgehen. Die Frau des Schmieds eilte ihm hinterher, mit dem Eimer-Hut in der Hand.

„Den musst du jetzt immer aufsetzen!“, betonte sie.

Nikolaus schüttelte den Kopf.

„Doch!“, sagte jetzt auch der Schmied. „Aber wir brauchen noch einen Namen für diesen lustigen Hut.“

Die Sprechchöre draußen wurden immer lauter.

„… mit Rat und Tat! Mit Rat und Tat! Mit Ra…“

„Das ist doch ein schöner Name“, rief Nikolaus augenzwinkernd: „Mit-ra!“, und trat lachend vor die Tür.

So hat also der gute Bischof Nikolaus von Myra vor vielen Jahrhunderten die Mitra erfunden. Und bis heute erinnern die hohen Hüte der Bischöfe daran, dass wahre Größe darin besteht, sich für das Leben der kleinen Leute einzusetzen und ihnen mit Rat und Tat zu helfen.

nikolaus

er hatte nie auf gold vertraut

machte vielmehr seinen besitz

flüssig zu anderen hin

aus leuchtenden kinderaugen

strahlt ihm ein heiligenschein

vaterfigur die das nichtfürchten lehrt

in seiner güte schmeckt man

die schokoladenseite des menschen

Wie ein Engel aussieht

Es war alles so schnell gegangen. Ganz überraschend jedoch war das Schreckliche nicht gekommen. Schon vor einigen Tagen kreisten Hubschrauber über dem abgelegenen Seitental des Großen Zab-Flusses. Die Kinder liefen auf die nahen Hügel, um die knatternden Monster zu sehen. Von dort oben konnte man bei klarem Himmel bis zum Cilo Dagi schauen, dem großen Berg, der schon jenseits der Grenze in der Türkei liegt. Nur von weitem, so erzählten die Kinder mit Begeisterung, hätten sie die donnernden Metallvögel gesehen. „Ob Engel so ähnlich aussehen?“, wollte ein Hirtenmädchen wissen. Doch die Erwachsenen schüttelten den Kopf. Die metallenen Ungeheuer waren für sie eher Teufel als Engel. Wie Engel aber aussehen, könnten sich die Menschen nicht vorstellen. Und Bilder von Engeln gebe es keine. Der Koran verbietet alle Bilder von Gott und seinen Engeln.

Ein paar Tage lang blieb es ruhig und alle hofften, dass die Unruhen ihr Dorf verschonen würden. Doch wenn das Ungetüm des Krieges einmal entfesselt ist, so kann es niemand mehr bändigen und es verschlingt alles. Mitten in der Nacht wurden sie aus dem Schlaf gerissen. Zuerst waren Schüsse zu hören. Dann Einschläge von Granaten. Einige Männer wussten sofort: „Panzer!“ Schon kurze Zeit später waren die rasselnden Geräusche der Ketten zu hören, die mit unheimlicher Geschwindigkeit talaufwärts näher kamen. Es gab kein elektrisches Licht in Kündö. Im Schein von Petroleumlampen packte man schnell das Kostbarste ein, um damit auf die umliegenden Hügel und von dort in die felsigen Bergtäler zu fliehen.

Naze war mit ihrem zweijährigen Mädchen auf den Armen losgelaufen, während ihr Mann Risgar noch ein paar Sachen zusammensuchte. Überall hörte man die Schreie der Dorfbewohner, die im Dunkeln wild durcheinanderliefen, um sich vor dem nahenden Unheil zu retten. „Naze!“, schrie Risgar, der aus der Hütte herausstolperte. „Hierher!“, hörte er die Stimme seiner Frau und lief auch schon los. Doch dann ein Blitz, ein lautes Krachen und die Druckwelle, die ihn zu Boden riss. Einen Augenblick lang lag Risgar wie tot. Sekunden später raffte er sich wieder auf und lief dorthin, wo Naze ihn gerufen hatte. Sie lag am Boden, die weinende Azade im Arm. Aber sie rührte sich nicht mehr. Als Risgar sie betastete, war ihr Kopf voller Blut. Sie war anscheinend von einem Granatsplitter getroffen worden. Risgar stand wie gelähmt vor Schmerz. Obwohl das Gedröhne der Panzer schon bedrohlich nahe gekommen war, rührte er sich nicht. Dann riss ihn das Schreien von Azade aus seiner Ohnmacht. Instinktiv griff er nach dem Kind, hob es auf die Schultern und lief in die Nacht hinaus. Er kannte die Hügel und die felsigen Täler auf der anderen Seite des Flusses. Er lief, ohne anzuhalten, weiter und weiter. Nach Stunden kam er an den Fuß eines Steilen Gebirges. Hier war er noch nie gewesen. Es dämmerte am Horizont, als er mit dem beschwerlichen Aufstieg begann.

Als Risgar in der darauffolgenden Nacht einen Bergkamm und damit die Grenze des Irak überschritten hatte, wanderte er noch lange, bis er endlich zu einem Dorf kam. Ängstlich schlich er sich näher, das erschöpfte Kind in seinen Armen. Als er die Leute in kurdischer Sprache reden hörte, weinte er vor Freude und Erschöpfung. Man nahm ihn auf und kümmerte sich um Azade. Hier war man an Flüchtlinge gewöhnt. Die wenigen Habseligkeiten, die Risgar gerettet hatte, musste er als Preis für die weitere Fahrt abgeben. Er wusste nicht, wohin es gehen sollte. Doch man hatte ihm gesagt, es sei ein Land, wo er in Sicherheit wäre.

Das Asylbewerberheim liegt im Leipziger Westen, an der Ratzelstraße. Mit Hilfe eines Dolmetschers wurde Risgar über seine Rechte und Pflichten als Asylbewerber aufgeklärt und dass er die Stadt Leipzig nicht verlassen dürfe, bis sein Asylantrag angenommen sei. Sein Fall würde jetzt von den deutschen Behörden bearbeitet. Nach allem, was er erzählt habe, stünden seine Chancen nicht schlecht. Allerdings müssten seine Aussagen jetzt erst einmal auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Und das könne dauern.

Risgar erlebte die Einquartierung und die zahlreichen Vernehmungen mit all den Papieren, die auszufüllen waren, wie einen bösen Traum. Er war innerlich noch gar nicht in seinem Gastland angekommen. Der schreckliche Überfall auf sein Dorf, der entsetzliche Tod seiner Frau, die abenteuerliche Flucht, die beständige Sorge um die kleine Azade, die oft weinte und nach ihrer Mutter rief, all das wühlte ihn so auf, dass das Neue noch gar keinen Raum fand. Doch er musste sich nun zwingen, das Vergangene loszulassen. Denn ihm ganz allein war jetzt das Leben von Azade anvertraut. Er spielte mit seinem Töchterchen, ging mit ihr spazieren und erzählte Geschichten aus Kündö und den Tälern des Großen Zab. Vielleicht redete er dabei auch viel mit sich selbst, vor allem, wenn er von Naze sprach. Er hatte seine Frau sehr geliebt. Und wenn er seine Tochter ins Bett legte, saß er oft noch lange neben dem Kind und schaute das unschuldige Gesicht an. Es war das Gesicht von Naze. Erinnerungen wurden wach und seine Augen feucht.

So vieles war ungewohnt an seiner neuen Umgebung. Als Erstes fiel Risgar auf, dass es hier schon früh dunkel wurde. So kurze Tage hatte er noch nie erlebt und er fürchtete sich vor der langen Dunkelheit. Dann bemerkte er, dass es in Deutschland fast keine Kinder gab. Bei ihm zuhause waren die Straßen immer voller Kinder. Aber hier sah man nur alte Leute. Eine Ausnahme gab es: die Familien im Asylbewerberheim. Sie kamen aus den verschiedensten Ländern und hatten Schweres erlebt. Doch alle hatten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und daher wohl auch Kinder.

Beim Einkaufen nahm Risgar immer seine Tochter Azade mit. Er hätte sie auch bei einer Nachbarin aus dem Sudan lassen können, die hilfsbereit und freundlich war und selbst drei kleine Kinder hatte. Aber Azade hing sehr an ihrem Vater und klammerte sich ständig an ihn. So gingen die beiden bis zu einem großen Gebäude in der Stuttgarter Allee, das mit seiner Kuppel an eine Moschee erinnerte. Aber es war keine Moschee. Es war ein Tempel zum Einkaufen, ein riesiger Basar. Als Risgar das Einkauf-Center zum ersten Mal betrat, stand er wie betäubt in der großen Halle und starrte auf all die verschiedenen Geschäfte und Läden. Er hatte einmal den Basar von Mosul besucht. Doch was er hier sah, übertraf alle seine Träume. So viele Kleider, Schuhe, Bücher und Geräte, von denen er noch gar nicht wusste, wozu sie dienten.

Er ging nach links und rechts und zeigte Azade all die bunten Sachen, die hier ausgestellt waren. Dann entdeckten die beiden einen ganz besonderen Laden. Schon im Schaufenster leuchteten und glitzerten viele Dinge. Azade strahlte über das ganze Gesicht, als ihr Vater mit ihr zusammen das Geschäft betrat. Da gab es grüne Nadelbäume aus Plastik, über und über behängt mit schillernden Kugeln und glitzernden Fäden. Auf einem niedrigen Tisch standen bunte Kerzen und große Stofftiere, die wie Hirsche aussahen. Plötzlich riss sich Azade von ihrem Vater los und lief auf ein Regal zu, in dem bunt angemalte Holzfiguren standen. Azade griff nach einer kleinen hölzernen Frauenfigur, die Flügel hatte und in ihren Händen eine dünne rote Kerze trug, und drückte sie fest an sich. Risgar wollte seiner Tochter das Spielzeug schon wieder wegnehmen. Doch als er die leuchtenden Augen von Azade sah, brachte er es nicht übers Herz. Risgar freute sich an der Freude seiner Tochter, die in den letzten Wochen viel geweint hatte, und so bezahlte er die hölzerne Figur mit der dünnen Kerze.

Am anderen Tag kam die Sozialarbeiterin, Frau Krusche, zu Besuch. Als sie die kleine Holzfigur sah, lächelte sie und erklärte Risgar in gebrochenem Kurdisch: „Das ist ein Feriste, ein Engel.“ – „Ein Engel?“, staunte Risgar ungläubig. Noch nie hatte er einen Engel gesehen. Und er dachte: Wenn Engel so aussehen, dann war auch Naze ein Engel gewesen. Sie hatte zwar keine Flügel. Aber oft hatte sie in der dunklen Hütte die Petroleumlampe angezündet und dann hatte ihr Gesicht immer so warm und hell geleuchtet. Bei diesen Gedanken musste Risgar weinen und Frau Krusche wurde für einen Augenblick unsicher, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Doch Risgar weinte und lächelte zugleich. Da ahnte sie, dass er sich an jemanden erinnerte und dass noch ein großer Schmerz über das Verlorene in ihm wohnte. Frau Krusche blieb noch eine Weile schweigend sitzen und Risgar war ihr dafür dankbar.

Am nächsten Tag hatte Risgar seine Tochter nun doch bei der Nachbarin gelassen, um ins Stadtzentrum zu fahren. Am Hauptbahnhof stand er an einer Ampel und wusste zum Glück schon, wie eine solche funktioniert. Auf einmal trat eine rote Gestalt neben ihn, ein alter gebückter Mann mit einem riesigen weißen Bart und einer Mütze, unter der das ebenfalls schon silbergraue Haar in langen Locken hervorquoll. Auf dem gebeugten Rücken trug diese Gestalt einen großen Sack. Risgar war einen Augenblick lang verwirrt und unsicher. Dann wollte er ganz spontan dem Alten dabei helfen, den schweren Sack über die Straße zu tragen. Doch der Alte zog den Bart etwas beiseite und ein junges, lachendes Gesicht kam zum Vorschein. Jetzt war Risgar völlig durcheinander. „Ein Betrüger, der sich als alter Mann verkleidet!“, fuhr es ihm durch den Kopf. Er folgte der roten Gestalt in sicherer Entfernung, um zu beobachten, was dieser Mann wohl im Schilde führte. Als der Alte schließlich in ein Kaufhaus trat, eilte Risgar hinterher. Er sah, wie der rote Mann auf einer fahrenden Treppe nach oben entschwand. Flugs war auch Risgar auf dieser ungewohnten Treppe, doch da sah er mit Entsetzen, dass der Alte auf der anderen Seite schon wieder herunterkam. Jetzt verstand Risgar die Welt nicht mehr. Eben erst war der rote Mann dort oben um die Ecke herum verschwunden, und jetzt war er schon wieder nach unten gefahren. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen! Als Risgar oben ankam, sah er den Alten dort oben stehen. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das waren zwei rote Männer gewesen! Es handelt sich also um eine Bande. Aber was führen diese Betrüger im Schilde? Risgar konnte sich keinen Reim darauf machen. Da sich die roten Männer jedoch im Kaufhaus so ungeniert bewegten, war ihm klar, dass sie mit dem Chef des Einkauf-Centers unter einer Decke stecken mussten. Vielleicht handelte es sich um eine Art von Wächtern oder die roten Männer sollten einfach nur die Leute ins Kaufhaus locken. Das gelang ihnen anscheinend ziemlich gut, denn die Kaufhalle war brechend voll und alle Leute hasteten mit schweren Taschen beladen hin und her.

Als Risgar am Nachmittag ins Asylbewerberheim zurückkam, empfing ihn seine Nachbarin schon an der Haustür. Die beiden konnten sich zwar sprachlich kaum verständigen, aber Risgar sah am Gesicht der Sudanesin, dass etwas vorgefallen war. Schnell eilte er mit ihr zu Azade, die mit hochrotem Kopf in ihrem Bettchen lag. Risgar tastete nach der Stirn seiner Tochter und stellte fest, dass das Kind hohes Fieber hatte. Er rief sofort Frau Krusche an und die Nachbarin, die schon sehr gut deutsch konnte, erklärte der Sozialarbeiterin am Telefon, was vorgefallen war. Bald kam ein Kinderarzt und stellte fest, dass Azade wohl eine Grippe hatte, zum Glück jedoch nichts Gefährliches. Das Kind müsse jetzt im Bett bleiben, viel trinken und vor allem ein bestimmtes Medikament bekommen. Er schrieb den Namen der Arznei auf einen Zettel und war schon wieder verschwunden.

Risgar war ganz in Sorge. Die Nachbarin erklärte ihm, er müsse jetzt mit dem Zettel in eine Apotheke gehen, um das Medikament zu holen. Sie würde in der Zwischenzeit gerne auf Azade aufpassen. Schnell machte sich Risgar auf den Weg zur Apotheke in der Ratzelstraße. Doch diese war bereits geschlossen. Überhaupt fiel ihm jetzt auf, dass alle Geschäfte schon geschlossen waren. Dabei war gar kein Wochenende. Risgar fühlte sich auf einmal so schrecklich fremd in diesem Land, dessen Bräuche er nicht kannte und wo alles neu und ungewohnt war. Er kam sich ganz hilflos vor in dieser Nacht, in der zwar überall bunte Lichterketten leuchteten, die zugleich aber so kalt und unfreundlich war. Er brauchte jetzt das Medikament für seine Tochter und wusste nicht, wo er es finden sollte.

Da fiel ihm auf, dass irgendwo doch noch Licht brannte. Es war kein Geschäft, sondern ein merkwürdiger Laden, in dem die Männer immer an hohen, runden Tischen Bier tranken. Das Gebot Allahs verbot den Alkohol und daher hatte Risgar diesen Laden noch nie betreten. Jetzt aber öffnete er zaghaft die Tür und trat ein. Die wenigen Männer, die an einem der Tische standen, drehten sich um. „Ein Kümmeltürke!“, rief einer verächtlich. Risgar verstand den Ausdruck nicht, doch der Tonfall sagte ihm, dass er hier nicht willkommen war. Er wollte sich schon wieder umdrehen, als ein anderer Mann ihn ansprach: „Willst du ein Bier mit uns trinken?“ Risgar schüttelte den Kopf und streckte dem Fremden den Zettel hin. Dieser überflog das Rezept. „Die Apotheke hat schon geschlossen.“ Dann wandte er sich an die Bedienung: „Gib mir mal die Zeitung! Wegen der Bereitschaftsdienste.“

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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