Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37

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Allerdings ist noch völlig ungeklärt, warum dieser Gedanke der Transzendenz den Sieg über den Tod implizieren muss. Geschichtlich hat das Judentum Jahrhunderte lang den Begriff des transzendenten, ewigen und allwissenden Gottes gekannt, ohne die Überwindung des menschlichen Todes daran zu knüpfen. Und logisch gesehen fordert die Aufbewahrung eines endlichen Wissens im Absoluten nicht die Erhaltung seines Trägers, nicht einmal dann, wenn wir einen anderen Begriff von Wahrheit und Erkenntnis geltend machen als jenen objektiven, der alle Beziehung auf die subjektive Lebendigkeit des Erkennenden eliminieren möchte. Einen solchen Wahrheitsbegriff müssen wir bei Adorno voraussetzen; es ist der von Affinität im Unterschied zum klassischen der adaequatio.51 In ihm soll am Objekt, das den Vorrang hat, Nichtidentität hervortreten können, deren Organ im Erkennenden der begriffslose Teil am begrifflich identifizierenden Denken ist: mimetischer Ausdruck. Adornos Wahrheitsbegriff misst sich am »Äußersten, das dem Begriff entflieht«, nämlich an der sinnfernen Schicht des Somatischen als dem Schauplatz des Leidens. Alles andere als der Versuch, ihm Ausdruck zu verleihen, ist für Adorno »vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.«52 Es ist demnach »das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, Bedingung aller Wahrheit.«53 Erst ein Denken, das in sich Drang, Bedürfnis, Verlangen wahrzunehmen vermag, beginnt unter Wahrheit den Ausdruck des Leidens zu verstehen; und erst wenn Wahrheit so verstanden wird, erweist sich Dauer als ihre notwendige Eigenschaft: Sie wird zum Eingedenken, das die Erinnerung an vergangenes Leid bewahren soll.

Auch in dieser Version ist das Beweisziel nicht erreicht. Es bleibt unklar, warum die Voraussetzungen, unter denen die Hoffnung des Eingedenkens säkularisiert werden musste, nicht mehr gelten sollen, wenn aus ihr ein Begriff mimetisch-expressiver Wahrheit entwickelt wird. Vor allem wäre zu bedenken, dass die Hoffnung des Eingedenkens, ob eschatologisch oder geschichtlich gefasst, eine Hoffnung einzig um der Vergangenheit willen ist. Dies bedeutet nicht, dass Hoffnung aus dem Vergangenen kommt, wie Adorno interpretiert,54 sondern dass wir nur für die Toten – die nicht mehr hoffen können – hoffen dürfen.55 Hoffnung für die eigene Person wäre als Ausgangspunkt egoistisch und würde vor allem die Aktualität der messianischen Befreiung negieren: Wenn jeder Augenblick die kleine Pforte sein kann, durch die der Messias kommt,56 brauchen wir uns um unsere Zukunft keine Gedanken zu machen. Andererseits: Wenn das Totengericht und die Auferstehung glaubhaft sind, ist das menschliche Gedächtnis vergangenen Leidens überflüssig.

3.3 Der Schlussaphorismus der Minima Moralia: Erkenntnis und Erlösung

Auch der Schlussaphorismus der Minima Moralia behauptet einen engen Zusammenhang zwischen Erlösungshoffnung und Erkenntnis: »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.«57 Einzig im messianischen Licht erscheint die Welt so, wie sie erkannt werden muss, aber von selbst sich nicht zu erkennen gibt, nämlich zerrissen, diskontinuierlich, bedürftig. »Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird.«58 Erlösungshoffnung gibt sich hier als ihrer Sache gewiss, ihr Gehofftes erscheint als Quelle des Lichts, in dem allein die Dinge wirklich gesehen werden können, mithin als objektive Bedingung ihrer Erkennbarkeit. Freilich wüsste man gerne, woraus – angesichts von Verzweiflung – eine solche Gewissheit sich speist. Zunächst jedenfalls ist »Erlösung« etwas Subjektives, ein Gedanke, eine Hoffnung, ein »Standpunkt«: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten.«59 Der Konjunktiv verweist auf ein Gesetztsein, etwas Fakultatives; als »Standpunkt« ist die Erlösung ein »Als ob«. Was als nicht bloß Subjektives gewiss ist – »das Licht, das von der Erlösung her auf die Welt scheint« – ist unmittelbar zuvor eine subjektive Veranstaltung. Wäre die Erlösung objektiver Grund der Erkenntnis, bräuchte sie kein Standpunkt zu sein. Insofern zeugt der ganze Aphorismus von dem, was der Schlusssatz ausspricht: dass »die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig«60 ist.

Nach Adorno ergibt sich diese Gleichgültigkeit erst aus den Schwierigkeiten, ja der Unmöglichkeit, den Standpunkt der Erlösung überhaupt einzunehmen. Erkenntnis im messianischen Licht ist »das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat.«61 Der Standpunkt der Erlösung ist deshalb unmöglich einzunehmen, weil er etwas Subjektives ist, errungen und abgetrotzt, eben »Standpunkt« ist. Damit aber ist der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Erlösung wieder zerrissen. Weil »jede mögliche Erkenntnis« dem Bestehen »abgetrotzt« werden muss, ist sie ihm auch verfallen und befindet sich nicht auf einem Standpunkt jenseits desselben. Verständlicherweise hat Adorno auch nie versucht, Erkenntnisse, die er, wie die Marx’sche Tauschwertanalyse, als verbindlich anerkennt, auf den Standpunkt der Erlösung zurückzuführen.

3.4 Ausweitung des Bildverbots und die Unmöglichkeit von Praxis

Die Unmöglichkeit, den Standort der Erlösung einzunehmen, ergibt sich auch aus einem anderen Motiv, dem der Ausweitung des Bildverbots. Dessen allgemeine Begründung ist die Verfallenheit der Vorstellungen und Gedanken ans Bestehende, ihre nähere Bedingung die Unmöglichkeit revolutionärer Praxis, die für Adornos als die wahre Praxis gilt. In der Bibel – zuerst 2. Mose 20, 4 f. – bezieht sich das Verbot eindeutig auf den Versuch, Gott in menschlichen Werken anschaulich zu machen und anzubeten. Sinn des Bildverbots ist die Betonung des Abstands zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen, das Wissen um seine Transzendenz und Unvergleichlichkeit. Gott spricht zu den Menschen, aber er zeigt sich nicht. »Seine Worte hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da« (5. Mose 4, 12). Was in der Stimme erscheint, ist Geist, keine Naturgewalt.

Bei Adorno wird das »Bildverbot« ausgeweitet auf die eschatologische Hoffnung wie auf die messianische Utopie. Die jeweilige Begründung lässt es als fraglich erscheinen, ob der theologische Begriff überhaupt angemessen ist. Was die eschatologische Hoffnung betriff, läuft das »Bildverbot«, wie gesehen, auf ein Denkverbot hinaus. Im Hinblick auf die mögliche Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft verweist Adorno auf den historischen Materialismus von Karl Marx, der das Bildverbot säkularisiert habe, »indem er nicht gestattete, die Utopie positiv auszumalen.«62 Tatsächlich folgt die Marx’sche Kritik des utopischen Sozialismus einem Motiv, das mit dem Adornos übereinkommt. Es besteht nämlich die Gefahr, beim Entwurf der zukünftigen Gesellschaft nur Ideale der bestehenden auszugestalten, ohne nach dem Zusammenhang dieser Ideale mir der schlechten Wirklichkeit zu fragen. Diese Utopiekritik hat Marx freilich nicht daran gehindert, Prinzipien einer aus der Überwindung der kapitalistischen hervorgehenden Gesellschaft anzugeben. Ihre nähere Ausgestaltung sollte der geschichtlichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, überlassen bleiben. Dass eine solche Praxis ohne Antizipationen, Programme und Pläne ebenso wenig auskommt wie ohne Experimente, Fehler und Korrekturen, war ihm selbstverständlich.

Für Adorno hingegen besteht das eigentliche Problem darin, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung gescheitert ist. Dies ist das Problem eines jeden, der an der Analyse des Kapitals festhält und praktische Konsequenzen zu ziehen sucht; Horkheimer und seine Mitarbeiter haben es nur relativ früh gemerkt, schon nach der Konsolidierung der Diktatur Stalins in den 1930er Jahren. Unter diesen Voraussetzungen kann nicht verboten werden, was es nicht gibt: konkrete Antizipationen einer klassenlosen Gesellschaft. Nötig wäre nicht ein Bildverbot über der sozialen Utopie, sondern eine Kräftigung der Phantasie, die freilich nur im Zuge der praktischen Anstrengungen erwartet werden kann.

Die messianische Tradition bietet ein beeindruckendes Beispiel utopischer Phantasie, die auch heute noch gleichsam als Fundus utopischer Archetypen dienen kann. Indem Adorno sein Bildverbot auf messianische Utopie und eschatologische Hoffnung gleichermaßen erstreckt, drohen die begrifflichen Differenzierungen zwischen beiden verloren zu gehen. Das ist vielleicht der Grund, warum die zentralen messianischen Motive von Gerechtigkeit und Frieden bei Adorno meist nur eine implizite, jedenfalls eher unscheinbare Rolle spielen. Bisweilen ist unklar, ob zwischen sozialer Utopie und Eschatologie überhaupt noch unterschieden werden kann.63 Zwischen befreiter Gesellschaft und der Möglichkeit einer Erfüllung der transzendenten Sehnsucht besteht aber, wenn es diese Möglichkeit überhaupt gibt, ein Bedingungsverhältnis: »Die metaphysischen Interessen der Menschen bedürfen der ungeschmälerten Wahrnehmung ihrer materiellen. Solange diese ihnen verschleiert sind, leben sie unterm Schleier der Maja. Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.«64

 

3.5 Messianische Splitter, Namensprache und Negativität als Spiegelschrift

Das Motiv der Rettung ist das beherrschende messianische Motiv bei Adorno. Neben ihm, und in entsprechender Verwandlung, gibt es weitere messianische Motive, die mit dem Denken Benjamins in Zusammenhang stehen, an erster Stelle das Motiv des messianischen Splitters. Benjamin bezeichnet das einmalige Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit als Konstellation. In ihrem Erfassen – in der Rettung des unwiederbringlichen Vergangenen – begründet der Historiker »einen Begriff der Gegenwart als der ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.«65 Bei Adorno nimmt der messianische Splitter die Form einer Spur an, die auf Transzendentes deutet: »Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.«66 Dieses Motiv korrespondiert mit der objektiven Bedeutung des messianischen Lichts aus dem Schlussaphorismus der Minima Moralia.

Ein weiteres, von Benjamin geprägtes messianisches Motiv bei Adorno ist das sprachphilosophische. Es muss erwähnt werden, auch wenn sich die Negative Dialektik von ihm distanziert, indem sie von der »Hoffnung des Namens« als einem Vergangenen spricht. Rettung bedeutete bis dahin die Beziehung der Begriffe auf eine bilderlose Wahrheit, die in der Sprache der Namen besteht.67 Die Sprache der Namen, nach Benjamins Trauerspielbuch das intentionslose Sein der Wahrheit, ist in den historischen Sprachen nicht verfügbar. Ihre Idee ist vielmehr abhängig von der biblischen Überlieferung einer adamitischen Sprache, von der Benjamin in dem hier grundlegenden Sprachaufsatz von 1916 schrieb, der Mensch sei der Erkennende in derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist.68 Die Restitution dieser Sprache wäre ein echt messianisches Motiv, das sich vielleicht auch zu Zephanja 3, 9 in Beziehung setzen lässt: »Dann aber will ich den Völkern reine Lippen geben, daß sie alle des Herrn Namen anrufen sollen und ihm einträchtig dienen.« Hermann Cohen kommentiert: »Die Völker haben nunmehr eine Sprache zur Verehrung des Einen Gottes.«69 Auch für Benjamin war die messianische Welt charakterisiert durch eine universale Sprache, in der die rettende Vergegenwärtigung besteht.70

4. Messianische Motive in der Dialektik der Aufklärung und im Spätwerk Max Horkheimers

Unverkennbare Zeugnisse des Wirkens messianischer Motive finden sich in Horkheimers Werken aus den 1930er Jahren, soweit ich sehe, nicht. Bei Adorno, der sich schon an Benjamin anschloss, als dieser noch ohne materialistische Vorbehalte Theologie betrieb, verhält sich dies anders. Deshalb mag man vermuten, dass sich die messianischen Motive der Dialektik der Aufklärung vor allem Adorno verdanken. Diese Annahme wird gestützt durch Horkheimers spätere Auskunft, dass der Messianismus für ihn selbst, im Unterschied etwa zu Ernst Bloch, nicht »bestimmend gewesen«71 ist. Allerdings konvergieren einige der eindrucksvollsten Stellen, an denen die Dialektik der Aufklärung für messianische Motive zeugt, mit einem für Horkheimer von früh auf wichtigen Gedanken. Es handelt sich um das messianische Motiv des Naturfriedens und den Gedanken einer Solidarität mit der leidenden Natur.

Das Eingedenken der Natur im Subjekt, das die Dialektik der Aufklärung fordert und vollzieht, schärft den Blick für den »Drang des Daseins nach seinem Frieden«72. Erkennbar wird »die unendliche Geduld, der nie erlöschende zarte Trieb der Kreatur nach Ausdruck und Licht, der die Gewalt der schöpferischen Entwicklung in ihr selbst zu befrieden scheint«73. Noch in der Qual der gefolterten Leiber erscheint als in ihrer Verneinung die »Freiheit als Bestimmung der Materie«74. An Leid und Tod in der Natur entzündet sich die messianische Phantasie, die Bilder produzierende Kraft des Denkens: »Die Anrufung der Sonne ist Götzendienst. Im Blick auf den in ihrer Glut verdorrten Baum erst lebt die Ahnung von der Majestät des Tags, der die Welt, die er bescheint, nicht zugleich versengen muss.«75

Während das Motiv der Rettung in der Dialektik der Aufklärung – »der Drang, Vergangenes als Lebendiges zu erretten, anstatt als Stoff des Fortschritts zu benützen«76 – in den diskutierten Thesen Adornos weiter wirkt, tritt in Horkheimers spätesten Äußerungen eine Kritik des Atheismus in den Vordergrund. Die Dialektik der Aufklärung enthält, wenn auch eher versteckt, die These, dass »die Leugnung Gottes in sich den unaufhebbaren Widerspruch [enthält], sie negiert das Wissen selbst.«77 In den 1960er Jahren nimmt die Beschäftigung mit dem Gottesbegriff, bis dahin eher ein Nebenmotiv, bei Horkheimer einen verhältnismäßig breiten – man könnte auch sagen: einen unverhältnismäßigen – Raum ein. Er verweigert ein Bekenntnis zum Atheismus, weil sich über das Absolute überhaupt nichts aussagen lasse,78 und behauptet wie Adorno einen notwendigen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gottesbegriff. »Wahrheit als emphatische, menschlichen Irrtum überdauernde, läßt sich […] vom Theismus schlechthin nicht trennen.«79 Horkheimer formuliert unverschlüsselter als Adorno, aber auch unbekümmerter um mögliche Begründungen. Er meint, auch für die Marx’sche Kapitalismuskritik seien theologische Postulate aus logischen Gründen entscheidend, auch wenn dies Marx selbst nicht bewusst war.80

Wichtiger als rein theoretisch bezogene Bezugspunkte sind freilich praktisch-moralische. Der Gottesgedanke sei unverzichtbar, weil er für uns die Verlassenheit und Bedürftigkeit der Menschen bewusst macht und so die Bedingung solidarischer Hilfe ist.81 Dieser Gedanke bekennt sich als eine Sehnsucht:

»Gott als positives Dogma wirkt als trennendes Moment. Die Sehnsucht hingegen, daß die Welt mit all ihrem Grauen kein Letztes sei, vereint und verbindet alle Menschen, die sich mit dem Unrecht dieser Welt nicht abfinden wollen und können. Gott wird so zum Gegenstand der menschlichen Sehnsucht und Ehrung; er hört auf, Objekt des Wissens und Besitzes zu sein. Ein so verstandener Glaube gehört unabdingbar zu dem, was wir menschliche Kultur nennen.«82

Es bleibt unklar, wie eine solche Sehnsucht Glauben sein kann, wenn sie nicht die Möglichkeit ihrer Erfüllung, und damit doch wohl den traditionellen Gottesbegriff, bejaht. Anderenfalls wird sie sich als Illusion erkennen und entweder resignieren oder ihre Energien transformieren. Eine Hoffnung, die keine – wenn auch in wiederkehrendem Zweifel sich bewährende – Möglichkeitsgewissheit hat, ist unmöglich.

In der Sehnsucht nach dem Absoluten sollten sich nach Horkheimer alle vereinigen, »die den Schrecken der Vergangenheit nicht als endgültig betrachten wollen«83. Dieses Motiv war Horkheimer schon in den 1930er Jahren nicht unbekannt. Auch »seit dem Übergang der religiösen Sehnsucht in die bewußte gesellschaftliche Praxis« lässt sich »das Bild vollendeter Gerechtigkeit«, in dem selbst das vergangene Elende gutgemacht ist, nicht verscheuchen.84 Es gehört aber zu ihm »das zunehmende Bewusstsein der Vergeblichkeit«, jenes Bild ist »Schein«, »Illusion.« Im Unterschied zur Abgebrühtheit, die alles durchschaut und an alles sich anpasst, erkennt das kritische Bewusstsein Horkheimers in jener Illusion eine positive Wirkung. »In einer freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewußtsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit des Menschen erhalten und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus, vor dem Aufspreizen ihres eigenen Wissens als einer neuen Religion.«85

Diese Position scheint mir auch nach 70 Jahren noch haltbar. Die religiöse Hoffnung ist vergangen, aber sie bleibt als Erinnerung und soll in dieser Form den Götzendienst jeder Art verhindern. Demgegenüber kann man die Überlegungen der 1960er Jahre nur als eine Theologisierung von Horkheimers Denken bezeichnen. Der Theismus habe »eine neue Aktualität gewonnen.«86 Sie ergibt sich aus der Kritik der autonomen Moral. Der kategorische Imperativ sei durch die Geschichte nicht bestätigt worden87 – als ob er auf eine solche Bestätigung angewiesen sein könnte. Horkheimer ignoriert hier Kants Unterscheidung von technischer und moralisch praktischer Vernunft und meint, dass Vernunft nicht notwendig die Achtung vor dem Menschen als Selbstzweck, sondern ebenso das Gegenteil gebieten könnte.88 Ein ähnlicher Gedanke war schon in der Dialektik der Aufklärung geäußert worden,89 nicht aber die Behauptung, dass zwischen theistischer Tradition und Überwindung der Selbstsucht eine notwendige Beziehung bestehe. Hatte Horkheimer 1936 noch von der »egoistischen Seelenverfassung der meisten Religiösen« gesprochen,90 so gilt ihm nunmehr, fast dreißig Jahre später, Atheismus als Synonym für Unmoral, auch wenn diese sich bei bloß konventionellen Christen findet.91 Er fällt hinter die aufklärerische Position von Kant zurück, dass der Glaube nicht zur Moral, sondern höchstenfalls durch Moral notwendig sei.

Mit der Abgrenzung vom theologischen Dogmatismus sind solche Standpunkte schwer vereinbar. Horkheimers spätes Denken macht einen widersprüchlichen, im Grunde hilflosen Eindruck. Theismus ja, weil es ohne ihn keine Wahrheit und keine Moral gibt. Aber nein zur Gewissheit des Glaubens, weil sie dogmatisch sein muss und die Menschen trennt. Am äußersten Punkt wird Religiosität definiert als die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Aber in dieser Unbestimmtheit lässt sich keine notwendige Beziehung zu irgendeiner Form von Praxis mehr herstellen, und es bleibt unklar, was für die Theologie noch zu tun sei. Mir scheint noch die Theologisierung von Horkheimers spätem Denken als eine Schwundstufe revolutionärer Hoffnung verstehbar, die sich erst auf die messianische Plötzlichkeit der Befreiung und nun auf den utopischen Traum zurückgezogen hat, der von den Problemen der Verwirklichung, die nur umkämpft sein kann, abgelöst ist:

»In kühnen Träumen scheint mir, es könnte einmal so werden, daß eine Art mit Theologie verbundener Gesinnung sich entfalte, in der die Menschen es als ihre wesentliche Aufgabe ansehen, zusammenzustehen, damit niemand mehr hungere, damit jeder ein anständiges Heim habe, damit auch in notleidenden Ländern keine Epidemien mehr herrschen. Die Menschen würden versuchen, ihre Probleme als endliche Wesen gemeinsam zu lösen und die Existenz nicht nur länger, sondern auch schöner zu machen. Ja, ich gehe sogar so weit, zu denken, daß sich die Solidarität schließlich sogar auf die anderen Kreaturen ausdehnen könnte.«92

 

Welcher Art die Verbindung der Gesinnung mit der Theologie sein soll, bleibt offen. Schon die kantische Position, dass Religion durch Moral notwendig sei, bildete eine Verteidigungslinie, die unhaltbar war. Hält man sich an den Horkheimer der 1930er Jahre, kann »Verbindung mit Theologie« nur so viel bedeuten, dass wir den Gedanken an eine transzendente Macht, die gerecht ist und vom Tod zu erlösen vermag, nicht vergessen sollten. Sobald die utopischen Träume »in die bewusste gesellschaftliche Praxis übergehen«, wird es wieder unwesentlich werden, ob sich mehr als diese Erinnerung mit der moralischen Gesinnung verbindet.