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Was treibt uns heute an?

Durch die Erkenntnisse von Valentina Flores konnte ich Veränderungen, durch die Generationen vor uns gegangen sind, schildern. Du wirst auch an dir selbst festgestellt haben, dass deine Ansprüche an das Leben maßgeblich von deinem Umfeld und vor allem deiner Familie geprägt werden.

Wie du bald erfahren wirst, habe ich eng mit meinem Vater zusammengearbeitet. Ich wurde also stark von ihm geprägt, er wiederum von seinem Vater. Es sind also die Prägungen, die wir mit bestimmten Zielen in unserem Leben verbinden. Es wirken also noch immer Vor- und Einstellungen voriger Generationen auf uns ein. Kaum etwas hat sich so maßgeblich geändert wie unser Verhältnis zur Arbeit, und das erkennt man schon ganz einfach in alltäglichen Gesprächen mit älteren oder jüngeren Generationen. In der Industrialisierung wurden Arbeitsprozesse zerlegt, und es mussten Personen gefunden werden, die diesen Teilprozess so schnell wie möglich machen konnten. Menschen wurden somit zu Prozess-Reproduzierenden und sind es bis heute geblieben. Auch die Kontrollprozesse im scheinbaren Management verfahren nach derselben Reproduktion von Prozessen, aber in diesem Fall mittels Zahlen. Die Arbeit wurde somit jeglicher Spiritualität und Kreativität beraubt. Ist das wirklich erstrebenswert? Sicherlich nicht. Die Wissenschaften, vor allem die Sozialwissenschaften, widmen sich der Beantwortung dieser Fragen.

Könnte ich dich für eine Skitour begeistern, wenn ich die Tour in kleinstmögliche Prozesse zerlege und hinter jeden Prozess mehrere Zielwerte lege? Das würde dann so klingen: „Die vierhundertsiebzig Meter gehen wir mit mäßiger Schrittgeschwindigkeit von 5,6 km/​h. Das sind in Summe 1150 Schritte. Für jeden Schritt hast du 2,2 Sekunden. Nach dem ersten Abschnitt habe ich eine Trinkpause von 30 Sekunden eingeplant, da kannst du dann 250 ml Wasser zu dir nehmen. Für diesen ersten Abschnitt dürfen wir nicht mehr als 7 Minuten und 45 Sekunden brauchen. Für jede unterschrittene Sekunde bekommst du 0,25 Sekunden mehr Pause. Wir wollen schließlich so rasch wie möglich am Gipfel ankommen!“ Viel Spaß, kann ich da nur sarkastisch sagen.

Wir müssen noch viel lernen, aber wir werden noch ein bisschen brauchen, um uns von alten Mustern zu lösen. Was treibt uns an? Warum gehen wir auf einen Gipfel? Doch nicht, um dafür immer weniger Zeit zu brauchen. Das Erreichen von Zielen bewirkt in uns etwas. Schlicht und einfach ist es das Gefühl des Glücks, das wir anstreben. Das Wort „Glück“ darf ja heute nicht mehr überall verwendet werden. Es wird allzu oft mit Begriffen wie Weichheit, Gefühl und daraus resultierender Emotion verbunden, die in unserem „straight forward“ ausgerichteten Leben keinen Platz haben, ja sogar Angriffsfläche bieten könnten. Ein Mensch, der seinen Erfolg damit erklärt, dass er Glück hatte, wird meist nicht ernst genommen. Ergänzend dazu: Wann hast du das letzte Mal einen Menschen getroffen, der von sich behauptet, dass er „glücklich“ ist? Wir bezeichnen uns zwar als ergebnisorientiert, erfolgreich, zielstrebig und stolz, am Ende einer gelungenen Sache steht jedoch immer der Zustand des Glücklichseins.

Glück ist …

Im alten Griechenland gab es einen Begriff, den wir in unserem Sprachgebrauch so nicht kennen: Eudämonie. Er bezeichnet das Gelingen und Gedeihen der Lebensführung und gilt als höchstes Gut und Endziel des menschlichen Daseins. In unsere heutige Zeit übersetzt könnten wir ihn als „Glückseligkeit“ und „Lebensziel“ bezeichnen.

Es sind insgesamt vier Bereiche, in denen wir Glück und Zufriedenheit erfahren können. Einige Menschen stecken viel zu viel Energie in die Erfüllung der materiellen Aspekte. Mit diesen verhält es sich höchst eigenartig: Hat man einmal eine gewisse Basis erreicht, macht Geld nicht mehr glücklich. Aristoteles Onassis meinte einmal: „After a certain point, money is meaningless. It ceases to be the goal. The game is what counts.“ Es ist vielmehr so, dass „kein Geld“ zu haben unglücklich macht. Hat man sein Auskommen aber gefunden, dann macht es Spaß, Dinge zu besitzen, sein Eigentum nennen zu können – aber es wird nicht mehr als alleiniges Ziel angesehen. Der Besitz einer Ferienwohnung, ein Zweitwagen und sich vielleicht neben dem Sport ein zweites Hobby leisten zu können sind keine Indikatoren für Glückssteigerung. Und so setzt sich das fort bis in obersten Einkommensschichten, wo die zweite Ferienvilla, der dritte Sportwagen und das Bild von Picasso gekauft werden, um sich am Besitz zu erfreuen. Das erzeugt bei einer großen Mehrheit ein angenehmes wohliges Gefühl. Doch hier ist höchste Vorsicht angebracht. Warum? Unser Wirtschaftssystem und die Maschinerie von Werbung und Marketing ist darauf ausgerichtet, uns zu vermitteln, dass wir Glück über Status und Besitz definieren.

Männern wird beispielsweise vermittelt: „Wenn du einen Porsche besitzt, eine Rolex am Handgelenk hast, einen Anzug von Hugo Boss trägst und die Sonnenbrille von Ray-Ban deinen Blick schärft, bist du ein cooler Kerl und die Frauen werden sich alle nach dir umdrehen“. Und schon kauft „Mann“ mit den genannten Produkten das damit versprochene Lebensgefühl. Überspitzt ausgedrückt kann das bittere Ergebnis dieses Lifestyles aber auch Folgendes sein: Die Frauen werden sich nicht umdrehen, weil in dem Porsche ein in die Jahre gekommener, übergewichtiger Mann sitzt, dem man den beruflichen Stress so richtig ansieht und der eigentlich gar keine Zeit hat, mit dem Porsche herumzufahren. Man könnte fast so weit gehen, zu behaupten, das Auto suggeriere dem Mann, die Probleme zu lösen, die er ohne das Auto nie gehabt hätte. Die Ursache: Wir leben in einer stark materialistisch geprägten Welt. Status und Wohlstand werden in erster Linie über materielle Dinge manifestiert. Mit Eudämonie hat das natürlich sehr wenig zu tun, aber konsumfördernd ist es allemal.

Kaufentscheidungen sollten also weder dein innerer Antrieb für deine Lebensart, noch der Grund für deine professionelle Betätigung sein. Deine Kaufentscheidungen bleiben natürlich dir überlassen, aber mein Rat an dich ist, das Bewusstsein oder besser gesagt dein Unterbewusstsein mehr in diese Entscheidungen hineinzulassen: Warum brauche, gönne ich mir das jetzt? Das soll dich keineswegs im Konsum einschränken – unsere Wirtschaft braucht Konsum. Du sollst nur vor persönlichen Enttäuschungen bewahrt werden. Vor allem aber empfehle ich dir, dein Glück nicht davon abhängig zu machen. Genauso verhält es sich im Arbeitsleben: Entscheidungen dürfen sich keinesfalls ausschließlich am Profit orientieren.

Materialismus

Da du nun schon gemerkt haben wirst, dass ich dieses Buch sehr persönlich aufbaue, möchte ich dir das Lifestyle-Bild eines Mannes Ende der Vierziger – am eigenen Leib erlebt und gefühlt – vermitteln. Er ist beruflich sehr erfolgreich, arbeitet viel und bringt viel Geld nach Hause. Er hat eine „mächtige“ Position, ist Pionier und Vorreiter in seiner Branche und definiert sich über die Anzahl seiner Mitarbeiter, den Umsatz seines Bereichs, letztlich das Maß seiner Verantwortung. Ein wenig stolz macht ihn die Beherrschung unlauterer Techniken des Ellenbogengerangels und der Unaufrichtigkeit, wenn es um Karriere und Weiterkommen geht. Sein Körper ist durchtrainiert und strotzt vor Ausdauer, die jährliche Teilnahme an mindestens einem Marathon in einer Laufzeit von unter vier Stunden ist selbstverständlich. Im Frühjahr geht es per Skitour in die Hochalpen, im Herbst mit dem Mountainbike ins Alpenvorland. Gleich nach dem Marathon im Frühjahr beginnt die Golfsaison, ein niedriges Handicap gehört genauso dazu wie die Tiefschneetechnik, die Ausdauer beim Laufen und die Geschicklichkeit beim Mountainbiken. Hinzu kommt noch, dass einzelne Muskelpartien auf Empfehlung des Personaltrainers regelmäßig trainiert werden müssen, sonst ist es nichts mit dem gestählten Body in der Badehose.

Die Familie: Der Mann steht mitten im Leben. Er hat immer Zeit für seine Kinder im Teenageralter, macht mit ihnen Sport, spielt mit ihnen Spiele, er lernt mit ihnen, chillt mit ihnen und ist genauso wie sie rund um die Uhr auf WhatsApp. Er lässt keine Vorführung in der Schule oder im Sportverein aus, feuert seine Kinder an und engagiert sich im Elternverein. Seine Frau trägt er auf Händen. Arbeiten im Haushalt werden aufgeteilt. Die Pflege des Gartens und des Pools gehören zu seinen Aufgaben. Am Wochenende ist er der perfekte „Handyman“, wenn es um kleine Reparaturen und Erneuerungen in Haus und Garten geht.

Natürlich liest er viel – jeden Tag mehrere Tageszeitungen, Wochenmagazine und viele Bücher. Er bringt sich aktiv in jede Diskussion ein, hat zu jedem Thema eine Meinung, die er durch Sachargumente und wissenschaftliche Thesen unterstützen kann. Zum Ausgleich und um seiner Kreativität Ausdruck zu verleihen malt, musiziert oder schreibt er.

Für seine Freunde ist er immer da. Sie gehen gemeinsam auf Sportreisen, engagieren sich in Vereinen und Clubs und das eine oder andere Mal wird einer „draufgemacht“. Wenn er auf der Partymeile unterwegs ist, ist er der Schwarm aller bis zu zwanzig Jahre jüngeren Damen. Er unterhält und fasziniert sie, bleibt aber immer sauber, denn „gegessen wird zu Hause“. Der moderne Mann ist aber auch ein kulturell anspruchsvoller und gebildeter Mensch – er geht in die Oper, ins Theater, zu Konzerten und veranstaltet zu Hause Salonabende mit spannenden Diskussionsteilnehmern.

Last but not least wäre da noch seine altruistische Ausprägung. Er beteiligt sich an Fundraising-Aktionen für soziale Projekte, stellt seine spärliche Zeit zur Verfügung, um Menschen, die auf die schiefe Bahn geraten sind, zu helfen, wieder Orientierung zu finden, und ist Förderer vieler Charity-Aktionen und natürlich gern gesehener Gast bei den daraus folgenden Events.

 

Beeindruckend – nicht wahr? Weit haben wir es gebracht in unserer Evolution. Wenn du Lust hast, lies die Passage nochmals durch und mach ein Häkchen bei den Dingen, die man von dir erwartet. Machen wir das alles wirklich für uns selbst? Ich glaube, dass ich die Frage mit Nein beantworten kann. Vieles davon macht Freude, aber wenn ich es mir aufhalse, wird jeder Bereich zu einem erschwerenden To-do, und das nicht nur in den beruflichen Dingen. Wir machen uns diesen Druck also vielmehr, um Götzenbildern zu entsprechen, nämlich dem konsumorientierten Multitalent. Auf Fotos und in Filmen sind es immer diese Männer, die entspannt und ausgeglichen lächeln – alles nur Schein. Der Tag müsste mindestens 48 Stunden haben, um diesem Muster auch nur halbwegs entsprechen zu können. Und nochmals die rhetorische Frage: Für wen machen wir das? Albert Schweitzer hat einmal gesagt, dass wir uns in der Entwicklung vom Affen zum Menschen befänden. Der Affe hat wohl ganz glücklich gelebt, er hat seine Triebe im ausreichenden Maß befriedigt und ein unspektakuläres Dasein gefristet. Heute ist auch der Konsum etwas Triebhaftes. Auf der Stufe vom Affen zum Menschen sind wohl einige Dinge in der Orientierung zu ändern. Dies war ein kleiner Exkurs in Sachen Materialismus, der unsere Gesellschaft heute in so großem Ausmaß prägt. Eines von vier Motiven, die unser Leben prägen und bereichern. Was sind denn nun aber die drei weiteren Motive?

Sozial-karitative Tätigkeit

Da wäre zunächst einmal die sozial-karitative Tätigkeit. Es befriedigt ungemein, anderen Gutes zu tun. Das heißt, man darf auch in der Solidarität egoistisch sein. Daher stammt auch zu einem guten Teil das Engagement in sozialen Einrichtungen, bei der Feuerwehr, in der Kirche, bei der Caritas, in Serviceclubs wie „Rotary“ und „Lions“ und in Vereinen. Wir erfahren dort sehr viel Daseinsberechtigung. Gerade Österreich ist ein Land, in dem karitatives Engagement weit verbreitet ist. Wir haben eine fast flächendeckende „Freiwillige Feuerwehr“, einen hohen Einsatz und Unterstützung im Katastrophenfall und stehen in Europa an den vordersten Plätzen, wenn es ums Geldspenden geht. Aktionen wie „Licht ins Dunkel“ sind zutiefst beeindruckend. Oft lässt sich auch bemerken, dass bei sinkender Begeisterung im Job nach karitativem Ausgleich gesucht wird, um wenigstens dort „gebraucht zu werden“.

Sozialisierung

Das dritte und vierte Motiv machen uns in einem unglaublichen Ausmaß aus. Sie bestimmen unser Leben, entscheiden über Glückseligkeit und Erreichung des Lebensziels. Zunächst ist da einmal unser großer Drang nach Sozialisierung. Der Mensch ist ein soziales Wesen, der seit der Höhle in Gruppen und Gemeinschaft lebt und der Austausch mit Menschen braucht und sucht. Sein Dasein wird in weitem Maß über die Interaktion mit Mitmenschen artikuliert. Wir wollen und brauchen andere Menschen um uns. Wir wollen mit ihnen sprechen, wir wollen sie aber auch fühlen, ihnen intensiv begegnen, sie erfahren. Hier bekommen wir Feedback und Anerkennung. In der Sozialwissenschaft gibt es den Begriff der „kontinuumbasierten Entwicklung“. Das Kontinuum ist die Summe der Verhaltensweisen, Instinkte und Gefühle, die wir aus der Steinzeit mitgenommen haben und die fest in unsere „menschliche Festplatte“ eingebrannt sind. Die stärkste Prägung erfolgt in den ersten Lebensjahren, besser: in der gemeinschaftlichen Umgebung der ersten Lebensjahre. Wie weit das gehen kann, zeigen die Untersuchungen der US-Autorin und Psychotherapeutin Jean Liedloff. Sie verbrachte mehrere Monate beim Amazonasvolk der Yequana in Venezuela und hat vollkommen abgeschnitten von unserer Kultur gelebt. Ihre Erfahrungen schildert sie in ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“3. Neugeborene werden bei den Yequana ein Jahr lang ständig am Arm oder am Körper der Mutter getragen und nach Bedarf gestillt. Die Kinder schlafen so lange im Bett ihrer Eltern, bis sie von selbst ausziehen, was zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr der Fall ist. Körperkontakt spielt eine wesentliche Rolle. Erziehung bei den Yequana kommt ohne Tadel und Ermahnung aus. Das Volk ist ungewöhnlich freundlich, friedlich und selbstbewusst. Es ist sehr beeindruckend, wie es im Zusammenleben von Gemeinschaften auch anders gehen kann.

Fast paradox muten Beispiele an, bei denen Kinder offensichtlich von Tieren aufgezogen wurden, was dazu führte, dass sie deren Instinkte und Eigenschaften teilweise annahmen. Die sogenannten „Wolfskinder“ Kamala und Amala wurden in den 1920er-Jahren in Indien in der Höhle einer aggressiven Wölfin gefunden. Sie wurden aus dem Wolfsrudel gerissen und kamen in ein Waisenhaus. Die Neun- beziehungsweise Zweijährige zeigten typische Verhaltensweisen von Wolfskindern: Sie bissen, ließen sich nicht anziehen, lehnten gekochte Nahrung ab und gingen auf allen Vieren. Sie waren so stark von ihrem Umfeld geprägt worden, dass sie rohes Fleisch aus einer Entfernung von sechzig Metern riechen und in der Dunkelheit sehen konnten. In der menschlichen Umgebung überlebten sie nicht. Die Jüngere starb schon nach einem Jahr, die Ältere nach neun Jahren, nachdem sie einige Worte zu sprechen und halbwegs aufrecht zu gehen gelernt hatte. Diese extremen Beispiele sollen unterstreichen, wie stark uns Gemeinschaft prägt.

Somit ist nicht nur unsere familiäre Prägung und die Auseinandersetzung damit wichtig, sondern auch die Etablierung eines wohltuenden Freundeskreises und eines kollegialen beruflichen Umfelds, die eben auch über unser Glücksgefühl mitbestimmen. In Unternehmen versuchen wir alles, um die Kommunikation zu fördern. Aber warum tun wir das? Um das Wohlbefinden der Menschen zu steigern. Es geht darum, ein angenehmes Gefühl der Bestätigung zu generieren und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Möglichkeit zu geben, sich zu artikulieren und sich untereinander auszutauschen, Gemeinschaft zu leben und zu praktizieren. Es geht um menschliche Freiheit im Miteinander-Tun. Wir brauchen das! Die Wissenschaft weiß heute, dass Gemeinschaft ein wesentlicher Baustein zum Glück ist.

Selbstverwirklichung

Kommen wir jetzt zum höchsten Motiv, der Selbstverwirklichung. Wir wollen in unserem Tun und Handeln einen Sinn verwirklicht sehen. Jeder Mensch zieht ein unglaubliches Maß an Kraft aus dem Ziel, etwas Neues, etwas Besseres zu schaffen, das Aussterben von etwas Gutem zu verhindern oder etwas Schlechtes zu zerstören. In dieser Selbstverwirklichung liegt die größte Kraft. Sie steht gepaart mit Anerkennung auf der höchsten Stufe der Maslow’schen Bedürfnispyramide. Gerald Hüther stellt in seinem Buch „Was wir sind und was wir sein könnten“4 einen Vergleich mit dem Rattenfänger von Hameln an: Die deutsche Stadt Hameln litt der Legende nach am Ende des 13. Jahrhunderts unter einer Ratten- und Mäuseplage und beauftragte einen Mann, die Stadt von der Plage zu befreien. Mit seiner Flöte verzauberte der Rattenfänger die Tiere und lockte sie aus der Stadt in den nahe gelegenen Fluss, in dem sie alle ertranken. Als man ihm nicht den vereinbarten Lohn zahlen wollte, kam er in die Stadt zurück und spielte wieder auf seiner Flöte. In der Stadt lebten viele Kinder, die ihm begeistert zuhörten. Diese Kinder waren auf der Suche, hatten eine unbefriedigte Sehnsucht, und so folgten sie ihm aus der Stadt hinaus und wurden nie wieder gesehen. Die Geschichtsforschung spricht von „einem Versprechen, die Welt durch einen Kreuzzug der Kinder zu erlösen“. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie einer Hoffnung, einem Versprechen gefolgt sind, das ihnen die Stadt Hameln nicht geben konnte. Vielleicht lag dieses Versprechen in herausfordernden Aufgabenstellungen, die eine Zukunftsperspektive eröffneten, vielleicht lag es aber auch in Freundschaft und Gemeinschaft oder in einer willkommenen Gesinnung, die ihre Werte widerspiegelte. Gerald Hüther erklärt das Rattenfänger-Phänomen aus der modernen Hirnforschung und Psychologie. Menschen lassen sich von nichts mehr begeistern, als von der Gelegenheit, glücklich sein zu können. Die Wurzeln dieses Glücks liegen in dem Grundbedürfnis nach Wachstum, Autonomie und Freiheit und in dem Bestreben nach Beziehung und Achtung in der Gemeinschaft. Wenn diese beiden Faktoren erfüllt sind, gibt es kein Kind, keinen Menschen, der sich von einem Rattenfänger verführen lässt.

Also merken wir uns diese vier Motive:

 Materialismus

 sozial-karitative Tätigkeit

 Sozialisierung

 Selbstverwirklichung und Anerkennung

Die vier Motive und meine ersten Skitouren

Was ist also in diesem Kontext nun die Motivation für meine Skitouren? Die damit verbundene Anstrengung war für mich über viele Jahre unüberwindbar und undenkbar. Am wichtigsten war es mir, schnell über die Pisten zu ziehen, an geeigneter Stelle einen Sprung einzubauen und da und dort ein paar Schwünge im Gelände zu machen, wenn es sich denn leicht erreichen ließ. Ich bin also zuerst die blauen, das sind die einfachsten, dann die roten und schließlich die schwarzen Pisten gefahren. Ich habe mit meinen Freunden Schanzen gebaut, bin Buckelpisten gefahren und habe manchmal neben der Piste ein paar Schwünge im Gelände hingelegt. Mit 23 Jahren habe ich meine heutige Frau kennengelernt. Meine Schwiegereltern waren damals schon begeisterte Skitourengeher. Um also in der Familie mithalten zu können, war Tourengehen angesagt. Ich war froh, dass dies nicht nur eine Rolle war, die ich erfüllt habe, beziehungsweise eine Erwartung war, die ich mir aufgehalst habe. Bei aller Kritik, die Schwiegereltern oft zuteil wird, sei hier einmal angeführt, dass ich ihnen für die Entdeckung dieser Leidenschaft und manch anderer Dinge in meinem Leben sehr dankbar bin.

So habe ich erkannt, dass es eine unberührte Natur gibt, durch die man in monotonem Schritt, mit Fellen auf den Skiern, den Berg hinaufsteigen kann. In kleiner Gruppe oder auch ganz allein, wenn es das Gelände und die Bedingungen zulassen, ist man vollkommen ungestört, man saugt die Energie und Ruhe der Natur in sich auf und schreitet Schritt für Schritt den Berg empor. Alleine dieses Aufstiegserlebnis macht die Tour unvergesslich. Das ist aber noch lange nicht alles. Belohnt wirst du mit der Ankunft am Gipfel, mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Selbstverwirklichung und des Glücks. In Worten vermag das niemand zu beschreiben. Die Fanfaren der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss empfinden für mich noch am ehesten das Gefühl des Gipfelsieges, des Erreichens eines Zieles im majestätischen Umfeld der Berge nach. Wenn die Fanfaren ausgeklungen sind, erfolgt eine kurze Rast, die Felle werden abgeschnallt, eine Pause und die Justierung für die nun folgende Abfahrt stehen an. Dann stichst du als Erster in einen unberührten und unverspurten Hang, die Schneeoberfläche suggeriert durch ein eigentümliches Blitzen der Kristalle die Perfektion, Schönheit und Leichtigkeit der Natur. Im Walzertakt ziehst du deine Schwünge, eins – zwei – drei, eins – zwei – drei, um dann stehenzubleiben, zurückzublicken auf den erklommenen Gipfel und auf die eigene und einzigartige Spur, die du hinterlassen hast. Stolz und Zufriedenheit machen sich breit. Zuhause angekommen, erschöpft vom Staunen, Schauen und von der Anstrengung lässt man den Tag glücklich Revue passieren. Jetzt verstehst du vielleicht, warum das so schön ist und warum ich dieser Leidenschaft nicht widerstehen konnte.

Bezogen auf unsere vier Motive des Glücks geht es im höchsten Maße um Selbstverwirklichung und Sozialisierung, wenn man sich entscheidet, mit einer Gruppe den Berg zu besteigen. Materielle Aspekte und sozial-karitative Themen stehen hier nicht im Vordergrund. Es ist die Selbstverwirklichung, für die die Tour steht. Und jede Tour steht für den Abschnitt eines Lebens. Genau genommen ist das ganze Leben eine große Tour. Sie führt uns über verschiedenste Anstiege in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden, durch Gelände in Kinder- und Jugendjahren, auf Erhöhungen und Gipfel, aber auch auf Sättel und Zwischentäler. Belohnt werden wir mit einer Vielzahl an Gipfelsiegen und -erlebnissen. Manchmal sind es aber auch die Stimmungen in Talsenken und Schluchten, die unvergessliche Erinnerungen erzeugen. Die vielen Abfahrten von Gipfeln, Hügeln und Anhöhen sind steil oder flach. Mal ist der Schnee schön, dann ist er wieder heimtückisch und unfahrbar. Hinzu kommt die Unbekannte des Wetters, das uns manchmal die schwierigsten Passagen im Sonnenlicht erfreuen lässt und auf der anderen Seite jedes Gipfelerlebnis massiv einschränken kann. Manchmal wagen wir uns auch zu weit hinauf, überschreiten unsere Grenzen und muten uns und der Gruppe dabei zu viel zu. Aber letztlich zählt nur eines, und zwar: dass wir gehen. Neue Wege entstehen nur, indem man sie geht!

 

An dieser Stelle möchte ich meinen lieben Freund und Bergführer Hans Oberluggauer, meinen Tourguide, vorstellen. Hans und ich haben uns beim Heliskiing in Gudauri im Kaukasus kennengelernt. Er ist dort einer der erfahrensten und längst eingesetzten Tourguides. Er kommt aus dem Lesachtal. Das liegt südlich von Lienz und verbindet Osttirol mit Kärnten. Es ist einer der schönsten und verträumtesten Orte, um Erholung zu finden. Vom ersten Tag an hat mich die ruhige und souveräne Ausstrahlung von Hans Oberluggauer fasziniert. Er verkörpert den Begriff Sicherheit. Auf jede Tour bereitet er sich ausführlich vor, studiert unterschiedliche Aufstiegsvarianten, beobachtetet den Wetter- und Lawinenbericht mehrere Tage hindurch, schaut sich den Schneedeckenaufbau an und bereitet sich und seine Gäste perfekt auf ein außergewöhnliches Bergerlebnis vor.

2009 waren wir gemeinsam auf dem Großvenediger (3666 m), ein herrlicher Anstieg Anfang April bei Sonnenschein über die Johannishütte zum Gipfel, der mit einer meiner schönsten Firnabfahrten belohnt wurde. Während ich diese Zeilen schreibe, spüre ich die glitzernde weiche Schneeoberfläche, über die wir hinuntergewischt sind, und höre den schmierenden Schnee. Zur Erklärung für die Nichtskifahrer: Bei einer Firnabfahrt macht man sich die kalten Temperaturen in der Nacht zunutze. Oberfläche und Schnee frieren durch. Wenn dann die Sonneinstrahlung einsetzt, firnt der Hang auf, die Oberfläche wird weich, der Schnee schmierig. Man fährt auf der Oberfläche eines unverspurten Hanges und schiebt nur einige wenige Zentimeter Schnee weg. Es bedarf einiger Erfahrung, denn die Hänge müssen vom Zeitpunkt her richtig erwischt werden. Zu früh bedeutet, man fährt auf der gefrorenen Oberfläche, zu spät, man bricht ein im sulzigen Schnee – das Vergnügen ist dann schnell vorbei. Hans beherrscht das großartig. Oft rät er einem, nur zwei bis drei Meter links oder rechts zu fahren, weil dort der Schnee besser ist.

Im Jahr 2010 wollten wir erstmals in die Schweiz. Unser Flug wurde aber dann überraschend aufgrund eines Vulkanausbruchs auf Island und einer unglaublichen Aschewolke über Europa storniert, sodass wir uns kurzerhand vorgenommen haben, den Großglockner zu erklimmen. Vom Lucknerhaus aus sind wir am ersten Tag eine Eingeh-Tour gegangen. Am zweiten Tag ging es dann auf die Stüdlhütte und am nächsten Morgen auf den Gipfel des höchsten Berges Österreichs mit 3798 m. Ich bin noch immer richtig stolz, diesen Anstieg, die Kletterei am Schluss und die lange, teilweise schwierige Abfahrt geschafft zu haben. 2011 waren wir dann endlich in der Schweiz mit dem Ziel, die Viertausendergrenze zu überspringen. Von Zermatt aus waren wir am Breithorn mit 4159 m und am Pollux mit 4092 m. Von Saas-Fee haben wir den Alphubel mit 4206 m gemacht. Eine Reihe weiterer Touren ist gefolgt, im Sommer am Johannisberg, 3453 m, Touren im Lesachtal und im Großarltal. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, einmal im Jahr ein verlängertes Wochenende gemeinsam zu verbringen.

Auf Hans kann man sich einfach verlassen. Er ist ein großartiger Bergführer und ein wertvoller Freund. Die vielen schönen Gespräche auf unseren Touren führen uns regelmäßig in unsere inneren Tiefen. Im Übrigen klingen diese Berge weitaus eindrucksvoller, als sie sind, das schaffst du auch. Mit ein wenig Konditionstraining und Erfahrung im Geländeskilauf ist das kein Problem. Die gewonnenen Erinnerungen sind eine große Bereicherung in meinem Leben. Vielleicht hast du ja jetzt ein wenig Lust auf die Berge bekommen …

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