Buch lesen: «Gipfelgespräch»

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Andrea Paluch

Gipfelgespräch


Wenn das subjektive

Wahrnehmen wie ein

Eisberg ist, dann ist

die Sprache der kleine

Teil, der oben aus

dem Wasser guckt.

Wie kann man ernsthaft

versuchen, den

immensen anderen Teil

sichtbar zu machen?

In dem Moment, als die Kinder nicht mehr bei ihr wohnten, war ihr austariertes Leben zu Ende. Fast zwei Dekaden lang waren die Waagschalen voll gewesen. Jetzt war eine davon leer und schnellte nach oben. Die andere wurde zu Ballast. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Leben hatte Schlagseite bekommen. Sie musste etwas in die leere Waagschale werfen, damit es wieder ins Gleichgewicht kam. Sie war fünfundvierzig Jahre alt. Statistisch gesehen würde sie noch vierzig Jahre leben. Zu lange, um nur Lücken zu füllen. Sie hatte Querflöte zu spielen gelernt, Sprachen und Literatur studiert, bestimmt tausend Bücher gelesen, zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern bekommen. Und jetzt gab es da diese Leerstelle. Wohin mit ihrer Zeit und Kompetenz? Was konnte sie eigentlich? Was konnte sie eigentlich tun? Genau genommen, war es geboten, sich zivilgesellschaftlich oder politisch zu engagieren. Das hatte sie jedoch erst nach den letzten zwanzig Lebensjahren verstanden. Als ihr Doktorvater ihr bei der Urkundenüberreichung gesagt hatte, sie gehöre nun zur intellektuellen Elite, war ihr das peinlich gewesen. Sie hatte die in diesem Satz implizierte Verantwortung nicht verstanden, ja, noch nicht einmal wahrgenommen. Alles was sie gehört hatte, war ein Kompliment. Verantwortung war ihr weit weg vorgekommen und erst konkret geworden, als sie Kinder bekam. Und da diese nun in ihr eigenes Leben aufgebrochen waren, konnte die Gesellschaft zu ihrem Recht kommen. Hatte die Gesellschaft überhaupt ein Recht? Wollte sie ihre Zeit wirklich mit Leuten verbringen, die sie sich nicht aussuchen konnte?

Damit hatte sie nicht gerechnet. Allein zu sein, hatte etwas bei ihr ausgelöst, unerwartet heftig und unkontrollierbar. Sie fühlte sich verlassen, blutete von innen. Dieser Zustand musste aufhören.

Aus der leeren Wohnung zu fliehen und die neue Situation zu verarbeiten, waren wahrscheinlich die ersten richtigen Schritte. Ihre Kollegin hatte ihr schon oft vom Bergwandern vorgeschwärmt. Sie war Mitglied im Alpenverein und nahm regelmäßig an angebotenen Touren teil. Die Fotos, die sie hinterher zeigte, waren jedes Mal phänomenal. Gipfelketten und Panoramablicke über riesige Felsmassive. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, es einmal zu probieren. Eine Gruppenreise kam für sie allerdings nicht infrage. Grundsätzlich nicht, in dieser aktuellen Gemütslage jedoch schon gar nicht. Sie würde sich alleine freikämpfen. Zum Glück war gerade vorlesungsfreie Zeit und sie konnte los.

Sie setzt sich an den Computer und sucht nach Reiseverbindungen. Seit der Coronakrise sind die Flugpläne ziemlich ausgedünnt. Trotzdem findet sie einen Flug für den übernächsten Tag. Zwar wäre sie am liebsten sofort am nächsten Morgen abgereist, aber vielleicht war etwas Zeit für die Vorbereitung gar nicht schlecht.

Sie wollte nicht viel tragen, so viel war klar. Wahrscheinlich war es am besten, sie nahm den Daypack, den sie sich für die Städtetour mit den Kindern nach London gekauft hatte. Sie hatte immer den Lastesel gespielt und Jacken, Wasser, Bonbons und Taschentücher für alle dabeigehabt. Die Hüftgurte an dem Rucksack hatten sie von Anfang an gestört, im Alltag waren die völlig unpraktisch. Deshalb war sie ein paar Mal kurz davor gewesen, sie abzuschneiden. Aber etwas Intaktes zu zerstören, brachte sie nicht übers Herz. Nun ist sie froh darüber, es nicht getan zu haben. Ihre alten Wanderschuhe hat sie auch noch. Zuletzt hat sie die im Studium benutzt, es klebt noch gelber Lehm aus einem anderen Leben in den Ritzen. Das Profil ist deutlich abgelaufen und eine Naht droht sich aufzulösen. Doch für ein paar Tage müssen die reichen. Nun fehlt ihr nur noch eine Jacke, leicht, warm, wind- und wasserabweisend. Und ein Jugendherbergsschlafsack. Das wird sie noch kaufen müssen. Wanderstöcke kann sie sich von ihrer Kollegin leihen.

Es fühlt sich wunderbar befreiend an, nur die allernötigsten Sachen einzupacken. Unterhosen nehmen nicht viel Platz weg, davon gönnt sie sich eine für jeden Tag. Socken ebenso. Ein T-Shirt zum Schlafen. Eine Jogginghose, falls es kalt wird. Den Rest hat sie auf der Reise an. Dann ein kleines Handtuch. Die Zahnbürste, eine Zahnpasta-Probe aus der Apotheke, etwas Creme abgefüllt in ein kleines Pöttchen, ein Mini-Shampoo aus einem Hotel, alles in eine Klarsichttüte. Was noch? Tampons und Schmerztabletten. Eine Rolle Klopapier. Und sonst? Ein dünnes Buch würde bestimmt auch gehen. In ihrem Stapel noch zu lesender Bücher steckt Ophelias poetischer Lebensbericht von Paul Griffiths. Es ist ein Monolog, für den Griffiths ausschließlich die 481 Wörter benutzte, die Shakespeare Ophelia im „Hamlet“ zugestand. Und trotzdem, oder gerade deswegen, wirkte die entworfene Seelenlandschaft sehr intensiv. Die sprachliche Begrenzung drängte sich nicht auf, lief unbewusst mit. Sie sieht hinab auf ihren Rucksack. Fehlte noch etwas? Na klar, Wasserflaschen. Sie muss über sich selbst den Kopf schütteln. Fast hätte sie das Wichtigste vergessen.

Sie fährt mit dem Bus zum Bahnhof. Eine hübsche junge Frau mit Zwillingskarre steigt ein. Die Kinder sind extrem süß und schauen sich mit großen dunklen Kulleraugen um. Die Mutter ist etwas hektisch, sie will unbedingt ganz schnell nach vorne zum Fahrer, um eine Fahrkarte zu kaufen. Sie ist beinah übermotiviert. Auf ihr scheint eine unglaubliche Bringschuld zu lasten. Kaum hat sie die Bremse der Karre arretiert, ist sie auch schon auf dem Weg. Der Bus fährt an und sie torkelt dem Fahrer entgegen. Alle Fahrgäste sehen ihr dabei zu. Auf dem Rückweg fällt sie fast einem Rentner auf den Schoß, den sie zuvor schon angerempelt hat. Sie entschuldigt sich mehrfach, der Rentner lacht und winkt beschwichtigend ab. Er findet das anscheinend nicht schlimm, die Frau aber offenbar sehr wohl. Die ganze Situation ist extrem unangenehm. War die Frau so beflissen, weil sie dunkelhäutig war und ein Kopftuch trug? Fühlte sie sich dazu verpflichtet, besonders korrekt zu sein, weil sie anders aussah als alle anderen im Bus? Zeichnete ihr offensichtlich angeborenes Alltagsdeutsch sie nicht als Deutsche aus? Wahrscheinlich war ihr klar, dass alle sie als Ausländerin wahrnahmen. Und vermutlich hatte sie das schon öfter erlebt. Was müsste anders sein, damit die Situation nicht so angespannt wäre? Vielleicht gab es ein grundsätzliches Missverständnis, dass in einer Demokratie die Mehrheit im Recht war. Das Recht der Mehrheit bedingte jedoch die Pflicht, Gerechtigkeit für jeden Einzelnen zu garantieren.

Sie ist etwas zu früh am Bahnhof und kann in aller Seelenruhe zu ihrem Zug schlendern, der schon am Bahnsteig wartet. Die Pendler sind seit einer Stunde weg und nur wenige Reisende sind unterwegs. Geschenkte Zeit. Eine Pause wie Atem anhalten, ein Moment der Stille, bevor die Reise Fahrt aufnimmt.

Es ist ein Doppeldeckerzug, leer wie der Bahnsteig. Sie hat freie Platzwahl und entscheidet sich für oben. Von dort sieht die Welt ein wenig anders aus als sonst, die Perspektive ist erhaben. Sie mochte es, gegen das Bahnsteigdach zu schauen. Rechteckiges Milchglas, durchzogen mit einem Drahtgitter wie die Haustür ihrer Kindheit. Die senkrechten Scheiben sind mit einer fetten Kittschicht an den Holzsprossen befestigt, die in dem Blau der Rahmen übermalt sind. Obwohl der Farbton verblichen ist, kann sie sich vorstellen, wie er ursprünglich ausgesehen hat. Die Farbe endet erst etwa zwei Zentimeter auf dem Glas, ein Abschluss, der den unebenen Kittstreifen kaschiert. Alle paar Meter ragen vier Hutmuttern aus dem Holz, symmetrisch unter einer Sprosse, zwei rechts, zwei links davon. An diesen Stellen mündet die Farbe auf dem Glas in kleine Dreiecke, die zu den äußeren Muttern auslaufen. Alles hat Prinzip. Kleinigkeiten werden berücksichtigt, an einer Stelle, die eigentlich keiner sieht. Aber auch: dicke Vogelkacke, mitten auf einer Glasscheibe, die hinunterläuft und auf der verblichenen Farbe dunkle Streifen hinterlässt. In den Ecken der Sprossen sammelt sich brauner Staub. So viel Sorgfalt und Ordnung, dem Verwittern preisgegeben.

Als der Zug losfährt, bewegt er sich in die falsche Richtung. Erst ist sie ungläubig, dann mischt sich Orientierungslosigkeit mit Schreck. Was sollte sie tun? Sie rafft ihre Sachen zusammen und eilt durch den menschenleeren Zug Richtung Lok. Sie klopft an die Tür der Fahrerkabine. „Warum fahren wir rückwärts?“, ruft sie mit leicht alarmierter Stimme. „Der Zug fällt aus. Ich komme gleich“, gibt es zur Antwort. Während der Fahrt auf das Abstellgleis denkt sie tausendmal „Verdammter Mist“. Ihr Herzschlag beruhigt sich wieder. Sie ist rechtzeitig zum Flughafen aufgebrochen, sodass ihr genug Zeit bis zum Abflug bleibt. Das macht sie immer so. Falls etwas Unvorhergesehenes passiert, zum Beispiel im Abstellgleis landen. Ihre Kinder lachen sie dafür immer aus. Der Zug hält und ein blasser Lokführer öffnet die Tür der Fahrerkabine. „Ich nehme Sie über das Gleisbett zurück zum Bahnhof“, sagt er. „Bleiben Sie bei mir.“ – „Ist der Zug kaputt?“, fragt sie. „Mir ist schwindelig, ich schaffe es nicht einen Bahnhof weiter“, sagt der Lokführer. Sie springen aus dem Zug und laufen eine gefühlte Ewigkeit an den Gleisen entlang. Dem Lokführer schien es echt schlecht zu gehen, denn er ging sehr langsam. Als sie endlich sein Auto am Bahnhofsgelände erreichen, fragt sie: „Schaffen Sie es nach Hause?“ Der Lokführer nickt matt. „Na dann vielen Dank und gute Besserung“, sagt sie und marschiert rasch weiter Richtung Bahnsteig. Zweiter Anlauf.

Sie erreicht den nächsten Anschluss und sitzt zunächst wieder alleine oben im Zug. Aus dem Fenster an dem benachbarten Vierersitz sieht sie auf die blaue Bedachung. Ein pickliger Teenager kommt hoch, bemerkt sie und wählt den Sitz, über den sie gerade hinausschaut. Von allen möglichen Plätzen wählte er genau den in ihrem Blickfeld. Merkwürdig. Ihr Sohn hätte genau diesen Platz vermieden und sich so weit weggesetzt wie möglich. Der Teenager holt einen vergilbten Kinderbuchklassiker hervor und vertieft sich demonstrativ in das Buch. Er starrt auf die Seiten, ohne zu lesen, als posiere er vor ihr. Er wollte gesehen werden. Sie dreht den Kopf weg, schaut aus dem Fenster auf ihrer Seite und betrachtet die Reisenden am Bahnsteig gegenüber. Als dort der Zug einfährt, überkommt sie ein plötzliches Glücksgefühl. Woran lag das? Vielleicht, weil alle auf dem Bahnsteig gleichzeitig in Bewegung geraten. Aufbruchsstimmung. Zwei Leute setzen sich hinter sie und unterhalten sich, eine ältere Frau mit verrauchter Stimme und eine Schülerin. „Hast du schon mal ein Praktikum gemacht, oder ist das dein erstes?“, fragt die ältere Frau. Das Mädchen antwortet: „Wir müssen in der Schule zwei Praktiku… Praktik…“ Es sucht nach der richtigen Form und kommt nicht drauf. Da springt ihr die ältere Frau zur Seite und sagt mit gütiger Stimme: „Praktikas.“ Ihr Glücksgefühl schlägt um in Heiterkeit. Sie muss lachen. Das hat sie schon lange nicht mehr getan, es kommt ihr ganz ungewohnt vor. Und so alleine irgendwie auch deplatziert.

Sie war schon immer viel Zug gefahren. Als Studentin hatte sie stets versucht, Plätze zu bekommen, an denen sie möglichst ungestört war. Einmal hatte sie auf der Fahrt nach Hause Glück gehabt und ein leeres Abteil für sich alleine gefunden. Sie kam von einem Probenwochenende mit dem Uniorchester und hatte wenig geschlafen. Ihre Tasche lag auf dem Sitz gegenüber, auf den sie auch ihre Füße ausgestreckt hatte. Mit dem Kopf ans Fenster gelehnt, war sie eingeschlafen und bekam nur vage mit, dass sich jemand dazusetzte. Als sie merkte, wie ihre Waden berührt wurden, war sie übergangslos wach. Erschrocken hatte sie die Beine zurückgezogen und in das lächelnde Gesicht eines deutlich älteren Mannes geblickt, der anfing, in einer fremden Sprache zu reden. Sie war aus dem Abteil gestürzt und in die Toilettenkabine geflüchtet. Dort hatte sie ein paar Augenblicke verharrt, bis sie ihren Mut zusammennahm, um ihre Tasche zu holen. Als sie die Tür aufschloss und zu ihrem Abteil zurückging, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Doch der Mann war verschwunden. Er hatte ihre Tasche durchwühlt, ihr Portemonnaie gefunden und aus Mangel an Scheinen das gesamte Kleingeld ausgeleert. Zum Glück hatte er die Flöte nicht entdeckt.

Mittlerweile hat sie nicht mehr das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Stattdessen beobachtet sie die anderen Reisenden. Im Handyzeitalter war das auch viel problemloser möglich als früher, denn man musste nicht befürchten, durch Blickkontakt entdeckt zu werden.

Als sie den Flughafen erreicht, stellt sie sich geradewegs an der Schlange vor den Sicherheitskontrollen an. Nach einiger Zeit merkt sie, dass es recht zügig vorangeht. Doch ihr Körper ist angespannt. Nach der üblichen Prozedur aus warten, die Jacke ausziehen, Zahnpasta auspacken und Ticket zeigen, beeilt sie sich und erreicht zehn Minuten vor dem Boarding das Gate. Alles ist gut gegangen. Sie geht langsam auf und ab und atmet tief ein und aus. Doch die innere Anspannung bleibt.

In ihrem Flugzeug sitzen ein paar deutsche Touristen und einige italienische Geschäftsreisende. Den größten Anteil der Passagiere macht eine Fußballmannschaft Vierzehnjähriger aus, die einen riesigen Pokal dabeihat. Als die hochgewachsenen Jugendlichen mit Kindergesichtern an ihr vorbeigehen, steigen ihr Tränen in die Augen. Sie sieht ihre eigenen Kinder mit strahlenden Gesichtern Medaillen hochhalten. All die Turniere, auf denen sie als Zuschauerin Stunden ihres Lebens zugebracht hat, um ihre Kinder zu unterstützen. Damals fühlte sie sich wie ein Teil von etwas Großem. Nun sitzt sie fremd zwischen Fremden. Während des gesamten Fluges schläft sie und nimmt nur unterbewusst wahr, wie die Stewardessen Snacks verkaufen und Geld für die Impfung afrikanischer Kinder sammeln. Sie dämmert in einem unwirklichen Zustand dahin und hofft, beim Aufwachen in ihrem eigenen Bett zu liegen.

Als sie die Augen öffnet, rollt die Maschine gerade in die Parkposition. Ihr Nacken tut weh, der Rücken ist steif. Kaum erlischt das Anschnallzeichen, springen alle Passagiere wie auf Kommando auf und stehen an den Türen Schlange. Sie bleibt sitzen, schließt wieder die Augen und wartet, bis es weitergeht.

Nun waren sie also weg. Jonas hatte Abitur gemacht und würde nach einer Australienreise irgendwo anfangen zu studieren. Felicitas war für ein Austauschjahr in die USA gegangen und spekulierte auf ein Stipendium, um dort bleiben zu können. Falls sie überhaupt noch einmal nach Hause zurückkehren würde, dann höchstens für das Abiturjahr, als Gast. Sie wusste, dass ihren Kindern die Trennung nicht schwerfiel. Sie wusste, dass sie bis zum Anschlag voll waren mit ihrer Liebe. Die beiden konnten sich ihrer sicher sein, egal wo sie lebten. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass ihre Kinder nach dem Abitur die Welt entdecken, etwas erleben wollten. Sie wollte keine Hotel Mama-Typen bei sich wohnen haben, die keinen Plan davon hatten, was sie tun sollten, und paralysiert herumhingen. Nun war Feli ihr zuvorgekommen und hatte sich gleichzeitig mit Jonas verabschiedet. Mit leichter Hand zogen sie einen Schlussstrich unter einen Lebensabschnitt, den sie Kinderblase getauft hatte. Neunzehn Jahre, in denen sie das Leben ihrer Kinder geteilt hatte. Mitgelebt. Gelebt. Sie war im Grunde nie alleine gewesen, war höchstens kurz ausgeschert und gleich wieder da gewesen. Sie hatte die beiden bis zur Selbstständigkeit begleitet, die schneller erreicht war, als sie es für möglich gehalten hatte. Und nun hatte sie die gesamte Betreuungszeit für sich. Zeit im Überfluss. Zeit, in der sie Dinge alleine erlebte, weil niemand da war, der das Gleiche sah wie sie.

Früher wäre sie nie auf die Idee gekommen, ohne ihre Kinder zu verreisen. Die beiden waren Teile ihres Bewusstseins, sodass sie alles multiperspektivisch wahrnahm. Richtig verstanden hatte sie das erst bei einem Aufenthalt in London. Sie war mit ihren Kindern am Hydepark Richtung Oxford-Street unterwegs gewesen. Während der Teil ihres Ichs, der sie selbst war, gerade auf dem schmalen Bürgersteig zwischen Staketenzaun und Busspur entlangging, hüpfte ein anderer Teil mit ihrer Tochter durch das Parktor und ein dritter Teil war mit ihrem Sohn, der auf den Mülleimer für Hundekot zeigte, schon drin. In diesem Moment war das normal gewesen und nicht weiter erwähnenswert. Als sie später zu einem Kongress alleine nach London reisen musste und ohne ihre Kinder denselben Bürgersteig entlanglief, war das Erlebnis nur einen Bruchteil so intensiv gewesen. Und deshalb traurig. Diese Erfahrung war ein von ihr nicht beachteter Vorbote gewesen für die Leere, die sich nun nach dem Abschied ihrer Kinder eingestellt hatte. Sie vermisste das bedingungslose Glücklichsein. Früher strahlten ihre Gefühle von ihr aus, trafen auf ihre Kinder und wurden gespiegelt. Ihre ausgesandte Stimmung kam vielfach zurück. Das war Glück. Nun strahlte sie ins Nichts. Je weiter sich die Ausstrahlung von ihr wegbewegte, desto dünner wurde sie. Schließlich löste sie sich auf in einer seelenlosen Unendlichkeit. Wie bei einem schlecht gedämmten Haus entwich die Energie, ohne Wärme zu speichern. Die gewohnte Wärme. Sie hatte Angst, sie würde aufhören zu strahlen. Und es würde niemals mehr etwas zurückkommen.

Die Anreise rauscht an ihr vorbei. Nach einer Übernachtung in Turin und mit einem frühen Bummelzug ist sie endlich in den Bergen. Der Zug endet in ihrem Zielort, das Tal ist eine Sackgasse. Von hier aus geht es nur noch bergauf. Es ist angenehm warm, die Hitze aus der Ebene kann sich auf dieser Höhe nicht halten. Die Pfützen vor dem Bahnhof zeugen davon, dass es geregnet hat. Auf der sonnigen Zugfahrt war davon nichts zu merken gewesen. Das Wetter funktionierte hier offenbar kleinteiliger als zu Hause. In Deutschland hatte es seit Wochen nicht geregnet und es herrschte Dürre. Das Thema Corona wurde in den Medien allmählich wieder vom Thema Klimawandel verdrängt.

Sie schultert den Rucksack und stiefelt los. Erst mal weg vom Bahnhof, raus aus dem Ort, die Menschen hinter sich lassen und hoch hinaus. Proviant hat sie sich bereits in Turin gekauft, sodass sie die Zivilisation ohne Umwege verlassen kann. Die Straße windet sich einen Hang hinauf. Der Abstand zwischen den Häusern wird größer. Hinter jedem Zaun bellt ein Hund. Nach kurzer Zeit läuft ihr der Schweiß und der Atem geht schnell. Der Mund wird trocken. Am Ortsende zeigt ein Holzschild auf einen aufsteigenden Waldpfad, der ohne Umschweife steil bergauf führt und die Serpentinenstraße einige Male kreuzt. Schnaufend steigt sie ihn hoch und erreicht nach einer knappen Stunde ihre erste Etappe. Sie hat jetzt schon das Gefühl, dass sie nicht mehr kann. Dabei ging es nun erst richtig los. Laut Karte soll sie eine Brücke passieren. Die ist aber gesperrt und ein paar Schilder markieren sie als marode. Überqueren bei Lebensgefahr verboten. Das fängt ja gut an. Sie bleibt stehen und überlegt, was sie machen soll. Da sieht sie ein junges Pärchen mit Kleinkind im Buggy spazierend über die Brücke kommen. Bedenken scheinen also unbegründet. Mit mulmigem Gefühl betritt sie die Brücke und geht nicht langsamer hinüber als nötig. Sie erreicht die andere Seite, ohne spektakulär in die Tiefe zu stürzen. Die Schwelle war überschritten, der Weg konnte beginnen.

Die Strecke führt sie parallel zum Fluss, der tief unter ihr durch die Felsbrocken strömt. Das Rauschen in der jetzt doch brütenden Hitze war wie eine erfrischende Verlockung, ein Sirenengesang, gegen den man sich wappnen musste. Am liebsten hätte sie sich dem Rauschen überlassen, wäre kopfüber in die Frische gestürzt, denn es gibt keinen Weg hinunter, das Wasser ist nicht lebend zu erreichen. Als sie stehenbleibt, fallen Fliegen ihren verschwitzten Körper an, schwirren ihr um den Kopf und übertönen das mächtige Rauschen des Wassers unter ihr. Also weiter den steilen, staubigen Pfad entlang. Zu ihrer Erleichterung flacht der Weg bald ab und macht es ihr möglich, bequem zu gehen, beinah ohne Anstrengung. Sie kann sogar den Blick von den Füßen heben und beim Laufen die Landschaft bewundern. Sattgrüne Almen ziehen sich die weiten Hänge hinauf und überlassen den Felsen die Gebirgskämme. Die Wiesen sind bunt vor Blumen. Weit entfernte Kuhglocken und Murmeltierpfiffe tun ihr Übriges, um sie zu überzeugen: Sie war in einer anderen Welt. Doch die sinnlichen Reize drangen nicht zu ihr durch. Wie sollte man sich alleine freuen? Ein schwerer dunkler Deckel lag auf ihrer Seele. Sie roch zwar die staubige Würze der Wildpflanzenmatten, aber der Duft blieb ihr in der Nase stecken und gelangte nicht in ihr Herz, wo er hingehörte.

Sie lief als Teil eines fehlenden Ganzen herum. Das Schöne ging durch sie hindurch wie Wasser durch ein Sieb. Sie musste sich unbedingt ein eigenes Ganzes kreieren, eine lebendige Einheit für die Zukunft. Für die Zeit bis zum Tod. Tot zu sein, schreckte sie nicht, der Weg dorthin schon. Vor dem Sterben hatte sie Angst, vor allem, wenn es von einer Krankheit begleitet werden sollte. Der Moment, in dem die Diagnose verkündet wurde, wäre die Richtungsänderung. Der Moment, an dem sich alles umdrehte. An dem die Krankheit das Lebensthema übernahm. Am Ende würde sie das Leben so beschwerlich machen, dass der Tod herbeigesehnt werden würde. Ihr ging es gut. Sie hatte kein körperliches Leiden. Und ihrem emotionalen Leiden würde sie nicht ihr Lebensthema überlassen. Irgendwie würde sie sich wehren.

Vor wenigen Jahren noch hätte sie gesagt, der Maßstab des Wohlbefindens sei das eigene Sicherheitsgefühl. Eine Möglichkeit, das nachhaltig zu erschüttern, hätte zum Beispiel ein Einbruch sein können. So hatte sie es jedenfalls immer angenommen. Schlimmer als die geklauten Dinge wäre das Eindringen in die Privatsphäre gewesen. Das Überschreiten der Schwelle der Verletzlichkeit. Nachdem dann tatsächlich bei ihnen eingebrochen worden war, fühlte sie sich aber nicht unsicherer in ihrer Wohnung. Sie war vor allem erleichtert gewesen, dass die Kinder nicht alleine zu Hause gewesen waren, sondern bei ihren Vätern, und dass die Einbrecher nicht randaliert hatten. Zum Glück gab es in jedem Beruf Profis. Seitdem wusste sie, es war nicht die Unversehrtheit ihrer Wohnung, die ihr Sicherheit gab, sondern die Unversehrtheit ihrer Kinder.

Hinter einer Linksbiegung öffnet sich das Tal und gibt den Blick auf den Pass frei, den sie morgen überqueren soll. Auch die Hütte, in der sie übernachten will, kann sie nun sehen. Sie ist nicht bewirtschaftet. Bei der Touristeninformation hat man ihr gesagt, dass sie auf der benachbarten Alm Butter, Milch und Käse kaufen könne. Also hat sie lediglich Brot, Müsli und zwei Portionen Instantkaffee mitgenommen.

Der Weg führt an freiweidenden Kühen vorbei auf die Sennerei zu. Über dem Kuhstall befindet sich der Hüttenraum, der Schlüssel soll auf dem Fensterbrett liegen. Als sie näherkommt, schlägt ein weißer Hirtenhund an, der jedoch an einer kurzen Kette festgemacht ist. Er bewacht ein paar Schafe und Ziegen in einem Gatter. Die zwei freilaufenden Hunde nehmen keine Notiz von ihr. Auf ihrem Weg steht ein Esel, etwas weiter entfernt ein Pferd und mit hoch erhobenem Schwanz kommt eine Katze auf sie zugelaufen. Sie fotografiert alle, kann die Bilder aber nicht verschicken, weil es kein Netz gibt. Dann bekamen die Kinder das eben später.

Sie steigt die Holztreppe am Kuhstall hoch. Auf dem Fensterbrett findet sie keinen Schlüssel. Wäre auch zu schön gewesen. Vielleicht war die Tür ja unverschlossen. Als sie zur Probe die Klinke herunterdrücken will, entdeckt sie den Schlüssel im Türschloss. Sie ist aus irgendeinem Grund davon ausgegangen, der einzige Gast zu sein. Die Erkenntnis ihres Irrtums durchfährt sie wie der Schock, mit dem sie täglich aufwacht.

Der Zeiger ihres Weckers bewegte sich jeden Morgen mit einem entschiedenen Klacken auf die Sieben, bevor dieser klingelte. Das riss sie jedes Mal aus dem Schlaf und ihr Herz wummerte in Erwartung des nervtötenden Piepens. Sie versuchte stets, schneller zu sein als der Alarm. Ihr Arm schoss aus dem Bett und schaltete das Gerät aus, bevor das Klingeln ertönte. Oft war das ihr erstes Erfolgserlebnis am Tag. Der Schreck in der Morgenstunde katapultierte sie ins Leben. Der Wettlauf gegen die Zeit begann. Bis alle aus dem Haus waren, hatte jede Minute eine Funktion. Sie erledigte ihre Aufgaben und behielt im Auge, ob die Kinder in die Gänge kamen, Zähne putzten, ihre Taschen packten, die Räder Licht hatten. Wenn sie mitdachte, konnte Stress am frühen Morgen verhindert werden. Stress war immer blöd, aber besonders in der ersten Stunde des Tages überflüssig. Zum Glück waren die Kinder gut vorbereitet und vergaßen selten etwas. Manchmal musste noch überstürzt die Sporttasche gepackt oder ein Fahrrad aufgepumpt werden. Auch wenn diese Probleme kurzfristig zu lösen waren, bedeuteten sie Stress. Die Momente, in denen etwas nicht so lief, wie es sollte, waren so adrenalingeschwängert, dass ihr Herz direkt wieder anfing zu wummern.

Sie ist nicht neugierig auf andere und verharrt vor der Tür. Da hört sie hinter sich jemanden rufen. Sie dreht sich um und sieht den Almhirten neben seinem Haus stehen und sie fragend anschauen. Sie hat kein Wort verstanden. „English?“, fragt sie. Der Italiener schüttelt den Kopf. „Informazione turistica?“, fragt er. Si. „Di Bardonecchia?“ Si. „Va bene.“ Er winkt freundlich, dreht sich um und schreitet energisch davon. Sie hätte ihn nach dem Käse fragen sollen. Stattdessen öffnet sie die Tür. Der Kontakt zur Außenwelt ist wiederhergestellt, also kann sie genauso gut hineingehen. Sie ergibt sich der Situation.

Auf der Zugfahrt zum Flughafen hatte sie sich den Film „The Discovery“ auf dem Handy angesehen. Die Heldin sagte: „Es war so ein Traum, bei dem man weiß, dass man träumt, aber nicht mehr, was.“ Im selben Moment hatte sie ihr eigenes Spiegelbild auf dem Bildschirm gesehen, mit dem abgelegten Hoodie ihres Sohnes. „Homesick“ stand darauf. Dass die Kinder erwachsen wurden und aus dem Haus gingen, war eine vorhersehbare und nicht sehr überraschende Tatsache. In etwas stressigen Lebenssituationen hatte sie diesen Moment sogar manchmal herbeigesehnt. Dass damit auch Verlustgefühle verbunden waren, traf sie hingegen völlig unerwartet. Wie konnte etwas so Richtiges wie die Abnabelung der Kinder eine derartige Trauer auslösen? Ihr Herz war in den Kopf gerutscht und hatte alles durcheinandergebracht. Konnte sie lernen, sich als Individuum den gleichen Wert beizumessen wie sich als Mutter? Der Umstand, zwei glückliche Leben ermöglicht zu haben, gaben ihr eine Funktion, einen tief empfundenen Sinn. Was war sie, wenn sie nichts mehr war als ihre eigene Person? Welche Legitimation für Achtung ihr gegenüber gab es, die nicht in der Vergangenheit lag? Was musste sie nun tun, um jemand zu bleiben, der Anerkennung bekam? Sie hatte das Gefühl, etwas leisten zu müssen. Nur da zu sein, würde der gesellschaftlichen Erwartung, die alles Soziale, Freundschaft und Freizeit ökonomisch maß und kapitalistisch verwertete, nicht genügen. Konnte sie sich dem entziehen? Wie konnte das gehen? Und hatte sie genug Kraft dafür?

Ihr selbst reichte es aus, wenigstens für einen Moment nur da zu sein. Eine Pause zu machen, zurückzublicken, ihre Kinder zu beobachten und stolz zu sein, Luft zu holen. Doch sie hatte das Gefühl, diese Phase tarnen, durch Aktivismus davon ablenken zu müssen.

Hinter der Eingangstür der Hütte liegt ein fensterloser Windfang, in dem die Wanderschuhe abgestellt werden können. Sie schnallt den Rucksack ab und öffnet ihre langen Schnürbänder. In dem Moment, als sie die Füße herauszieht, merkt sie, wie sie schmerzen. Und qualmen. Sie fummelt die Innensohlen aus den Schuhen und stellt sie senkrecht zum Trocknen hinein. Kein weiteres Paar ist zu sehen. Also doch allein. Erleichterung. Die nächste Tür führt in die Wohnstube. Hier gibt es einen kleinen Holzofen, eine Spüle und einen Herd mit etwas Küchenkram und drei Tische mit etlichen Stühlen. Es finden bestimmt zwanzig Personen Platz. Im angrenzenden Schlafraum stehen ebenso viele Betten. Im Bad gibt es eine Dusche und zwei Hockklos. Sie fühlt sich wie Schneewittchen, die das leere Haus der Zwerge betritt. Von welchem Tellerchen sollte sie essen? In welchem Bettchen würde sie schlafen? Und welches Hockklo benutzen? Die Dusche war jedenfalls als erstes fällig. Wenngleich sie ziemlich erschöpft war vom Wandern und am liebsten alle Viere von sich gestreckt hätte. Der sich abkühlende Schweiß lässt sie frösteln. Sie zieht die nassen Klamotten aus und dreht das Wasser auf. Es ist bergseekalt. Frisch geschmolzen. Unerträglich. Sie zieht sich unverrichteter Dinge wieder an. Der Wunsch, es sich bald gemütlich zu machen, wächst. Sie schaltet den Gasherd an und stellt einen Topf mit Wasser darauf. Als es warm wird, füllt sie es in ihre Wasserflasche. Das reicht für einen Duschgang. Was für eine Wohltat. So sauber und trocken hat sie sich schon lange nicht gefühlt. Ihre Lebensgeister kehren zurück und sie beschließt, sich auf die Suche nach Käse und Milch zu begeben. Dazu müssen ihre angestrengten Füße zurück in die Wanderschuhe. Sie verzieht das Gesicht beim Einsteigen und wickelt die Schnürsenkel locker um den Schaft. In solchen Momenten ist sie besonders froh über ihr Singleleben. Sie ist nicht gezwungen, auf das vorhersehbare Gejammer eines anderen zu reagieren.

Sie hatte immer den Eindruck, Männer wären Menschen, um die man sich kümmern musste. Frauen waren zwar sehr oft nervig und kompliziert, dennoch autark und selbstständig. Ein bisschen wie Katzen vielleicht. Wenn man bei diesem Bild blieb, waren Männer wie Hunde. Pflegeaufwendig. Deshalb hatte sie früh beschlossen, sich keinen anzuschaffen. Sie wollte viele Kinder von vielen verschiedenen Männern, die natürlich nichts davon ahnen sollten, sonst würde die Sache wieder kompliziert werden. Das war ihr Traummodell gewesen. Mit zwei Kindern war sie aber reichlich bedient gewesen, und so hatte sie ihre Idee der vielen Kinder an den Nagel gehängt. Also nicht von jedem Mann ein Kind. Und die beiden Väter wurden miteinbezogen. So hatten alle etwas davon, nicht nur sie selbst. Sie war mit der Miniaturausgabe ihrer Jungmädchenvorstellung mehr als zufrieden. Die Kinder konnten ab und zu mal zu ihren Vätern, sodass sie zwischendurch auch Zeit für sich fand. Die Männer waren zufrieden, Feiertags-Väter und an keine Regel gebunden zu sein. Und finanziell war es durchaus okay, dass sich die beiden etwas beteiligten. Auch wenn sie das nie verlangt hatte. Es war ja ihr Plan und ihr Leben gewesen. Die Kinder liebten ihre Väter-Wochenenden, egal, ob bei dem einen oder dem anderen. Dort herrschten andere Sitten, und die Umstellung und Anpassung taten ihnen gut. Sie waren ausgeglichen, offen und fröhlich.

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