Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41

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Vorausgesetzt, dass die menschliche Würde ein Name für die Utopie ist, können wir erkennen, dass ein utopischer Begriff als Kontrastfolie zur Erkenntnis wesentlicher Elemente der Gegenwart dient. Tatsächlich sind Kritik und Utopie auch bei Adorno eng miteinander verbunden und können sich gegenseitig schärfen. Wenn wir versuchen, Begriffe wie Würde oder Freiheit, Gleichheit oder Mündigkeit zu verwirklichen, werden wir bestimmte soziale Grenzen erreichen. Wir könnten die menschliche Natur beschuldigen, wir könnten aber auch jene Ideen in utopische Konzepte verwandeln, die eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse und deshalb eine Veränderung der Gesellschaft als ganzer erfordern. In dem Gespräch mit Ernst Bloch über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht betont Adorno drei Punkte: Erstens kann keine einzige Idee die Utopie isoliert bedeuten, nötig sei eine Verbindung von Ideen. Zweitens: es ist nicht erlaubt, einen utopischen Zustand auszupinseln, und drittens: Die »Abschaffung des Todes« ist ein essentielles Element der Utopie.31

Es ist freilich fraglich, ob Adornos Praxis als öffentlicher Intellektueller dem Utopiebegriff entspricht, den er etwa unter Beziehung auf den religiösen Begriff der Erlösung am Ende der Minima Moralia oder in dem Gespräch mit Ernst Bloch aus dem Jahr 1964 vertritt. Bezüglich der zweiten These befindet sich Adorno in guter Übereinstimmung mit Marx, der ein Vertrauen in die Arbeiterbewegung forderte, das uns freilich längst abhanden gekommen ist. Nach Marx verleugnet jede Ausmalung der Utopie, dass ihre Realisierung nur das Werk von Frauen und Männern sein kann, die sich für eine Konkretisierung jener Ziele einsetzen. Wenn es kein Vertrauen mehr in eine wirkliche Bewegung gibt, werden andere Argumente nötig, um das Verbot des Konstruierens utopischer Zustände zu begründen. Deshalb bezieht sich Adorno auf das alte jüdische Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen.32 Denselben Versuch, die soziale Utopie in einen religiösen Kontext zu bringen, sehen wir in der dritten These über die »Abschaffung des Todes«. Sicher ist der Tod ein entscheidendes Problem der menschlichen Existenz und das Bewusstsein des Todes oder seine Unterdrückung ist ebenso ein Thema der Sozialphilosophie. Ferner kann das Sterben in vieler Hinsicht eine politische Frage sein, man denke etwa an die Diskussionen über Sterbehilfe oder assistierten Freitod. Jedoch ist die »Abschaffung des Todes« kein praktisches Ziel; wenn sie auch ein wesentliches Element der Sozialutopie ist, bleibt deren Verwirklichung definitiv unmöglich.33

Wenn wir uns erneut den Zielen der Erziehung zuwenden, entdecken wir bei Martha Nussbaum, einer der produktivsten Philosophen der Gegenwart, ähnliche Überlegungen wie bei Adorno. Auch für Nussbaum hat Erziehung eine politische Funktion, indem sie der Bereitschaft zum Freund-Feind-Denken, der Dehumanisierung und Verdinglichung anderer entgegenwirkt. Auch Nussbaum bedient sich psychologischer Einsichten, insbesondere der Psychologie der frühen Kindheit. Ihre Ziele – vornehmlich die Fähigkeiten zur Selbstprüfung und zur Empathie – decken sich weitgehend mit denen Adornos. Die Ähnlichkeiten sollten uns nicht allzu sehr wundern, denn obgleich die konkrete Situation heute sich von der der 1940er bis 1960er Jahre in wichtigen Punkten, nicht zuletzt im Grade der globalen wirtschaftlichen Durchdringung, unterscheidet, sind doch die Mechanismen, mit denen psychologisch zu rechnen ist, im Kern dieselben. Auch die Gruppen, auf die sich die Feindseligkeit bezieht, sind teilweise dieselben geblieben, wenngleich in europäischen Ländern die massenhafte Zuwanderung aus weniger entwickelten Ländern relativ neu ist. Die Struktur ethnozentrischer Phänomene, ob sie Juden oder Schwarze, Roma oder Araber betreffen, ist gleich, wie Adorno mehrfach betont.34 Die brutale Ablehnung Hilfsbedürftiger gehört in denselben Zusammenhang.

Gemeinsamkeiten von Adorno und Nussbaum finden wir zunächst in der Zielsetzung. Auch bei Nussbaum finden wir das Ziel der Selbstprüfung und das Bedürfnis, die Fähigkeit zur Empathie und zum Mitleid zu stärken. Gewiss ist der Begriff der Selbstreflexion bei Adorno psychoanalytisch geprägt, während Nussbaums »self-scrutiny« eine »socratic self examination« meint, die auf die Begründung und argumentative Verteidigung der eigenen Haltungen und Absichten im Hinblick auf das »common good« zielt.35 Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass die ›Selbstreflexion‹ Adornos auch eine argumentative Selbstprüfung impliziert: den Weg von der Rationalisierung zur Rationalität. Umgekehrt ist die sokratische Überprüfung dessen, was wir für selbstverständlich halten, auch auf die kritische Betrachtung unserer eigenen Motive angewiesen. »Although logic will not get us to love one another, it may get us to stop pretending that we have rational arguments for our refusals of sympathy.«36 Auch wenn Adorno der Hochschätzung der formalen Logik durch Nussbaum und ihrer Ansicht, logisches Denken sei zentral für die Demokratie, gewiss so skeptisch gegenüber gestanden hätte wie einst Sokrates den Gewissheiten der athenischen Bürger und ihrer Führer37 – zwischen seinem Zentralbegriff der ›Selbstreflexion‹ und der sokratischen Pädagogik, für die Nussbaum plädiert, besteht nicht nur ein Ergänzungsverhältnis, sondern ein notwendiger Zusammenhang. Wenn der sokratischen Selbstprüfung im Sinne Martha Nussbaums die Aufgabe zugewiesen wird, gewohnte Denkweisen in Frage zu stellen und nach Alternativen zum Herkömmlichen zu suchen,38 so muss auch die Kritik der Denkformen des Marktes, die Adorno praktiziert, Teil einer solchen Infragestellung sein. Schließlich ist die Fähigkeit, in der öffentlichen Diskussion Fehlschlüsse zu erkennen und gegenüber dem öffentlichen Mainstream die Haltung kritischer Distanz zu wahren, nicht nur ein Ziel der sokratischen Pädagogik, für die Nussbaum plädiert, sondern auch ein wesentliches Merkmal dessen, was Adorno unter Mündigkeit versteht.

Wie die sokratische Pädagogik, muss auch die Förderung der Mitleidsfähigkeit sehr tief einsetzen, nämlich in der frühen Kindheit und der Interaktion zwischen Kind und ›caregiver‹. Dennoch sind auch in der späteren Erziehung Möglichkeiten zur Förderung jener Fähigkeit gegeben. Nussbaums Ausgangspunkt ist die Feststellung Rousseaus im Emile, dass es neben einem natürlichen Impuls des Widerwillens, andere leiden zu sehen, auch der Phantasie bedarf, um mitleidsfähig zu sein. Was aber könnte die Einbildungskraft besser fördern als die Literatur, sowohl in dramatischer als auch in epischer Form? »[C]olleges and universities […] must give a central role in the curriculum to the humanities and the arts, cultivating a participatory type of education that activates and refines the capacity to see the world through another person’s eyes.«39

Nussbaum knüpft an die Bestimmungen der Aristotelischen Poetik an und führt uns die großen Tragödien wie die Troerinnen des Euripides oder den Philoktet von Sophokles neben vielen Bespielen aus der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit vor Augen. Es ist kein Zufall, dass die Tragödie, die nach Aristoteles Furcht und Mitleid erregt, gerade in Athen gedieh, wo man stolz war auf die eigene Demokratie und ihr Gleichheitsgebot. Wie auch Rousseau erkannte, steckt im Mitleid ein Element der Egalität. Nussbaum schreibt: »In a compassionate response to the suffering of another, one comprehends that being prosperous or powerful does not remove one from the ranks of needy humanity. Such reminders […] are likely to lead to a more beneficent treatment of the weak.«40

Nun sind Sokratische Selbstprüfung und kritisches Argumentieren sowie das Sich-Hineinversetzen in andere, die wir bei der Produktion und Rezeption von literarischen Werken praktizieren, keine Erfindungen von vorgestern. Die Frage ist unvermeidlich, warum diese Fähigkeiten es durch die Geschichte von zweieinhalb Jahrtausenden nicht dazu gebracht haben, demokratische Verhältnisse zu fördern und den Rückfall in barbarische Verhaltensweisen, der sich bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder ereignet hat, zu verhindern. Nach Nussbaum haben wir anthropologische Faktoren in Rechnung zu stellen: »The sources of irrationality in human life are many and profound.«41 Obwohl sie die Wirksamkeit politischer und rechtlicher Institutionen erwähnt,42 bleiben ihre Überlegungen an dieser Stelle reichlich allgemein. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass auch Adorno, im Angesicht der faschistischen Gräuel, seine Konzeption des gesellschaftlichen Unheils sehr tief angelegt hat, nämlich in den Wurzeln von Kultur und Zivilisation überhaupt. Aber seine Konzeption, wie sie in der mit Horkheimer erarbeiteten Dialektik der Aufklärung begründet ist, bleibt eine sozialphilosophische und vor allem eine historisch reflektierte Konzeption, die um das Zentrum der Produktion des menschlichen Reichtums, d. h. um die sozialen Formen der Selbsterhaltung, gebildet ist. Während wir bei Nussbaum keinen Begriff von politischer Ökonomie und sozialer Herrschaft finden, hat Adorno entschieden auf die Grenzen der Erziehung hingewiesen. Diese Grenzen liegen vor allem in den ökonomischen Strukturen, in der Autorität der Verhältnisse, die den Gehorsam gegen ihre Repräsentanten einüben. Als vernünftig gilt »die möglichst vollständige Anpassung des Subjekts an die verdinglichte Autorität der Ökonomie«43. Folglich darf das Problem des Autoritarismus nicht beschränkt werden auf jene gewaltbereiten und hasserfüllten Charaktere, die das Produkt eines autoritären Erziehungsstils sind und die das Fußvolk der Verfolgung liefern.

 

Die Hauptursache des gesellschaftlichen Unheils liegt für Nussbaum in der psychologischen Situation des Kleinkinds, die eine anthropologische Konstante darstellt, bzw. in einer bestimmten Gestaltung dieser Situation. Nussbaum bezieht sich auf die Säuglingsforschung, auf Autoren wie Fairbairn, Winnicott und Daniel Stern, die Adorno nicht oder nur schwer kennen konnte. Feindseligkeit gegen bestimmte Gruppen (Fremde, Homosexuelle, Minderheiten, Behinderte oder sozial Deklassierte) verdankt sich, so die Analyse, einem Zusammenspiel von Narzissmus, Scham und Ekel. Die menschliche Situation ist zu Beginn charakterisiert durch eine einmalige Mischung von Hilflosigkeit, kognitiver Kompetenz und glückseliger Befriedigung. Das Kleinkind reagiert mit dem Wunsch, die Eltern in Sklaven seiner Bedürfnisse zu verwandeln. Der im Hinblick auf eine Erziehung für die Demokratie so gefährliche Ausgang dieses existentiellen, in der conditio humana gelegenen Konflikts ist Folge einer Beschämung, die das Eingeständnis eigener Schwäche verbietet. Damit sind wir beim ›Ideal der Härte‹, von dem Adorno gesprochen hat. Es geht eine Verbindung mit dem Gefühl des Ekels ein, welches nicht vor dem dritten Lebensjahr aufzutreten scheint, während der von Freud so bezeichneten analen Phase: »In disgust […] we reject as contaminating those things – feces, other bodily waste products, and the corpse – that are the evidence of our own animality and mortality, and thus for our helplessness in important matters.«44 Dieser Ekel lässt sich dann auf andere projizieren »as contaminating or defiling, turning them into an underclass.«45 Die pathische Projektion findet also auch bei Nussbaum die ihr gebührende Aufmerksamkeit, ohne dass sie freilich deren weltanschaulichen Charakter und seine aggressive Verfolgungssucht berücksichtigt.

Leider sind die Äußerungen Nussbaums zur Sozialpsychologie nicht ganz konsistent. Es erheben sich drei Einwände. Erstens fürchte ich, dass der Nachdruck, den Nussbaum auf die Beschämung legt, wichtige Aspekte der frühkindlichen Erziehung außer Acht lässt. Wo ist die Feindseligkeit, die das elterliche Verhalten hervorrufen kann oder muss, und die es womöglich selbst schon an den Tag legt? Der Mechanismus der Projektion negativer Eigenschaften auf out-groups muss ein Rätsel bleiben, wenn man nicht auf die Verdrängung von Feindseligkeit Bezug nehmen kann.

Der zweite Einwand lautet: Wenn Nussbaum sich mit der Psychologie der frühen Kindheit beschäftigt, rechnet sie durchaus mit dauerhaften Persönlichkeitsstrukturen.46 Aber im Hinblick auf die bekannten Experimente von Milgram und Zimbardo gelangt sie zu dem Ergebnis, dass »bad behavior is not just the result of a diseased individual upbringing or a diseased society. It is a possibility for apparently decent people, under certain circumstances.«47 Diese, wahrscheinlich auf Erich Fromm und die Autoritarismus-Studie von Adorno u. a. anspielende These wirft die Frage auf: Wie lässt sich der bemerkenswerte Anteil derer erklären, die sich in den Experimenten durch die Umstände nicht zum bad behavior haben verleiten lassen?48 Es gibt keine automatische Relation von Umständen und menschlichem Verhalten. Statt die Verführbarkeit der menschlichen Natur im Allgemeinen zu beklagen, wäre es notwendig, die in der Persönlichkeit verankerten Faktoren zu identifizieren, die das Nichtmitmachen ermöglichen und die Fähigkeit zum Nein-Sagen stärken.

Mein dritter Einwand lautet: Obwohl Nussbaum anmerkt, dass »particular social and political structures make a big difference to the outcome [der frühkindlichen Krisen, H.E.S.]«49, scheint sie doch in derselben Psychologismusfalle zu stecken, die schon Freud tiefere Einsichten verwehrt hat. Die Institutionen scheinen einen psychologischen Ursprung zu haben: »the narcissistic child’s original desire to turn parents into slaves finds fulfillment – by the creation of a social hierarchy.«50 Adorno hatte Freuds Anspruch, Soziologie sei nichts als angewandte Psychologie, als verfehlt zurückgewiesen.51 Die familiären Verhältnisse, in denen sich die psychologischen Antriebe ausbilden, prägen zweifellos die Art, in der auch die Erwachsenen fühlen und handeln, aber sie erklären nicht die gesellschaftlichen Kategorien wie Eigentum, Tausch und Produktionsverhältnis, Herrschaft oder Staat, die ihnen selbst vorausgesetzt sind. Pointiert gesagt: Wenn der Ekel die ekelerregenden Eigenschaften auf eine bestimmte Gruppe projiziert, so ist deren Existenz als niedere Klasse nicht das Ergebnis der Projektion, sondern deren Voraussetzung. Sklaverei und Kolonialherrschaft erzeugen Rassismus, nicht umgekehrt. Wenn Arbeiter auf den Partys der Aktionäre eine Seltenheit sind, so ist nicht die Exklusion das Problem, sondern dass es Arbeiter und Aktionäre gibt. Vorurteile gegen Sinti und Roma sind nicht die Ursache dafür, dass sie in vielen europäischen Ländern am Rand der Gesellschaft leben, sondern weil dem so ist, eignen sie sich als Objekt der Projektionen. Natürlich müssen wir auch mit der Macht der Tradition rechnen, die eine Minderheit, wie die Juden in Deutschland, zum Objekt des projektiven Verfolgungswahns designierte, obwohl sie weitgehend assimiliert war. Und natürlich haben wir auch mit der Macht des Konformismus und dem nackten Geschäftsinteresse zu rechnen.

Es ist ein empfindlicher Mangel in Nussbaums so instruktiven Erörterungen von Narzissmus, Scham und Ekel, dass sie ökonomische Kategorien wie Eigentum und Konkurrenz übergeht. Das ›Ideal der Härte‹ hat militärische Konnotationen, aber es ist sicher auch eines der Ökonomie. Um die ökonomischen Verhältnisse illusionslos in den Blick zu bekommen, bedarf es einer Distanzierung, die nur die Utopie, der Blick vom Nirgendwo aus, ermöglichen kann. Der Mangel analytischer Schärfe ist auch ein Mangel an Utopie. Im IX. Buch von Platons Politeia resümiert Glaukon, dass der Staat, den sie entworfen haben, auf Erden nirgendwo (oudamou) zu finden sei. Dennoch ist der Entwurf, wie Sokrates sagt, verbindlich. Offensichtlich ist dies die Stelle, auf die sich Morus bei seiner Wortschöpfung »Utopie« (Nichtort) bezieht. Als der fiktive Erzähler Raphael sich der Skepsis gegenüber sieht, ob das gesellschaftliche Unrecht, die Scheidung in Arm und Reich, sich je werde ändern lassen, leitet er zu seiner Erzählung mit den Worten über: »Es wundert mich nicht, dass du so denkst; du kannst dir ja kein Bild machen oder nur ein falsches.«52 Heute sind die Bilder verbraucht und Konstruktionen wie die Platons müssen sich der Kritik stellen, elitär zu sein und dem modernen Freiheitserfordernis der Utopie nicht gerecht zu werden. Tatsächlich scheint der »Verein freier Menschen«53 die beste Formulierung, durch welche die Utopie heute charakterisiert werden kann. Sie zieht zur Erläuterung weitere Begriffsbestimmungen herbei wie Gleichheit (als Abschaffung der Klassen), Würde und Selbstverwirklichung. Die so bezeichnete Utopie bedarf der historischen Konkretisierung in emanzipatorischer Praxis. Adorno war der Auffassung, dass eine solche Praxis bis auf weiteres nicht möglich sei. Umso wichtiger scheint es, sich der utopischen Hoffnungen der Vergangenheit zu versichern und zu sehen, dass Bildung, in einem sehr umfassenden Sinn, nicht nur ein integraler Bestandteil der Utopie ist, sondern auch von sich aus eine utopische Dimension enthält.

Thomas Jung

»… über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen« 1

Konstellationsbildung durch Begriffstranszendenz?

Sprachphilosophische Überlegungen zu einem Motiv

Theodor W. Adornos

»Jeder Begriff besitzt Komponenten und definiert sich durch sie […]. Er ist eine Mannigfaltigkeit, wenngleich nicht jede Mannigfaltigkeit begrifflich ist.«

Gilles Deleuze und Félix Guattari

1. Updating: Theodor W. Adorno

Bis zum Modischen sind die Schriften Adornos zwischen den 1960er und 1980er Jahren aktuell gewesen. In der Erinnerung an seine philosophischen Texte wird aber klar, was vergangen, was heute kaum mehr als philosophische Diktion salonfähig ist: die immense Verführungskraft der adornitischen Sprache, ihre unnachahmliche Expressivität im Ausdruck sowie die Konstruktion kontrapunktischer Satzgebilde, in denen negativdialektisches Denken zur Darstellung kommt. Was den Expressionismus des Stils betrifft, kann nur noch Nietzsches Zarathustra mithalten. An die Ausdruckskraft Adornos reicht die heutige Philosophensprache nicht mehr heran; Anschlussfähigkeit an standardisierte Diskurse ist der intellektuelle Leitwert geworden. In den gegenwärtigen Philosophiedebatten haben die Schriften Adornos nur noch marginale Präsenz, allenfalls werden sie als Rückblicke auf eine Kritiktradition behandelt, die mit dem Namen ›Kritische Theorie‹ verbunden ist und ihre generationsspezifische Resonanz hatte. Die Marginalität hat auch damit zu tun, dass eine radikale, eminent gesellschaftsbezogene Kritik nur noch mit spitzen Fingern berührt wird. Kritik, die geschichtliche und gesellschaftskonstitutive Inhalte im Spiegel einer Zerfallslogik thematisiert, ist nicht mehr en vogue. Sie wäre anrüchig, geradezu konsensstörend – weil eben zu intransigent im Denken. Radikale Kritik im Denkgestus Adornos findet in der Konjunktur des Anerkennungsdenkens, die Kritik versöhnlich hält, keinen Platz mehr. Diese Kritik ist weit von dem entfernt, was die Schriften Adornos leitmotivisch ausmachte: der unversöhnliche Anspruch auf ›rettende Kritik‹2.

Rekurriert man auf den ›frame of reference‹ der gegenwärtigen Philosophiediskurse, so muss festgestellt werden, dass die Philosophie Adornos »unterdessen [von] einer Furie des Verschwindens«3 heimgesucht worden ist. Abgelöst wurde sie durch unterschiedliche Konzepte, die sich heute als philosophischer Mainstream darstellen. Diese Konzepte sind im Einzelnen:

Zum Ersten die sprachtheoretische Wende, der linguistic turn in der Philosophie, der die alte Subjekt-Objekt-Relation als epistemologische Grundlage der Welterfahrung aufgekündigt hat, um nunmehr die Sprache, ihre Weltdarstellungsfunktion als letztbegründende Bedingung für Welterkenntnis vorauszusetzen. Adorno hat die sprachtheoretische Wende, diesen epistemologischen Wechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie, nicht mitvollzogen. Gleichwohl hat er sich gegen jeden nachidealistischen Vorrang einer erkenntniskonstitutiven Subjektivität starkgemacht, weil sie »vom Einheitsprinzip und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs«4 ausgeht. Er ist niemals einem Sprachdenken gefolgt, das einer freien, der Autonomie und Spontaneität des Subjekts folgenden signifizierenden Zuordnung von Sprachzeichen zu ihren realen Sachverhalten das Wort geredet hat. Was er als eine Form der philosophischen Sprache entworfen hat, ist vielmehr eine nichtrepräsentative, auf sprachlich erzeugte Konfigurationen zielende Ausdruckssprache, die man als eine kritisch-sprachproduktive Neuanordnung philosophischer Termini bezeichnen kann, um deren tradierte »trügende Ontologie«5 zu entlarven.

Zum Zweiten der Radikale Konstruktivismus, der alle Welterfahrung als konstruktive Leistung aus einer vorausgesetzten Beobachterperspektive begründet. Erkenntnisse sind danach nichts anderes als wahrnehmungszentrierte Konstruktionen eines Welttatsachen erst konstruierenden Beobachters. Dass diesen konstruktiven Leistungen begriffliche Operationen zugrundeliegen, die nicht aus der konstruktiven Schöpfung des Beobachters resultieren, sondern ihrerseits ein begriffsgeschichtliches Sediment besitzen, wäre für Adorno sicherlich der begriffskritische Einwand gewesen.

 

Zum Dritten der Dekonstruktivismus, der sich im Sinne Derridas als ›penser autrement‹ versteht, um etablierte, das heißt bereits kanonisierte Philosopheme der Philosophie aus den Angeln zu heben. Dort geht es gewissermaßen um eine Neuschöpfung auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte, die nicht bei deren verschwiegener Intertextualität ansetzt, sondern die Identität philosophischer Begriffe destruierend entgrenzt. In der Zerstörung der fraglosen Identität überkommener philosophischer Termini liegt die bis heute nicht ausgelotete Übereinstimmung des Dekonstruktivismus mit der Begriffskritik Adornos.6

Zum Vierten der Neonaturalismus, der – John Searle zufolge – Bewusstseinsphänomene auf neuronale Verursachungen zurückführt; also »den biologischen Charakter mentaler Zustände betont«7. Das Substrat lebensweltlicher Erfahrungen philosophisch so zu erklären ist jenseits dessen, was Adorno als »den Primat inhaltlichen Denkens« einforderte, um so zu konkretem Philosophieren »bündig zu gelangen«8. Adorno hätte vermutlich gegen diese neue Geistphilosophie eingewandt, was er dem Empirismus ins Stammbuch geschrieben hat: »ein konsequenzloser Zusammenhang bloßer Dies-da-Bestimmungen«, der »keinerlei kritisches Maß mehr hergibt«9. Und mit Blick auf das, was philosophisches Denken über ein reduktionistisches Erklären hinaus sein will, sagt er: »Die Denkformen wollen weiter als das, was bloß vorhanden, ›gegeben ist‹«10. Die philosophische Reflexion inhaltlicher Welterfahrung ist nicht das Spiegelbild, das die neuronale Matrix als Abbild auf den ›Monitor‹ des Geistes wirft; sie ist eine gedanklich-figurative Übersetzung von Welterfahrungen im Darstellungsmedium philosophischer Sprache – mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Aufs Ganze gesehen kann man folgern, dass Adorno »zum Kronzeugen dieser neuesten Paradigmenwechsel kaum […] geeignet«11 ist. Ausgehend von der Nicht-mehr-Aktualität der Schriften Adornos muss die Frage beantwortet werden: Warum noch Adorno lesen, speziell seinen philosophischen Schlüsseltext, die Negative Dialektik? Eine erste Antwort kann nur lauten: weil sie, die Negative Dialektik, »den scheinbar fest gefügten ›frame of reference‹ philosophischer Debatten [immer noch, T. J.] in Frage zu stellen«12 vermag; weil die gedankliche Subversivität dieses Werkes unweigerlich »eine kritische Denkbewegung« inauguriert, »die eingespielte Begriffsverwendungen untergräbt«13; und weil sie – gegen den gegenwärtigen Mainstream, Adornos Denkens zu vergessen – zu den philosophischen Klassikern des 20. Jahrhunderts zählt. Ein philosophischer Klassiker zu sein stellt keine posthume Nobilitierung des Autors dar. Klassisch ist dann ein Werk, wenn es zum »Wiederlesen« auffordert, wenn es »die Macht hat, einen Samen [des Nachdenkens] zu hinterlassen« und schließlich, wenn es sich derart »als unvergesslich behaupten« kann, sodass es »unablässig eine Staubwolke kritischer Reden über sich selbst hervorruft«14. Die bis heute ungebrochene Rezeptionsgeschichte der Negativen Dialektik beweist, dass dieses Werk zweifelsfrei ein philosophischer Klassiker ist.

Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf eine Kernfrage, die sich auf einen Leitgedanken der Negativen Dialektik bezieht: Wie kann konstellatives Denken sprachtheoretisch, genauer begriffstheoretisch, begründet werden? Konkreter gefragt: Wie ist der rätselhafte Satz in der Negativen Dialektik: »An ihr ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszulangen«, aufzulösen? Zielt diese Formulierung nur auf ein methodologisches Verfahrensmodell? Oder ist sein kryptisch wie paradox klingender Satz vielleicht dadurch aufzuhellen, dass man sich auf eine andere, ebenso rätselhafte Formulierung Adornos stützt, die da lautet: »Sprache als Organon des Denkens wäre der Versuch, das rhetorische Moment kritisch zu retten«15? Es geht darum, diese zwei Stellen aus der Negativen Dialektik systematisch so aufeinander zu beziehen, dass sie das Begriffslose, das Adorno als das Nichtidentische gekennzeichnet hat, begreifbar machen. Positiv gefragt: Ist das semantische »Mehr«16, das nicht in prädikativen Urteilssätzen aufgeht, vielleicht nur in Form semantischer Konfigurationsbildungen, ergo durch rhetorische Begriffsfigurationen einholbar?

Der Weg zur Beantwortung dieser Frage wird folgender sein: Zunächst soll ein Kerngedanke, ein Grundmotiv der Negativen Dialektik dargestellt werden, damit die Grundidee der Begriffskritik Adornos deutlich wird. Um den philosophiegeschichtlichen Hintergrund der Argumentationsstruktur Adornos zu verdeutlichen, werden die philosophischen Referenzen benannt, von denen sich die Negative Dialektik kritisch abstößt, indem sie diese verarbeitet. Diese sollen nur umrissen, angezeigt bzw. skizziert werden, um die bezeichnete Kernfrage angehen zu können. Diese wird in drei Argumentationsschritten aufgelöst: Erstens sollen die Lesarten des Begriffs ›Nichtidentisches‹ bzw. ›Begriffsloses‹ rekonstruiert und befragt werden, zweitens soll der Terminus ›Nichtidentisches‹ im Hinblick auf die Kategorie Sprachtranszendenz bezogen werden, und drittens soll einer der zentralen Begriffe der Negativen Dialektik, die Konstellationsbildung, als ein begriffstranszendierendes Verfahren auf der Basis rhetorischer Kategorien ausgelegt werden. Diese rhetorischen Kategorien sind solche des figuralen und nicht des persuasiven Sinngehalts. Das Verfahren selbst stützt sich auf den Terminus Begriffstranszendenz, der vom Begriff der Sprachtranszendenz abgehoben wird. Mit dieser Auslegung bzw. Interpretation einer Schlüsselkategorie Adornos wird abgesehen von Rezeptionsweisen, die die Negative Dialektik bisher traktiert haben: etwa die gesellschaftskritischen, die erkenntniskritischen, die messianischen, die praxisorientierten und letztlich die philosophiegeschichtlichen Lesarten. Der Impuls, sich nochmals des Konstellationsbegriffs anzunehmen, diesen im Lichte einer sprach- wie begriffskritischen Argumentation zu interpretieren, vermutet etwas Ungedachtes im Werk der Negativen Dialektik. Für dieses Ungedachte gilt die Anweisung Heideggers: »Je größer das Denkwerk eines Denkers ist, das sich keineswegs mit dem Umfang und der Anzahl seiner Schriften deckt, um so reicher ist das in diesem Denkwerk Ungedachte«17. Diese Unabgeschlossenheit, diese potenziell unbegrenzte Deutbarkeit liegt im Werk Adornos vor; sie ist es auch, die eine Reaktualisierung der Negativen Dialektik immer wieder antreibt.

2. Die Grundidee der Begriffskritik

Aufs Ganze gesehen ist die Negative Dialektik ein Schwarzbuch des tradierten philosophischen Denkens – weil sie dessen Zwang zum System aufkündigt, aber auch, weil sie dem katastrophalen Ereignis des 20. Jahrhunderts philosophisch Rechnung trägt. Wie? Indem sie der Willkür des begrifflichen Identifizierens, dem Identifikationszwang im Denken das widerständige Motiv des Nichtidentischen entgegensetzt. Entgegen jeder philosophischen Ontologisierung des Seienden insistiert sie auf der Singularität des Seienden, bevor es im identifizierenden Begriff seine Eigenart, seine Individualität verliert. Epistemologisch gesehen ist die Negative Dialektik eine radikale Erkenntniskritik: Sie will die begriffliche Subsumtion des Einzelnen, seine Singularität unter ein Erkenntnisschema, aufgehoben wissen. Mit anderen Worten: »Adorno will zeigen, daß Erkenntnis, die diesen Namen verdient, mehr ist als nur regelgeleitete Unterordnung von Sinnen- und Gedankenmaterial unter die logische Systematik«18. Im argumentativen Zentrum dieser radikalen Erkenntniskritik steht zwar eine Kritik des identifizierenden Denkens, aber die eigentliche Stoßrichtung seiner Kritik geht auf das Begriffsdenken, das den konstitutionellen Schein einer Identität von Denken und Inhalten aufrecht erhält. In nuce ist deshalb die Negative Dialektik eine ›philosophische Begriffskritik‹, um die problemlose Abschattung von qualitativen, das heißt sinnlichen Erfahrungsmomenten durch den identifizierenden Begriff kenntlich zu machen. Adornos Einforderung der konkret faktischen Erfahrung, ihrer sinnlichen Qualitäten setzt aber nicht etwa bei einer phänomenalen Konkretion an, so als wäre dies der Königsweg einer ungeschmälerten Erkenntnisweise. Das Credo seiner Begriffskritik lautet deshalb: »Beim Begriff anzuheben, nicht bei der bloßen Gegebenheit«19. Gerade das argumentative Ausspielen des Nichtbegrifflichen gegen das Begriffliche ist – neben anderen Motiven der radikalen Kritik – eine zentrale Idee der Negativen Dialektik, denn »philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff«20.

Mit dieser Grundidee korrespondiert eine alternative Denkform, die Adorno dem philosophischen Denken gewissermaßen als ein Therapeutikum vorschlägt: das Denken in begrifflichen Kohärenzen, in konstellativen Begriffsanordnungen, die, so die Vorstellung Adornos, »um die zu erkennende Sache sich versammeln«, damit es der eigentlichen »Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken«21, endlich zum Ausdruck verhilft. Einher geht damit, dass sich der Begriff der Philosophie sachlich ändern muss. Konkret heißt dies: Die Philosophie soll nicht mehr idealistisch oder materialistisch, schon gar nicht seinsontologisch sein; sie soll gegen den Strom des philosophischen Mainstreams eine Philosophie der Nichtidentität im Namen eines bisher unterdrückten Rechts des Begriffslosen, des im Erkenntnisprozess als subaltern Abgewiesenen sein: »Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen«22. In dieser veränderten Philosophie ist die exakte Darstellung philosophischer Erfahrung an eine Ausdruckskompetenz gebunden, die das Unbegriffliche, das Inkommensurable, sprachlich zu verobjektivieren versucht – mithin eine sprachästhetische Produktionsweise, deren Analogon in der Kunstproduktion angelegt ist.