Buch lesen: «Ende einer Reise»
2. Auflage 2012
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Alle Rechte vorbehalten.
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Umschlagfoto: Photocase.com – kallejipp
ISBN 9783954620784
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Widmung
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
Für C. P.
Jemand mußte Josef K. verleumdet haben,
denn ohne daß er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet.
Franz Kafka, »Der Prozeß«
I
Vitte, Hiddensee. Endstation. Aus dem Dampfer, der von Stralsund aus die Insel anlief, quoll ein bunter Menschenbrei an Land. Eine leichte Brise, erfüllt vom Rauschen der Brandung, trug das Stimmengewirr heller und tiefer Töne, ein lautes Staunen, aufgeregte Rufe und Kinderlachen auf die Insel, wo es nicht lange blieb, denn der Wind drehte sich und nahm alle Laute und Töne wieder mit hinaus aufs offene Meer.
Die Möwen blieben und kreisten im Tiefflug über uns gut drei Dutzend Neuankömmlinge aller Altersgruppen, die mit Koffern, Taschen und Kisten bepackt in den Ort strömten. Hier und dort flogen Brotstücke in den hellblauen Himmel, die, geschickt gefangen, in den Schnäbeln der Tiere verschwanden.
Die Sonne stand goldgelb zwischen weißen Schleierwolken und warf hinter den sommerlich gekleideten Menschen kurze Schatten auf den Boden. Nur hinter einem großen roten Transparent, das drei ungehobelte in den Boden gegrabene Balken hielten, war der Schatten länger. Aber das muss an der Aufschrift gelegen haben: Wissen, Wachsamkeit und Tat – für den sozialistischen Friedensstaat.
Die Ankömmlinge nahmen keine Notiz von der Botschaft, die sich der Ignoranz der neuen Sommergäste nicht erwehren konnte. In Gruppen und Grüppchen eilten sie die staubige Hauptstraße hinauf, verfolgt vom Kreischen der Möwen und dem unaufhörlichen Geplapper der Nachströmenden. Die ersten Gäste verschwanden bereits in den schmalen Türen der reetgedeckten Häuser, deren blühende Vorgärten sich stolz den neuen Besuchern zeigten.
Nun komm doch endlich, drängelte mein Freund Franklin, der nicht wahrhaben wollte, dass ich so lange dem Zug der Fremden nachschauen konnte, deren Art und Weise, die Insel in Besitz zu nehmen, meine Neugierde weckte.
Komm doch schon, antwortete ich etwas mürrisch, da ich noch gern gewusst hätte, an welchen Stellen sich die Farbtupfer in der Landschaft verlieren würden. So zogen auch wir, gewissermaßen als Nachhut, am Ende des bunten Urlaubertrecks los. Drei junge Leute aus Berlin, Mitte zwanzig und bepackt mit Rucksäcken und Taschen, in freudiger Erwartung erholsamer, wenn auch kurzer Ferien. Die Freude ging so weit, dass sich Claudia aus unserer kleinen Nachhut löste, die Taschen fallen ließ, die weißen langen Arme in den Himmel streckte und sich wie eine Tänzerin beim Ballett um die eigene Achse drehte. Dabei bildeten die dunklen welligen Haare einen Kreis um ihren Kopf und den schlanken Körper. Beifall erhielt sie für diese, wie ich fand, alberne Darbietung auf offener Straße nicht. Auch nicht, als sie »Hiddensee« rief, als wäre es ein Zauberwort und der Schlüssel zum Paradies.
Hiddensee, atmete ich erleichtert durch und konnte mich doch ebenso wenig der freudigen Erwartung entziehen. Lächelnd und mit einem gewissen inneren Abstand nahm ich Anteil an der ungezügelten Freude der jungen Frau, die ich seit Jahren kannte und die in Berlin-Pankow einen Jugendclub leitete. Der Club erfreute sich seit Anfang der Achtzigerjahre wegen eines abwechslungsreichen Musikprogramms einiger lokaler Beliebtheit, wohl auch weil der ausgeschenkte Alkohol, ein merkwürdiges Cola-Wodka-Gemisch, wenngleich gewöhnungsbedürftig, zumindest billig war.
Während ich die schlanke, sich drehende Gestalt von der Seite betrachtete, musste ich einmal mehr anerkennen, wie makellos schön Claudia war. Denn da waren die leuchtenden braunen Augen und das offene, immer lächelnde Gesicht, als müsste sie das Titelblatt einer Zeitschrift schmücken. Ihr Aussehen erinnerte mich irgendwie an Nena, die mit ihren 99 Luftballons gerade die Hitlisten verschiedener, nicht auf Hiddensee zu empfangender Radiosender eroberte. Letzteres nicht, weil die technischen Voraussetzungen der Empfänger fehlten, sondern weil die stets wachsame Staatsmacht zumindest im höchsten Norden der Republik den dekadenten Einfluss westlicher Popikonen und ihrer Luftballons erfolgreich zu verhindern verstand. Ihre Antwort wäre Nina Hagen und ein Micha gewesen, der am Strand von Hiddensee den Farbfilm vergaß, wie das gleichnamige Lied erzählte. Doch war die Rockröhre nach ihrer Ausreise in den Westen auch nicht mehr zu empfangen. Es sei denn, man begnügte sich mit einem der gestörten Mittel- und Kurzwellensender, deren permanentes Quietschen und Pfeifen den Zuhörern ein kaum zumutbares und damit ungewöhnliches Hörvergnügen bereitete.
Trotz der sportlichen Einlage wirkte Claudia mit ihrem Auftritt auch jetzt wieder püppchenhaft unerotisch. Jedenfalls redete ich mir das ein. Denn diese puppenhafte Schönheit, so war ich mir ziemlich sicher, verdarb alle Erotik mit ihrer Makellosigkeit. Schönheit, so dachte ich, verliert eben doch ihre Magie, wenn jener Eros fehlt, der viel tiefer und tiefgründiger ist als aller Schein. Das Bedauern in diesem Gedanken konnte ich nicht ganz unterdrücken, denn er schützte mich zwar bislang vor der Versuchung, in ihr mehr als eine gute Freundin zu sehen, verhinderte aber dennoch nicht manch erotische Fantasie.
Claudia selbst wollte ich niemals Anteil an diesen Gedanken nehmen lassen, zumal es keinen Grund gab, die Eitelkeiten meiner Freundin, von denen ich bereits einige kennenlernen durfte, zu beschwören. Schon gar, weil ich fürchten musste, dass ich sie damit stellvertretend für das gesamte andere Geschlecht provozierte. Und Claudia konnte sich, leidenschaftlich, wie sie war, ganz als Vertreterin aller Frauen dieser Welt sehen.
Vielleicht war auch mein Urteil Unrecht, schließlich haben wir uns in einem Anfall unnötiger Verzweiflung die Ehe versprochen, sollte keiner von uns in spätestens zehn Jahren einen passenden Partner gefunden haben. Für diesen Fall wollten wir uns am 30. Juni des besagten zehnten Jahres ausgerechnet im »Wiener Café« in der Schönhauser Allee treffen, um uns dort das Ja-Wort zu geben.
Ich weiß bis heute nicht, warum wir uns ein solches, allgemein eher belächeltes Versprechen gegeben haben. Zumal es schon damals wegen der Tatsache, dass wir beide keine Kinder von Traurigkeit waren, kaum einzulösen war. Ich weiß auch nicht mehr, in welchem Zustand wir es uns gaben. Was ich noch weiß, ist, dass das Versprechen von ihr ausging, wenn auch der Zusammenhang eher mich betraf. Denn es war die Trennung von meiner langjährigen Lebenspartnerin Susanne, die zwar mich in eine Krise, Claudia aber zu diesem ungewöhnlichen Vorschlag trieb. Und welchen vernünftigen Grund sollte es für mich, der eine gescheiterte Beziehung zu verkraften hatte, geben, den Vorschlag einer attraktiven, ansehnlichen und zudem noch umgänglichen Frau zu widersprechen. Möglicherweise glaubten wir beide, uns damit eine Rückfahrkarte in die uns vorenthaltene Zweisamkeit gelöst zu haben. Ein Reiz, der angesichts des zu erwartenden Preises auch nicht zu verachten war.
So war dieses Versprechen, so widersprüchlich es sich auch anhörte, Teil eines Sicherheitsgefühls, das wir uns gern wie eine Art zweiten Bodens verschafften. Auch die Liebe, selbst die platonische, so rechtfertigte ich mein Tun, benötigt zuweilen dieses Netz, schließlich ist sie ein Hochseilakt im Himmel der Gefühle und gefährlich wie das Leben selbst.
Unabhängig davon gestand mir Claudia am Tag vor unserer Abreise aus Berlin, dass sie sich verliebt habe. Allerdings setzte sie mich nicht in Kenntnis, wer der Glückliche sei.
Unsterblich?, fragte ich mit einem vermutlich nicht überzeugenden, Anteil nehmenden Blick, der mir nur die kalte Schulter und einen beleidigten Gesichtszug einbrachte. Vielleicht, so ärgerte ich mich später, hätte ich sie wenigstens nach dem Auserwählten fragen sollen, eine Aufgabe, die ich während des Urlaubs in Angriff nehmen wollte, schon um unser besonderes, auf seine Art spannendes Verhältnis nicht unnötig zu belasten. Letzteres war mir im Übrigen wichtiger als jenes leichtsinnige Versprechen.
Was blieb, war unsere, wie ich meinte, geradezu brüderlich-schwesterliche Freundschaft, die sich jetzt einmal mehr bewährte. Ob Claudia ähnlich dachte, blieb mir bis dato verborgen, aber ich vermutete in ihrer zur Schau getragenen Unabhängigkeit, in ihrer Art, bewusst Abstand zu halten und nur so viel Nähe wie nötig zuzulassen, eine vergleichbare Auffassung. Dies, obgleich ich verstand, dass es gerade Frauen sind, hinter deren Fassaden wir Männer niemals schauen werden. Claudias Fassade, das hatte ich gelernt, war dabei keine Theaterfassade aus Pappe und bespannten Leinwänden, sondern eine Mauer, so dick, hoch und unüberwindbar wie die von Berlin. Jedenfalls war ich dankbar, dass Claudia ihren Auslandsurlaub aus Solidarität abgesagt hatte, nachdem mir zwei Tage zuvor der Personalausweis höchst amtlich entzogen wurde und damit unser gemeinsam geplanter Prag-Aufenthalt in eine unerreichbare Ferne rückte.
Denn mit dem neuen Dokument, das am Anfang, des von der Abteilung K der heimischen Volkspolizeiinspektion eingeleiteten Vorgangs gegen mich stand und das den Umfang einer einzigen DIN-A5-Seite hatte, blieb mir sogar der Besuch in den sogenannten Bruderländern verwehrt. Dies war nicht verwunderlich, denn das graue dünne Papierchen strahlte keinerlei Autorität aus und verbot folgerichtig jeden auch ostwärts gerichteten Grenzübertritt. Natürlich war das bitter, da ich mich schon mit der Tatsache abfinden musste, nicht vor Renteneintrittsalter gen Westen reisen zu können, auch wenn der »Westen«, wie in meinem Fall, nur am Ende meiner Straße lag. Die Kopenhagener Straße war nicht die einzige Straße, die im Prenzlauer Berg an einer hohen Mauer endete und deren Bewohner von dem klangvollen Namen wenig hatten. Eigentlich wäre die Umbenennung nur konsequent gewesen, zumal Kopenhagen ebenso unerreichbar blieb wie der Wedding. Aber jetzt noch eine neue imaginäre Mauer im Osten vor die Nase gesetzt zu bekommen, wo mir schon die Mauer am Ende meiner Berliner Straße einiges Gewöhnungsvermögen abverlangte, war mehr als ärgerlich und wenig angetan, meine Stimmung so kurz vor Beginn meines Urlaubs zu heben.
Vielleicht hätte ich mich damit trösten können, dass die Geschichte der Reiserestriktionen lang war, bedenkt man, dass bereits ein Befehl des langobardischen Königs im 8. Jahrhundert jedem Reisenden das Verlassen des Königreiches ohne Einverständnis des Monarchen verbot. Wenig Trost bot auch die Tatsache, dass das Vorgehen besagter Abteilung K die Arbeit unzähliger Angestellter in den öffentlichen Verwaltungen und damit den Unterhalt etlicher Familien sicherte.
Einen Grund für den Entzug des staatsbürgerlichen Vertrauens, in dessen Folge ich mich mit einem grauen Schein ohne Passbild und mit eingeschränktem Gebrauchswert begnügen musste, erfuhr ich trotz Nachfrage bei der zuständigen Volkspolizeibehörde nicht. Das verwunderte nicht, schließlich war es gänzlich unüblich, dass der allmächtige Staats- und Verwaltungsapparat seinen Bürgern auch noch Erklärungen für offensichtlich notwendiges Verwaltungshandeln gab. Das System also funktionierte und jeder Widerstand wäre angesichts der Kräfteverhältnisse sinnlos gewesen. So stellte ich mich vierzig Jahre nach dem Untergang Preußens quasi als preußischer Untertan ganz den widrigen Gegebenheiten und damit meinem Schicksal, das als deutlichstes Zeichen diesen Schein wie ein Brandmal der staatsbürgerlichen Aussätzigkeit trug. Mir war sehr wohl bewusst, dass, egal wo auch immer ich diese neue Legitimation vorwies, ich mit erheblichem Ärger zu rechnen hatte. Schon die Form des Scheines mit der blassen blauen Schrift verbot jegliche Anteilnahme potentieller Kontrolleure mit dem Besitzer. Vielmehr provozierte der Schein geradezu das staatliche Gewaltmonopol und ließ jeden Staatsdiener aufgeschreckt und hellhörig das merkwürdige Exemplar von Papier und logischerweise auch Mensch begutachten.
Jedenfalls setzte ich mir im Bewusstsein dieser Anfälligkeiten und der durch diesen Schein ohnehin versagten Prag-Reise mit dem ebenso reizvollen Hiddensee ein neues Ziel. Und Hiddensee schien mir als idealer Ersatz, nicht nur, weil die romantische Ostseeinsel mit ihren landschaftlichen Reizen, der weiten unberührten Heide, dem sanften Hügelland, das im Norden schroff zum Meer abfällt, und den verschlafenen Fischerdörfern eine magische Anziehung ausübte. Hier hatte ich bereits einmal, weitab von der Welt, einen Sommer verbracht und die Nähe zum großen, aber dennoch vielfach vergessenen Gerhart Hauptmann gesucht, den ich aus vielerlei Gründen verehrte. Er war es, der hier oben seine Sommer verlebte und im nördlichsten Inseldorf mit dem Namen Kloster, ein stattliches Anwesen erwarb, so als wollte auch er vor der Unbill des Reiches fliehen. Und auf der Flucht war ich irgendwie auch.
Ohnehin war ich damit mit meinem Freund Frank, den alle nur in der amerikanischen Form Franklin riefen und den das gleiche Schicksal bereits vor Jahren ereilte, eine Schicksalsgemeinschaft eingegangen. Auch sein Ausweispapier, das immerhin im Gegensatz zu meiner neuen einseitigen Legitimation zwei Seiten umfasste und den amtlichen Titel PM 12 führte, berechtigte nicht zum Verlassen des geliebten Vaterlandes. Warum dieser Ausweis, dessen Umschlag auf die Ersatzlegitimation »Für eingezogenen Personalausweis« verwies, diesen technischen Titel PM 12 trug, vermochte keiner zu sagen. Zumindest ließen die Buchstaben auf das sogenannte Personal- und Meldewesen, also eine Verwaltungsstelle schließen, alles andere war, ebenso wie unsere unterschiedliche staatsbürgerliche Klassifizierung, geheimnisvoll.
In jedem Fall hatte Franklin keine Probleme mit der Wahl des Ferienortes, denn im Rahmen seines PM-12-eingeschränkten Reiseradius’ galt Hiddensee fast als Fernreiseziel. Erleichternd kam hinzu, dass mich Franklin bereits vor vielen Jahren nach Agnetendorf, dem letzten Wohnort Hauptmanns im schlesischen Riesengebirge begleitete und, angetan von der Gegend, meine Begeisterung zu Dichter und literarischer Landschaft teilte. Damals waren wir beide noch im Besitz eines ordentlichen, weil üblichen Personalausweises und damit eines Reisedokuments, das zum polnischen Grenzübertritt berechtigte, obgleich wir niemals das Gefühl hatten, damit privilegiert zu sein. Wie schnell sich diese Auffassung ändert, kann nur nachempfinden, wer im Besitz anderer Legitimationen einmal in einem Land mit stets misstrauischen und damit kontrollsüchtigen Ordnungshütern lebt. Dieser Kontrollsucht war man mit einigem Pech bei den verschiedensten Gelegenheiten ausgesetzt, sei es in öffentlichen oder halböffentlichen Gebäuden, in Parks, in Bahnen, in Krankenhäusern, Universitäten und Schulen, ja sogar bei ausgesuchten Kulturveranstaltungen oder auf der Straße. Ein Anlass zum Misstrauen und damit zur Kontrolle fand sich immer.
Zum Glück teilte Franklin nicht nur meine Auffassung, was Hiddensee und Hauptmann betraf, sondern der heiße Sommer nährte auch alle Hoffnung, die Tage in den kühlenden Fluten oder an den lauen Abenden am Meer auf die angenehmste Weise zu verbringen.
Man muss nur aus der Not eine Tugend machen, klärte mich der dürre schlaksige Kerl mit dem halblangen strohblonden Haar und dem schmalen Gesicht tröstend auf. Wie weit er dies selbst verinnerlichte, konnten Claudia und ich am Ende des Urlauberzuges nun gleich wieder hören: Da hat sich der Herrgott aber eine schöne Wiedergutmachung einfallen lassen, uns dieses Hiddensee vor die Füße zu legen, stellte er trocken fest und zündete sich eine Zigarette an.
Wieso Wiedergutmachung, wollte Claudia wissen, die ihre Taschen nach der Ballettvorführung längst wieder aufgenommen hatte und uns nachtrottete.
Wiedergutmachung für den entgangenen Urlaub in Prag, was sonst, erklärte Franklin und ließ große Qualmwolken in den hellblauen Inselhimmel steigen.
Eine schöne Wiedergutmachung, sagte sie und zeigte vorwurfsvoll auf mich. Musst dich doch alle fünf Tage bei der Polizei in Berlin melden!
Schulterzuckend bestätigte ich. Das ist nun mal die Auflage, schließlich hatte mein neuer Ausweisersatz, auch wenn er nur aus einer Seite bestand, einen Extraabschnitt, in dem sich die Stempelabdrucke meiner Meldungen bei der Polizeibehörde finden sollten.
Zugegebenermaßen war diese Anordnung die schmerzlichste, schließlich bedeutete diese alle »Fünf-Tage-Vorstellung« im heimischen Volkspolizeikreisamt erheblichen Aufwand und schränkte auch längere Urlaubsfreuden empfindlich ein. Dennoch wollte ich nicht auf einige schöne Stunden am Ostseestrand auf Hiddensee verzichten, auch wenn mir nicht einmal vier ganze Tage blieben.
Ordnung muss eben sein, kommentierte Franklin den Vorgang trocken, obgleich er wusste, welche täglichen Einschränkungen der Besitz eines solchen Ausweises nach sich ziehen konnte.
Du hast gut reden, wandte sich Claudia wütend an Franklin, du musst dich nicht alle fünf Tage melden.
Besser so, als wenn sie ihn gleich dabehalten hätten, gab Franklin zur Antwort und fügte in seiner ihm eigenen Art hinzu: Ist doch schon eine Schande genug, wenn sich unsere Ordnungshüter alle paar Tage seiner annehmen müssen. Und das in gewohnter Verantwortungsbereitschaft und so seltener menschlicher Hingabe. Die Genossen tun mir jetzt schon Leid, haben schließlich noch mehr zu tun, als sich dieser merkwürdigen Elemente zu erwehren, die den reibungslosen Ablauf in unseren Verwaltungsorganen gefährden. Dabei zeigte er auf mich, wie einen auf einen Aussätzigen. Früher, ja früher … ich sag nur Sibirien! Da war die Welt noch in Ordnung. Aber nein, man lässt sie heute auch noch frei in Hiddensee herumlaufen. Das ist doch so, als bekäme der Beelzebub eine Fahrkarte ins Paradies.
Ich schmunzelte, erwartete ich doch nichts anderes von Franklin, und es käme einem Wunder gleich, wenn er seine Lust an der Provokation im Umgang mit den Gegebenheiten im Zaum gehalten hätte. Nicht umsonst wurde er als der Villon vom Prenzlauer Berg bezeichnet, was er seinem großen, stets zu ironischen, zuweilen auch zynischen Provokationen bereiten Mund, aber wohl auch seinem Aussehen zu verdanken hatte. Irgendwie wirkte es immer, als sei er stets unterwegs, gehetzt von der Zeit und den äußeren Umständen, einem fahrenden mittelalterlichen Vaganten gleich, mit seinen zu kurzen Hosen, die über den Knöcheln schlackerten und dem abgeschabten Jackett. Und wirklich, Franklin war eines jener durch Unbefangenheit und unerschöpflichen Lebensmut ausgezeichneten Wesen. Während andere sich selbst zur Verzweiflung trieben, wartete er immer mit einem Lächeln auf oder hatte einen passenden Witz parat, um so tapfer und unerschrocken die Realitäten zu ignorieren. Möglicherweise waren aber auch Ironie und Zynismus Formen, sich mit seiner nicht so komfortablen Situation als PM-12-Träger anzufreunden.
Wovon er wirklich lebte, wusste keiner. Vielleicht schämte er sich auch dafür. Wenn man ihn fragte, nannte er sich einen Verkäufer, Verkäufer des Vergessens. Und ging sofort zur Gegenfrage über: Wie viel möchten Sie vergessen, groß, klein, viel, wenig?
Aber vom Vergessen kann man doch nicht leben!
Oh doch, gab er zur Antwort. Wenn so viele Menschen, ja ganze Staaten von der Lüge leben können, dann will er wenigstens vom Vergessen leben. Das ist doch nur gerecht, schließlich brauchen die, die mit der Lüge leben ja auch kein Vergessen. Viele Menschen aber brauchen das Vergessen, weil sie vor sich selbst bestehen müssen und nicht immer an das Gestern erinnert werden wollen. Das gute Gewissen, so Franklin brauche das Vergessen, genauso wie der Mensch die Luft zum Atmen, denn mit dem Vergessen käme auch das Glück zurück.
Meinen Einwand, dass es kein Glück, bestenfalls Zufriedenheit gäbe, wehrte er mit der Bemerkung ab, dass ich zu viel Schopenhauer gelesen hätte, sonst würde ich wissen, dass im Vergessen das ganze Glück der Menschheit ruhen würde.
Da ich nie wusste, wie ernst er seine Aussagen meinte und ich die Erklärung zwar nicht besonders einleuchtend, aber schön und originell fand, ließ ich es dabei bewenden.
Manchmal nannte sich Franklin auch einen Meister des Vergessens, der die Aufgabe hatte, mit schönen Worten den Alltag vergessen zu machen, jenen Alltag, der durch zu viel Realität und noch mehr Realismus getrübt wurde. Zum Vergessen gehören auch Worte. Folgerichtig nannte er sich auch Dichter des Vergessens und dafür wurde er, unabhängig davon, dass allen klar war, dass er vom Dichten nicht leben konnte, auch gehalten.
Auf den Einwand, er müsse sich einmal entscheiden, ob er nun Dichter oder Verkäufer sei, antwortete er nur ausweichend, dass das eine das andere nicht ausschließe.
In der Tat, bei einiger Überlegung konnte man die Seelenverwandtschaft zwischen dem Vergessen und dem Dichten nicht ausschließen. Auch Dichter sind Meister der Entrückung und helfen so zu vergessen. Sie verschönern damit auf ihre Art die Welt, die im tristen Alltag, wie er meinte, dringend eines Neuanstriches bedurfte.
Folgerichtig eröffnete er mir eines Tages, dass er nun ein Buch schreiben werde. Der Name war schnell gefunden: Das große Buch des Vergessens.
Ob es je dazu kommen würde, wusste er wahrscheinlich selbst nicht, denn als stadtbekannter Boheme traf man ihn in der Regel in den einschlägigen Etablissements der sogenannten intellektuellen Szene zwischen Schönhauser Allee und Greifswalder Straße, wo er mit fremden und seinen eigenen Gedichten glänzte. Arbeiten vermochte er demnach nur nachts, was auch wieder an Villon erinnerte, jenem Pariser Galgenvogel und Vagabunden, der vor über fünfhundert Jahren das Leben der feinen Gesellschaft mit wortgewaltigem Spott karikierte.
Manchmal wusste man noch nicht einmal, wessen Gedicht Franklin gerade vortrug und zuweilen ließ er sich auch mal mit einem Plagiat feiern. Hauptsache er provozierte.
Letzteres ärgerte nun auch wieder Claudia, die den Vergleich, dass der Beelzebub in meiner Gestalt eine Fahrkarte ins Hiddenseer Paradies erhalten hätte, nicht stehen lassen mochte. Dass ihr euch auch immer lustig machen müsst, beschwerte sie sich lautstark. Von frei herumlaufen kann bei diesen Auflagen ja nicht die Rede sein!
Aber doch, er ist frei wie ein Aquarienfisch, erwiderte Franklin und stieß mich lachend an. Auch ein Aquarium hat eben seine guten Seiten, man ist immer sicher vor den Haien. Da ist es nur ein Akt der Gerechtigkeit, wenn er sich alle fünf Tage bei der Polizei melden muss, auch wenn er nicht weiß, womit er diese besondere Ehre verdient hat.
Claudia winkte ab. Eigentlich ist es zum Heulen und ihr amüsiert euch noch darüber.
Das kann man so nicht sagen, widersprach ich, wir sind gesund und munter und unser Urlaub auf der sonnigen Insel wird mit Sicherheit viel schöner, als der Aufenthalt in dem verregneten Prag.
Woher willst du denn wissen, dass es dort regnet?
Das haben wir im Wetterbericht gehört, log ich. Stimmts, Franklin?
Nickend bestätigte Franklin mit einem breiten Grinsen. Und das war ein Sender der Deutschen Demokratischen Republik und der lügt ja bekanntlich nicht.
Außerdem ist unsere Situation mit den eingezogenen Ausweispapieren und den verweigerten Erklärungen schon tragisch genug, da muss man nicht noch nach Prag.
Wieder bestätigte Franklin.
Claudia schüttelte den Kopf, schon weil sie es mal wieder aufgab, mit uns zu diskutieren. Natürlich verstand auch sie, worauf wir anspielten. Es war jener »Prozeß«, in dem der literarische Hauptheld Josef K., der Prokurist einer Bank, ohne nachvollziehbare Gründe an seinem 30. Geburtstag verhaftet wird. Wie selbstverständlich identifizierten wir uns mit jenem Ausgestoßenen, der, ohne zu wissen warum, Opfer eines unbekannten geheimnisvollen Sondergerichts werden sollte, dem er sich nach quälender Selbstbefragung hilflos ergeben wird.
Nein, ich hatte Josef K. zurückgelassen und es gab keinen Grund anzunehmen, dass er uns folgen könnte. Auf Hiddensee hatte Kafka keinen Platz, schon weil Hiddensee nicht Prag war, das Prag mit seinen dunklen mittelalterlichen Gassen, durch die der Golem schlich. Hiddensee war Licht und Luft und Sonne und Meer. Hiddensee war wie ein Rausch, den nichts einzugrenzen schien, weil die Insel trotz aller geografischen Beschränktheit etwas von Weite und Ferne atmete. Hier gingen die Uhren anders und schlugen einen eigenen Takt.
Die Insel war zudem mit dem Namen des Nobelpreisträgers Hauptmann verbunden, der wohl wie kein anderer die Insel prägte und das noch weit nach seinem Tod. So lag es nahe, mich mit einem der Werke zu beschäftigen, die hier oben auf Hiddensee durch den greisen Gerhart Hauptmann entstanden sind. Obgleich schon seit 1885 ständiger Sommergast, hatte der Dichter erst 1930 den Sommersitz in Kloster erworben und ihn ausbauen lassen. Im Haus »Seedorn«, das seit Jahrzehnten eine Gedenkstätte war, erblickten eine Reihe seiner Werke, wie das Stück »Vor Sonnenuntergang«, nicht zu verwechseln mit seinem naturalistischen Klassiker »Vor Sonnenaufgang«, das Licht der Welt.
Ich wusste, dass ich mich bei der Beschäftigung mit diesen Texten nicht auf der Höhe der Zeit befand, für die der schlesische Dichter zum Außenseiter geworden war. Hauptmann gehörte einer untergegangenen Welt an und doch war es gerade dies, was mich an ihm faszinierte, die Zeitlosigkeit seiner Aussagen, obgleich er selbst Zeuge mehrerer Epochenwechsel war. Mit Hauptmann hielt man ebenso viel literarischen Abstand von der Welt, wie mit Hiddensee geografischen.
Aber die Mühe, nach einem entsprechenden Text des Nobelpreisträgers von 1912 zu suchen, wollte ich mir spätestens nach den Ereignissen der letzten Tage und der staatsbürgerlichen Deklassierung nicht mehr machen. So griff ich auf einen Gedichtband zurück, der einige der auf Hiddensee entstandenen Gedichte enthielt und der viel eher meiner momentanen Stimmungslage entsprach.
Claudia seufzte. Einen Grund konnte ich nicht erkennen, aber ich vermutete, dass ihr Nervenkostüm auch durch die Vorkommnisse mit mir und die Ungewissheit, wie es weitergehen sollte, gelitten hatte. Dabei mochten Franklins tiefschwarze humoristische Anspielungen ihren Beitrag geleistet haben. Trotzig verweigerte sie das Laufen und blieb mitten auf dem staubigen Weg stehen.
So nahm ich sie in den Arm. Wir werden schöne Tage haben, flüsterte ich vertraulich. Und dann dieses Wetter, die Insel, das Meer, der Sand und all die Farben. Es ist doch paradiesisch.
Ja, antwortete sie fast schluchzend mit ihrer warmen und doch so traurigen Stimme.
Und wir werden das alles vergessen, sagte Franklin, jetzt einlenkend. Wie ein großes Buch schlagen wir das Vergangene hinter uns zu.
Ja, großer Meister!, rief ich. Wir werden alles vergessen!
So zogen wir weiter über die erste große, zum Vitter Bodden hin angelegte Düne hinab durch den staubigen Sand der Dorfstraße, den uns ein leichter Wind um die nackten Beine trieb. Über uns das Kreischen der Möwen, die wie große Schmetterlinge vor der Sonne kreisten und nervöse Schatten auf die Straße warfen. Doch weit kamen wir nicht.