Am Ende des Schattens

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Monate später, in einer schwülen Julinacht des Jahres 1931, raffte Dolphin sich dazu auf, nach Wilmersdorf zu fahren. Schon als er aus der Haustür trat, klebten die Kleider an seinem Körper. In einer fahrigen Parallelaktion öffnete er das Verdeck seines Cabriolets, während er, viel weiter als angemessen, das Hemd aufknöpfte und sich nach der Kühle des Fahrtwinds sehnte. Er bereute es bereits, Fürstenaus Einladung angenommen zu haben.

Die kurze Strecke brachte nur wenig Erleichterung, und nachdem er den Wagen geparkt hatte, näherte er sich widerwillig der Babuschka Bar.

Das Lokal platzte aus allen Nähten. Gelächter vermischte sich mit Balalaikaklängen, dazu der Gesang eines übersteuerten Heldentenors; und immer wieder Getrampel, als fegte eine Kavallerie über die Tanzfläche.

Er ließ sich in einem Séparée im Datscha-Stil nieder, das überraschend kühl war. Verstohlen wischte er sich mit dem Taschentuch über die Stirn, knöpfte das verschwitzte Hemd bis auf den obersten Knopf zu und versuchte, sich in Form zu bringen.

Zu seinem Erstaunen entdeckte er Louis Brody an einem Tischchen in der Nähe des Tanzparketts. Dieses Mal war er nicht von Bewunderinnen umringt, sondern sein Kollege Willy Fritsch saß neben ihm und prostete mit seinem kussmundhaften Filmschauspielerlächeln in die Runde. Dolphin konnte auch William Thomson erkennen, einen massigen Boxer, der es als schwarzer Champion aus Dänisch-Westindien zu einiger Bekanntheit gebracht hatte und sich von Zeit zu Zeit im Romanischen Café sehen ließ.

Nun erhob Brody das Wodkaglas. In perfekter Synchronisation legten die Tischgenossen die Köpfe in den Nacken und richteten sich nach einer Kippbewegung wieder auf. Ihre Sommeranzüge, die Bühnenscheinwerfer in Rosa tauchten, harmonierten ebenfalls, und es schien, als seien sie sich selbst genug, sodass Dolphin nicht einmal den Versuch unternahm, hinüberzuwinken.

Er wartete auf seinen Kollegen André Fürstenau von der Vossischen Zeitung, der ihn zum Essen eingeladen hatte. Das sah ihm ähnlich. Es ging ihm nie um das Essen selbst. Er war ein Mann mit einer Mission.

Dolphin saß in seiner Nische und beobachtete das Trio, wie es scherzte, trank, Blinis und Kaviar vertilgte.

Fürstenau hatte wenig Sinn für die Welt des Films, ganz zu schweigen von der des Sports. Für ihn waren das im Grunde läppische Freizeitvergnügungen. Stattdessen hatte er sich wieder, wie er mit einem mokanten Lächeln zu sagen pflegte, in die Rittmeistersache verbissen.

Im Mittelpunkt seiner Recherchen, die sich, ausgehend von den altbekannten Fakten, ins Reich verschiedenster Hypothesen hinaufschraubten, befand sich Rittmeister Curt von Westphal, der einstmals zu den auffälligsten Figuren im Parlament gezählt hatte. Sein Ruf verdankte sich einer eigentümlichen Mischung aus Realpolitik und Spleen: einerseits machtbewusster Reichstagsabgeordneter mit exzellenten Verbindungen zum Reichskunstwart bis hin zum Innenminister, zum anderen promovierter Musikwissenschaftler mit einem abseitig anmutenden Faible für den Jazz. Laut amtlicher Diagnose hatte er vor zwei Jahren, aus Gründen, die sich nie zufriedenstellend klären ließen, Hand an sich gelegt. Sein Leichnam, vergiftet von einem Cocktail aus Barbitursäure und Alkohol, war in einem Stundenhotel in Spandau aufgefunden worden. Trotz allerlei Merkwürdigkeiten wurde der Fall rasch zu den Akten gelegt, einzig Fürstenau hegte Zweifel an der Selbstmordthese, was sich für Dolphins Begriffe so langsam zu einem Tick steigerte.

Wo andere ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier sahen, bemerkte Fürstenau mikroskopische Flecken, seien es Spuren von Radiergummi oder einer Rasierklinge, mit der womöglich ein getuschtes Geheimzeichen entfernt worden war, und es sah aus, als verliere er sich immer mehr in diesen Kalligrafien des Verschwindens.

Rund herum im Lokal zweifelte niemand. Alles war, was es schien. Und das Einzige, was hier verschwand, war der Wodka in den Kehlen. Doch wo zum Teufel steckte Fürstenau?

Nach einer Weile erschien Natascha Sirina, die Patronin der Babuschka Bar, und servierte Wodka nebst Brot und einem Schälchen Kaviar. Sie lächelte ihn an und fragte: »Noch immer nicht da?«

Er schüttelte den Kopf. Trotz der Hitze hatte sie sich wie gewöhnlich als russisches Großmütterchen mit Kopftuch und Schürze ausstaffiert, und diese Berufsuniform schuf einen reizenden Kontrast zu ihren Apfelbäckchen und der straffen Figur, die sich unter den Stoffschichten abzeichnete.

Etwas abseits von Brodys Tisch kam plötzlich ein Mann ins Bild. Als er von einem Scheinwerfer aus dem Halbdunkel ausgeschnitten wurde, zuckte er kurz zusammen, hob reflexhaft die Hand vors Gesicht, ließ sie sinken, als habe er sich dadurch eine Blöße gegeben, schaute sich um und verfolgte dann missmutig den Lichtkegel beim Weiterwandern.

Dolphin blickte auf die Uhr. Das akademische Viertel war längst vorbei.

Von einem »langsamen Hinübergleiten in den Tod, infolge einer Überdosis eines früher weitverbreiteten Schlafmittels«, hatte der Gerichtsmediziner gesprochen, bei jener eilig einberufenen Pressekonferenz nach dem Ableben des Rittmeisters. Sie nahm Züge einer Haupt- und Staatsaktion an, und Journalisten von überall her drängelten sich neben Dolphin in einem Kellerraum des Reichstags.

Die Todesursache war zweifelsfrei geklärt, nicht so das Motiv. Vor allem der Zeitpunkt warf Fragen auf, fiel doch der Selbstmord in eine Phase erbittertster Auseinandersetzungen zwischen der Republik und den immer stärker werdenden Nationalsozialisten. Und ausgerechnet eine Woche, bevor in Frankfurt am Main der weltweit erste Studiengang für Jazz unter Leitung eines ungarischen Juden die Arbeit aufnahm, war er aus dem Leben geschieden. Die völkische Presse triumphierte. Für sie war Curt von Westphal der Inbegriff all dessen, was hassenswert war an dem verjudeten System. Vor allem aber galt er ihr als Wegbereiter der entarteten Kunst. Ehrabschneiderische Kampagnen waren Teil eines Kulturkampfs, der schon lange tobte und Monate vor Einrichtung der Jazz-Klasse zu einem Schlagabtausch im Preußischen Landtag führte. Damals stellte ein Abgeordneter der Deutschvölkischen Freiheitspartei die Frage, ob die Regierung bereit sei, »die Verniggerung deutscher Musik durch dieses Konservatorium zu verhindern, und wie sie gedenkt, die Schülerschaft vor den Erziehungskünsten des triebhaft undeutschen Lehrers zu schützen«.

Der Rittmeister hatte maßgeblich dazu beigetragen, die Akademisierung der angefeindeten Negermusik durchzusetzen, am traditionsreichen Hochschen Konservatorium, das einst Clara Schumann und Engelbert Humperdinck zu seinen Lehrern zählte, doch am Ende konnte er die feierliche Eröffnung nicht mehr erleben.

Auf der Pressekonferenz hatte das nur am Rande eine Rolle gespielt. Bald ging es nur noch um von Westphals Aktenkoffer, über dessen Verbleib der leitende Kommissar aus ermittlungstaktischen Gründen keine Angaben machen wollte. Und dann war alles im Sande verlaufen. Nur Fürstenau hörte noch immer die Sandflöhe husten, doch der ließ ihn warten.

Wieder streifte ein Scheinwerfer das Gesicht des Mannes. Er hatte helles Haar, das in dünnen Strähnen nach hinten gekämmt war, und ebenso helle, wimpernlose Augen. Widerwillig ließ er das Lichtspiel über sich ergehen, als müsse er die Berührungen einer Fliege ertragen. Die abrupte Art, wie er schließlich emporschnellte, um das Jackett abzulegen, hatte etwas Sprungfederartiges, das Dolphin irgendwoher bekannt vorkam. Jetzt stand er aufrecht und schien mit einem Mal bedeutend kleiner als im Sitzen. In weißem Hemd und Hosenträgern, die seinen sehnigen Oberkörper betonten, stand er da und schaute verstohlen hinüber zum Nebentisch, bevor er sich auf den Stuhl fallen ließ.

Als Natascha noch ein Schälchen Kaviar brachte, erhob sich schräg gegenüber Louis Brody und brachte, offenbar sehr zur Erheiterung von Willy Fritsch, einen Toast aus, dessen Pointe schließlich auch den Schwergewichtler erreichte und seinen Brustkorb stoßweise vibrieren ließ.

Dolphin musste an Ella denken. Was würde sie dafür geben, hier zu sein. Mit ihr hatte er Die Boxerbraut im UFA-Theater gesehen. Brody spielte, umschwärmt von Frauen, die Rolle des berühmten schwarzen Boxers Fighting Bob. Den Kontrapart gab Willy Fritsch als verträumter Fabrikantensohn Fritz Spitz, dessen Verlobte Helen ihm jedoch auf den Kopf zusagt, sie werde nur einen Boxchampion heiraten, worauf es Fritz mit einem Schwindel versucht und sich ihr gegenüber als Fighting Bob ausgibt.

Wie hatte Ella sich über das pechschwarz angemalte Gesicht von Willy Fritsch amüsiert, die schwarzlockige Perücke und die muskulöse Gestalt, nachdem er sich einen aufblasbaren Bizeps umgeschnallt hatte. Und sie hatte sich zu Dolphin herübergebeugt und ihn geküsst, als am Ende der Schwindel aufflog und Helen plötzlich von ihrer Boxleidenschaft wie von jener für schwarze Männer geheilt war und mit ihrem Verlobten im Schlafzimmer verschwand.

Dolphin überlegte, ob er Ella anrufen sollte. Dann verwarf er es. Es würde sie zu sehr verletzen. Er strich mit dem Zeigefinger über den Rand des Wodkaglases und steckte ihn, als wolle er den Geschmack prüfen, in den Mund.

Aus dem Gewühl tauchte Natascha auf und steuerte den Tisch des Trios an. Unter großem Gebalze bezahlte Fritsch die Rechnung und verschwand mit seinen Zechkumpanen.

Natascha schaute ihnen nach, drehte sich plötzlich um und nickte Dolphin kurz zu. Er hob das Glas und zwang sich dann, den Blick abzuwenden. Fürstenau schien in einer unklaren Beziehung zu ihr zu stehen, die immer unklarer wurde, je öfter er die russische Exilantin in ihrem Nachtlokal aufsuchte. Dolphin war sich nicht sicher, was Fürstenau für sie empfand. Ob er überhaupt wahrnahm, wie reizend sie aussah, wenn aus ihrem Mund slawische Vokale und Kaskaden von gerollten Rs strömten. Doch Fürstenau und die Frauen, das war ein eigenes Kapitel. Dolphin musste lächeln. Einmal hatte er Fürstenau bei einem Bekannten unterbringen müssen, als der von seiner eifersüchtigen Ex-Frau verfolgt wurde. Sie konnte ihm nicht glauben, dass seine einzige Leidenschaft die Arbeit war. So war sie auch nicht von dem Verdacht abzubringen, dass er viele Liebhaberinnen hatte, und diese Besessenheit führte letztlich zu seiner Flucht.

 

Diese Episode hatte beide Reporter, trotz aller Peinlichkeit, miteinander verbunden. Das Seifenopernhafte konnte indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fürstenau ein hartnäckiger Rechercheur war, der mitunter beträchtliche Risiken auf sich nahm, um tatsächliche Skandale aufzudecken, oder Vorgänge, die er für solche hielt. Mit konventionelleren Tugenden wie Rücksichtnahme oder Pünktlichkeit dagegen konnte er wenig anfangen.

Es war seltsam, plötzlich den Gegenstand seiner Gedanken vor sich zu sehen. Wie üblich klopfte er ihm zur Begrüßung viel zu stark auf die Schulter, in jenem linkischen Überschwang, der, ohne es zu wollen, gleichsam Distanz schuf, rutschte auf die Holzbank gegenüber und erzählte von seinem Besuch bei Bettine von Westphal.

»Warum die Witwe?«, fragte Dolphin.

»Wer, wenn nicht sie«, entgegnete Fürstenau und winkte eine Kellnerin heran, um eine Flasche Mineralwasser zu bestellen. Ohne sie ein einziges Mal anzuschauen, machte er ihr im gleichen Atemzug klar, dass er keinesfalls Wodka wünsche, weder als Aufmerksamkeit des Hauses noch seitens alkoholisierter Damen an etwaigen Nebentischen. Er habe zu arbeiten, und fürs Erste genüge ihm Wasser und ein Teller Borschtsch. Als er seinen Kollegen fragend anschaute, bestellte Dolphin sich Blinis.

Nachdem sie alles notiert hatte, drehte sie sich auf dem Absatz um und kreuzte für einen Moment den Weg des Mannes. Er hatte eine junge blonde Frau im Schlepptau und strebte der Tanzfläche zu. Er war nur wenig größer als sie. Doch in der Art, wie er sie um die schmale Taille fasste, sie an sich presste und die Arme um sie schlang, lag eine mühsam kaschierte Aggression, die Dolphin gleichermaßen abstieß und erregte. Die Blonde war nicht willfährig, im Gegenteil. Ihre Widerspenstigkeit schien Teil des Spiels zu sein. Sie löste ihre Arme aus der Umklammerung und schob ihn weg. Nur kurz duldete er den Befreiungsversuch, und wieder hielt er sie umklammert, bis sie sich wie ein störrisches Kind beruhigte.

Ohne den Borschtsch und das Wasser auch nur anzurühren, erzählte Fürstenau, wie aufgeräumt und zugleich kämpferisch Bettine von Westphal gewirkt habe. Sie wollte endlich jenen Falschmeldungen und Verleumdungen entgegentreten, die nach dem Tod ihres Gatten zunächst in den völkischen, dann aber auch den liberalen Blättern verbreitet worden waren. Sie habe Fürstenau in ihrer Wannseevilla, übrigens nur einen Steinwurf weit entfernt vom liebermannschen Anwesen, mit selbst gebackenem Apfelkuchen und ihrer Tochter Clara auf dem Schoß empfangen, fest entschlossen, ihr Schweigen zu brechen und für die Rehabilitierung ihres Gatten zu kämpfen.

Fürstenau trank einen Schluck Wasser und wirkte erschöpft. Die Blonde drehte sich in den Armen des Mannes. Es sah aus, als wolle er sie in einem diffizilen Ritual unter Kontrolle bringen, wenn er sie mit schleichenden Bewegungen einlullte, um sie dann mit einem Hüftschwenk zu überrumpeln und zum Rande des Parketts zu führen, wo er geschmeidig, als absolviere er einen Slalom, um die Sektkühlerständer herumtanzte. Und bei all diesen Manövern hatte er seine Lippen an ihrem Ohr und redete die ganze Zeit auf sie ein.

»Das Problem ist nur«, sagte Fürstenau und seufzte, »dass die Witwe erst jetzt an die Öffentlichkeit gehen will.« Unmittelbar nach Westphals Tod sei sie wie gelähmt gewesen, außerstande, die Fragen des Kriminalkommissars zu beantworten, geschweige denn der Presse gegenüber jene Gerüchte zu widerlegen, nach denen ihre Ehe zerrüttet gewesen sei. Nach Fürstenaus Schilderungen war sie mit der gerade geborenen Clara und ausdrücklicher Unterstützung ihres Gatten in ihr Elternhaus gezogen, um sich dort von den Strapazen der Geburt zu erholen. Und der besuchte sie, sooft es seine Pflichten zuließen, glücklich wie selten zuvor, als zugegebenermaßen später, aber desto zärtlicherer Vater, schloss Fürstenau und schickte, wie das Zitat eines Zitats, ein zerstreutes Lächeln hinterher.

Der Tänzer flüsterte noch immer in das Ohr seiner Partnerin. Andere Paare waren auf das Parkett geströmt und verdeckten sie für einen Moment. Es mussten aufregende Dinge sein, welche die junge Frau zu hören bekam. Dinge, die Dolphins Fantasie entzündeten. Das Funkeln in ihren Augen. Reflexe einer unbestimmten Lust, gipfelnd in einem Aufschrei, worauf er mit dem Daumen über ihre Unterlippe strich, was unglaublich obszön aussah. Sie ließ es über sich ergehen, den Mund geöffnet, und Dolphin sah eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die ihn seltsam berührte.

Fürstenau redete und redete. Der Haken an der ganzen Geschichte sei, und jetzt hob er die Stimme, dass die Westphals eine, sagen wir mal, sehr moderne Auffassung des Ehelebens vertraten. Bettine habe ihm seine Freiheiten gelassen, von Anfang an, wie sie freimütig erklärte. Er war ein richtiger Mann und mochte junge Dinger, er holte sich dort den Appetit, aber immer wieder sei er zurückgekommen. Doch ein schlagendes Argument, murmelte Fürstenau, habe die Witwe vorgebracht. Wenn er sich schon umbringen wollte, dann sicher nicht in einem Stundenhotel, das hätte er weder seiner Familie noch sich selbst zugemutet. Wenn, dann wäre der Abgang mit Würde erfolgt, mindestens im Adlon.

Sie waren untergetaucht in einem Gewirbel aus Köpfen, Rücken, Armen. Jetzt sah er den Mann, wie er ihren Nacken knetete. Sie krümmte sich, starr wie eine Katze.

»Was willst du tun?«, fragte Dolphin, um etwas zu sagen, und schaffte es doch nicht, sie aus den Augen zu lassen. Fürstenau schwieg, was erstaunlich war. So müde hatte er ihn noch nie erlebt.

Sie duckte sich weg, als ein kostümierter Kosak auf die Tanzfläche stürmte und mit zackigen Kommandos eine Polonaise anführte. Irgendwie rutschte dabei ihr blonder Haarschopf nach vorne, bis auf die Nase, während der Mann feixte und lachte, bis sie ihn wütend von sich stieß und die Frisur geraderückte. Als er ihr gleich darauf mit spöttischer Miene durch das Haar fuhr, sah es einen Augenblick lang aus, als wolle sie ihm ins Gesicht schlagen. Doch dann rauschte die Polonaise durch das Bild und sie gingen im Getümmel unter.

»Hörst du mir zu«, knurrte Fürstenau, »hier bin ich«, sagte er und wedelte mit den Händen, »hier, Herr Dolphin.«

Er nickte und zwang sich, Fürstenau anzuschauen.

»Ich werde«, sagte er nun grimmig entschlossen, »nicht lockerlassen, bis der Fall neu aufgerollt wird.« Westphals Ehe sei eigenartig, aber nicht zerrüttet gewesen. Und der Rittmeister war keinesfalls der Typ, der vor den Nazis in die Knie gegangen wäre, mochten noch so viele Morddrohungen in seinem Briefkasten gelegen haben. Jemand musste das sehr geschickt inszeniert haben, das sage ihm sein Instinkt. Und wenn es kein Suizid war, dann wanke die Republik.

Eher pflichtschuldig und ohne rechte Energie wollte Dolphin widersprechen, doch die Kellnerin erlöste ihn und schenkte Wodka nach, während Fürstenau demonstrativ die eine Hand über das Glas hielt. Mit der anderen schaufelte er einen letzten Löffel Borschtsch in sich hinein, schob den Teller weg und bezahlte. Dann drängte er zum Aufbruch und wollte wissen, ob er ihn mitnehmen solle. Dolphin schüttelte den Kopf. Er deutete auf sein Wodkaglas. »Bleib sauber«, murmelte Fürstenau und verschwand.

Auf dem Weg zur Toilette kam Dolphin an einer Vitrine vorbei. Sie schwankte ganz leicht. Umrahmt von gläsernen Regalböden multiplizierten sich zahllose Matroschkas in den Spiegeln. Natascha bot die Puppen zum Verkauf an. Sie kamen noch immer aus Russland, das ihrer Familie so übel mitgespielt hatte. Die Farben, das Birkenholz, die Erinnerung an den Geruch des Frühlings, das alles speicherte die Heimat wie in einer Kapsel. Und wenn auch die äußere Hülle zerstört wurde, gab es eine weitere, die die nächste beschützte, und so gab es die Hoffnung, dass wenigstens der innerste Kern, der nichts mehr enthielt, unzerstört bleiben würde.

Das Heimweh war ihre Ressource. Er mochte den Gedanken. Es glich der Unendlichkeit in der Vitrine. Sein Heimweh, wenn man es überhaupt so nennen konnte, war komplizierter. Er lebte dort, wo er geboren und aufgewachsen war. Er sprach wie alle anderen, doch die Erinnerung an etwas, was er nie richtig kennengelernt hatte, schob sich dazwischen. Seinem Britischsein haftete etwas Theoretisches, Angelerntes an, und deswegen hatte er das Bedürfnis, es stärker zur Geltung zu bringen, während er sich zugleich der Lächerlichkeit bewusst war, nicht einmal als expatriate durchzugehen.

Er hing dem Gedanken nach. Er kam ihm notierenswert vor. Wenn er getrunken hatte, spürte er eine Weite, die er, so er es denn endlich in Angriff nähme, für sein Berlin-Buch brauchen würde. Es war jenes Stadium zwischen Nüchternheit und Betrunkensein, in dem er sich von den täglich wechselnden Neuigkeiten und dem Kampf um die nächste Story löste. Man musste sich auf das Wesentliche konzentrieren, doch was das Wesentliche war, das vergaß er unter dem zunehmenden Druck seiner Blase.

Dolphin stand vor der Rinne, aus der stechende Dämpfe aufstiegen, und konzentrierte sich darauf, einen bestimmten Punkt über dem Abfluss anzuvisieren. Das Geräusch klang wie Regen auf einem Blechdach.

Wie gewöhnlich hatte er sich in die hinterste Ecke der Herrentoilette verzogen, obwohl niemand sonst da war. Vom Saal wehten Wortfetzen und Gesang herein, untermalt vom Klang einer Balalaika.

Weiter vorne öffnete sich leise eine Klotür. Zu seiner Überraschung kam der Tänzer heraus. Nach ein paar Schritten stand er vor dem Waschbecken. Er schien Dolphin nicht zu bemerken und schaute lange in den Spiegel. Sein Blick war eigenartig leer, als wäre er zugleich wach und schliefe. Die gleiche Art von Ausdruckslosigkeit lag darin, wie vorhin, als er die Tanzfläche verlassen hatte. Als versuche er, sich auszulöschen, um keine fremden Blicke auf sich zu ziehen.

Er stand da in seinem makellosen weißen Hemd, fast unnatürlich aufrecht, die Daumen unter die Hosenträger geschoben. Er betrachtete sich, offenbar nicht unzufrieden mit dem Ergebnis, und reckte das Kinn in die Höhe. Dann ließ er, als sei es das Normalste auf der Welt, mit einem lauten Knall die Gummibänder schnalzen. Das Geräusch befremdete Dolphin. Es brachte eine Saite in ihm zum Klingen, hart und wollüstig, wie sein Verursacher.

Und dann war er weg.

Er war nicht sicher, ob der Mann ihn gesehen hatte. Er stand am Waschbecken, spürte das Schwanken und vermied es, in den Spiegel zu schauen. Langsam seifte er die Hände ein, rieb sie lange aneinander, als sei Gründlichkeit mit einem Mal wichtig.

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