Haus der Hüterin: Band 11 - Die Bedrohung

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Aus der Reihe: Haus der Hüterin #11
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„Ich habe diese alberne Redewendung noch nie leiden können“, antwortete Vlad missmutig.

„Trotz deiner jungen Ehe scheinst du nicht sonderlich glücklich zu sein“, sagte Michael vorsichtig.

Vlad brummte etwas, statt zu antworten.

Es blieb einige Zeit still im Wagen. Dann versuchte Michael es noch einmal.

„Ist es die junge Hüterin?“

Jetzt sah Vlad ihn direkt an. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und sein Blick warnend.

„Ich möchte nicht darüber sprechen.“

„Gut, ich verstehe das, aber …“ „Ruhe jetzt!“ Seine Stimme klang eisig und Michael verstummte.

Das Abendessen wurde in der Küche serviert, wie meist, wenn keine große Gesellschaft zusammenkam. Kairos war neben Percival, der inzwischen fast zum Inventar gehörte, der einzige Gast, der am Essen teilnahm. Hoheitsvoll kam er pünktlich um neunzehn Uhr in die Küche geschritten und betrachtete den gedeckten Tisch. Erwartungsvoll ließ er sich von Maj einen Platz zuweisen und setzte sich.

Rylee nahm daneben Platz und erklärte ihm, in der Annahme, dass er keine davon kannte, die menschlichen Speisen.

„Das ist Rindergulasch, von einem großen pflanzenfressenden Tier und das Runde sind Klöße. Sie werden aus Kartoffeln gemacht, einer Frucht, die in der Erde wächst. In der Schale ist Salat.“

Kairos sah sie aus unergründlichen Augen an. „Ich danke für die Erläuterung, jedoch kenne ich einige der Speisen. Allerdings nicht alle.“

„Nach Eurem Aussehen stammt ihr ursprünglich wohl nicht von der Erde?“, fragte Rylee neugierig, und zerteilte dabei einen Kloß.

Er sah an sich herunter. „Auch das weiß ich nicht. Sieht auf der Erde niemand aus wie ich?“

„Nein“, erklärte sie. „Der goldene Schimmer überall auf Euch. So etwas gibt es bei Menschen nicht.“

Er sah verwirrt aus. „Ich habe das Gefühl hier gelebt zu haben“, sagte er langsam. „Aber dann … Ich erinnere mich nicht. Nur Dunkelheit.“ Sein Gesicht wurde abweisend, und Rylee verzichtete auf weitere Fragen.

Einige Minuten aßen sie schweigend.

„Schmeckt wieder köstlich!“, erklärte Rylee, und Percival stimmt sofort zu.

Kairos neigte den Kopf. „Es schmeckt sehr angenehm.“

Maj sah verlegen weg und räumte die Teller ab. Dann brachte sie den Nachtisch.

Rylee würde Zimmermann, Mitglied der deutschen Ortsgruppe der Gesellschaft, der beim Angriff der Fremden getötet worden war, ewig dankbar sein. Er hatte ihr die seltene Nachspeise Bacluva gebracht, die für jeden den Geschmack annahm, den er bevorzugte. Indem sie eines ihrer magischen Bilder darauf geeicht hatte, besaß sie einen unerschöpflichen Vorrat. Für Rylee schmeckte der Nachtisch heute wie Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Amüsiert beobachteten Maj und sie, wie Kairos einen Löffel zum Mund führte und vorsichtig probierte. Optisch machte Bacluva nicht viel her, und so erlebte manch einer eine Überraschung, wenn er die unscheinbare Creme in den Mund schob und die Geschmacksexplosion einsetzte.

„Ambrosia, wie kann das sein?“, rief ihr Gast und nahm noch einen Löffel.

Rylee erklärte ihm den Trick.

„Die Speise der Götter“, sagte er ehrfürchtig und sah auf seinen Teller. „Ich … erinnere mich. Nicht daran, wann ich sie gegessen habe. Aber an die Speise selbst!“

Rylee wechselte einen Blick mit Maj. „Was genau ist Ambrosia?“

Kairos suchte nach Worten. „Es ist … eine Süßspeise, ein Trank, eine Salbe …“ Hilflos sah er sie an. „Wieso kann ich mich daran erinnern und an sonst nichts?“

Rylee wechselte einen Blick mit Maj, doch die Tabatai zuckte kaum merklich mit den Achseln.

„Ich weiß es wirklich nicht. Wir sollten vielleicht jemanden finden, der sich mit Gedächtnisverlust auskennt. Nur wen? Ich kann Euch schlecht zu einem menschlichen Arzt bringen. Warten wir lieber noch ein bisschen. Vielleicht kommt Euer Gedächtnis nach und nach von selbst zurück. Dass Ihr Euch an eine Speise erinnert, ist doch ein guter Anfang.“

Sie legte den Löffel weg und brachte ihre Schale zur Anrichte. Percival aß ungerührt seine zweite Portion und schien dem Gespräch nicht zu folgen.

Boh kam in die Küche, dicht gefolgt von Amelie. Er maunzte Maj an und sie beeilte sich, eine Schüssel mit Thunfisch zu füllen. Boh stupste Amelie an und ging dann zwei Schritte zurück. Er setzte sich und beobachtete, wie sie sich dem Schälchen näherte und zierlich kleine Bissen fraß. Als sie satt war, leckte sie sich die Schnauze sauber und ging zu Boh, um ihren Kopf an seinem zu reiben.

Rylee beobachtete den Austausch zufrieden. Die beiden Werkatzen gaben ein wunderschönes Paar ab. Amelie ließ Boh stehen, lief zu Percival und sprang graziös auf seinen Schoß. Der junge Hüter schrak zusammen, doch sein Gesicht erhellte sich rasch wieder, als er erkannte, wer da plötzlich auf ihm saß. Er streichelte sie zärtlich.

Boh fraß, was Amelie ihm übrig gelassen hatte, beäugte Kairos und kam dann zu Rylee.

Als er Stimmen an der Haustür hörte, bog er jedoch ab und wartete in der offenen Küchentür. Es waren Stephan in Begleitung von Emmea und Squeech, die von der Baustelle zurückkamen. Maj stand auf und holte weitere Teller aus dem Schrank.

Alle drei hatten rote erhitzte Gesichter und strahlten Begeisterung aus. „Die Bodenplatte ist fertig!“, rief Emmea strahlend. „Wenn es in diesem Tempo weitergeht, können wir nächste Woche einziehen!“ Sie sah Rylees Blick, und ein Anflug schlechten Gewissens mischte sich unter die Freude. „Bitte versteh das nicht falsch. Wir fühlen uns superwohl hier. Nicht wahr Squeechi?“

Der junge Squatch nickte entschieden. „Natürlich. Securus Refugium ist wie ein zweites Zuhause für uns.“

„Aber ein eigenes Haus!“, unterbrach Emmea ihn. „Das ist so …“ Sie suchte nach Worten.

„Supertoll?“, fragte Rylee grinsend.

„Genau!“, rief Emmea und lachte schon wieder.

„Setzt euch“, bat Rylee und nickte zu den freien Stühlen. „Das ist Kairos“, erklärte sie. „Emmea, Squeech und Stephan. Ihr kennt Euch ja schon.“

„Stephan war so freundlich, mich zu dieser Herberge zu weisen“, bestätigte Kairos mit einem Kopfnicken.

Stephan sah müde aus. Er schien zwar mit Begeisterung den Hausbau zu überwachen, Rylee, die ihn schon einige Zeit kannte und ihm einmal recht nahe gestanden hatte, sah jedoch den Schmerz in seinen Augen. Erst vor wenigen Tagen hatte Nalani, seine Freundin, sich als Betrügerin entpuppt, die es auf sein beträchtliches Vermögen abgesehen hatte. Rylee nahm an, dass Nalani es geschafft hatte, einiges von Stephans Besitztümern auf die Seite zu schaffen. Sie respektierte jedoch, dass er nicht darüber sprechen wollte und fragte ihn nicht nach Einzelheiten.

Der Schamane ließ sich auf den Stuhl neben Kairos sinken. „Woher kamt Ihr eigentlich? Ich dachte, ich hätte Euch aus dem Wald auftauchen sehen, aber da findet man kilometerweit nichts als Bäume.“

Kairos sah ihn verwirrt an. „Woher? … Ich … weiß es nicht. Ich war plötzlich da, auf der Lichtung.“

Stephan setzte sich aufrecht. „Ihr wisst nicht, wie Ihr dorthin gekommen seid? Hat Euch jemand niedergeschlagen?“

Kairos hob, aufmerksam von allen Anwesenden beobachtet, die golden schimmernde Hand und strich sich über das glänzende Haar. „Ich glaube nicht“, sagte er dann. „Ich spüre keinen Schmerz. Es ist, als wäre ich aus einem tiefen Schlaf erwacht. Als hätte mich etwas gerufen.“

Rylee sah irritiert von Stephan zu Maj. „Was hat Euch gerufen?“, fragte sie nach.

Kairos wandte sich ihr zu. „Keine Ahnung. Etwas … oder jemand.“ Er hob hilflos die Schultern. „Aber niemand war da. Ich habe gewartet, und, als ich Hunger bekam, bin ich losgelaufen.“

„Vielleicht könnt Ihr mich zu der Lichtung bringen?“, fragte Stephan. „Möglicherweise finden wir dort etwas, das auf Eure Herkunft schließen lässt.“

Kairos überlegte einen Moment. „Ich kann mich nur noch an die ungefähre Richtung erinnern und weiß nicht, ob ich sie wiederfinde. Und ich habe mich gründlich auf der Lichtung umgesehen, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe, um irgendwo Menschen zu finden. Es stehen einige bearbeitete Steine dort, aber sonst konnte ich keinen Hinweis auf meine Herkunft entdecken.“

Stephan erklärte: „Ich bin Schamane und verfüge über einige besondere Fähigkeiten. Vielleicht kann ich durch sie etwas mehr erfahren.“ Er stand auf.

„Jetzt?“, fragte Rylee überrascht. „Es wird bald dunkel! Möchtest du nichts mehr essen?“

„Nein danke. Aber du hast recht. Heute ist es zu spät. Ich werde jetzt nach Hause gehen und mir die Lichtung morgen früh, wenn es hell wird, ansehen.“

„Ich komme mit“, erklärte Rylee und rief damit ein Lächeln bei Stephan hervor.

Der Morgentau durchnässte ihre Jeans, und Rylee fluchte innerlich, dass sie wider besseren Wissens auf Stiefel verzichtet hatte. Es war kalt, und sie hoffte, dass die Sonne Wärme bringen würde. Noch stand sie jedoch nicht hoch genug, um mit ihren Strahlen durch die hohen Baumkronen zu dringen.

Kairos hatte sie begleiten wollen, sich aber heute Morgen schwach und schwindelig gefühlt. So waren sie alleine losgezogen, unter Zuhilfenahme einer vagen Richtungsangabe und Stephans Verbindung mit der sie umgebenden Natur.

Die Lichtung lag tiefer im Wald, als sie angenommen hatte. Eine Zeit lang waren Stephan und sie einem schmalen Pfad gefolgt, dann hatten sie diesen verlassen und sich ihren weiteren Weg durch das lichte Unterholz gebahnt.

Endlich traten sie aus dem Dunkel des Waldes auf eine kreisrunde grasbewachsene Lichtung.

„Das muss sie sein“, sagte Stephan und schloss die Augen. „Irgendetwas ist hier anders als in der Umgebung.“

„Da ist eine Art Steinkreis“, sagte Rylee und deutete in die Mitte des Areals. Sie ging vorsichtig näher und blieb am Rande eines angedeuteten Kreises aus unregelmäßigen, etwa kopfgroßen Steinen stehen. Das Gras war hier kürzer, wirkte aber, als wäre es ausgerissen, statt maschinell geschnitten worden. In der Mitte des Kreises befand sich ein etwas größerer, flacher Stein, auf dem einige aus der Entfernung unidentifizierbare Gebilde lagen.

 

Stephan trat näher heran und nickte. „Das ist es, was ich eben gespürt habe. Eine von Menschen gemachte Stätte. Nur … wozu dient sie?“

Rylee sah sich beklommen um. Der Wald schien ihr auf einmal düster, und sie dachte an das Böse, das erst kürzlich versucht hatte, sie tiefer hinein zu locken. Ihre Hand umklammerte den Hüterinnenschlüssel in ihrer Tasche. Sie wünschte, Boh wäre jetzt hier, schalt sich dann jedoch. Stephan war bei ihr und wusste sich zu verteidigen. „Sind das Opfergaben?“, fragte sie und trat widerwillig über den äußeren Kreis. „Hoffentlich keine toten Tiere.“

Stephan schüttelte den Kopf. „Ich fühle hier keine dunkle Magie.“ Er bückte sich und betrachtete die Gegenstände auf dem Stein aus der Nähe. „Zusammengebundene Pflanzen, Nüsse und Früchte. Seltsam, dass sie noch nicht von Tieren weggeholt wurden. Vermutlich liegt tatsächlich eine Art Schutz darüber. Fühlst du etwas?“

„Außer einer Gänsehaut gar nichts. Aber das geht mir momentan im Wald immer so.“

Er richtete sich auf. „Aber was hat das mit Kairos zu tun? Wieso ist er hier auf der Lichtung ohne Erinnerung an sein vorheriges Dasein erwacht?“

Rylee sah sich ratlos um. „Vielleicht wurde hier mit Drogen experimentiert, und er erinnert sich deshalb an nichts.“

„Wenn ja, warum sollten sie ihn hier alleine zurücklassen?“

„Keine Ahn …“, begann Rylee und fuhr dann herum. „Was war das?“

Auch Stephan hatte das Geräusch eines knackenden Zweiges gehört und starrte in den Wald. „Jemand ist da draußen“, flüsterte er.

„Ein Tier vielleicht?“, fragte Rylee hoffnungsvoll, doch er schüttelte den Kopf.

Bevor Rylee ihn bitten konnte, die Lichtung zu verlassen und zum Haus zurückzugehen, sank Stephan mit einer geschmeidigen Bewegung in die Hocke und schloss die Augen. Eine geisterhafte Gestalt in Form eines grauen Wolfes löste sich aus seinem Körper und rannte Richtung Wald. Rylee hatte schon von der Geistergestalt der Schamanen gehört, sie aber noch nie in dieser Form erblickt. Staunend sah sie von Stephan, der unbeweglich verharrte, zu der davon rennenden Gestalt.

Nach etwa einer Minute, in der sie sich kaum zu regen wagte, um Stephan nicht abzulenken, kam der Geisterwolf aus dem Wald geschossen, rannte auf den Schamanen zu und verschmolz wieder mit ihm.

Stephan schüttelte sich, als würde er erwachen, öffnete die Augen und erhob sich mit einer fließenden Bewegung.

„Zwei Jugendliche verstecken sich da hinten in einem Gebüsch und beobachten uns“, sagte er leise.

„Vermutlich haben sie dich nicht gesehen, sonst wären sie wohl panisch davon gerannt“, sagte Rylee trocken. „Ich nehme an, Wölfe sind hier nicht allzu häufig und schon gar nicht durchsichtige.“

Er lächelte. „Das stimmt. Lass uns sehen, warum sie sich verstecken. Ich spüre, dass sie etwas mit dem, was wir hier gefunden haben, zu tun haben. Ich gehe links herum, du rechts.“

Rylee nickte zweifelnd. Sie hielt es für keine gute Idee, sich zu trennen, war jedoch neugierig, was das alles bedeutete.

Sie wandte sich nach rechts und stieß am Rand der Lichtung auf einen kleinen Pfad, der erst erkennbar war, als sie direkt vor ihm stand. Er war fast zugewachsen, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er in letzter Zeit benutzt worden war. Ein kleiner Zweig war abgeknickt, und an einer Stelle war die Andeutung eines Fußabdrucks zu erkennen.

Sie folgte dem Pfad einige Meter in den Wald hinein, blieb dann stehen und lauschte. Sie nahm jedoch nichts wahr außer Vogelgezwitscher und dem Summen von Insekten. Plötzlich hörte sie links von sich ein lautes Rascheln und einen unterdrückten Schrei. Sie bog vom Pfad ab und bahnte sich einen Weg durch die Büsche.

„Ich habe sie!“, brüllte Stephan keine Sekunde später.

Sie fand ihn nur einige Meter weiter neben einem Haufen Findlinge. Seine rechte Hand hielt das Handgelenk eines mageren, etwa neunjährigen Jungen fest, die Linke den Oberarm eines noch magereren, höchstens dreizehnjährigen Mädchens. Beide trugen schmutzige Jeans und T-Shirts, die ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatten. Die des Mädchens waren rosa, die des Jungen hellblau. Obwohl einige Jahre zwischen ihnen zu liegen schienen, sahen sie sich so ähnlich, dass es sich bei ihnen um Geschwister handeln musste.

„Lassen Sie uns los!“, rief das Mädchen wütend und versuchte, ihren Arm aus Stephans Griff zu befreien. Ihre mausbraunen Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht.

„Ganz ruhig“, sagte er und hielt sie mit Leichtigkeit fest. „Wir möchten nur wissen, was ihr hier macht und warum ihr euch vor uns versteckt.“

„Das geht Sie gar nichts an!“ Die Stimme des Mädchens war schrill. „Der Wald gehört Ihnen nicht!“

Stephan lächelte breit. „Das siehst du falsch. Ich habe gar nichts dagegen, dass ihr hier seid. Ich möchte aber wissen, was es mit der Lichtung auf sich hat.“ Er hielt sie weiter fest.

Sie starrte ihn mit großen Augen an. „Der Wald gehört Ihnen?“

„Aber ja. Soll ich dir die Besitzurkunde zeigen?“

Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Ihr junger Begleiter wirkte so eingeschüchtert, dass Rylee Angst hatte, er würde in Ohnmacht fallen.

„Wir … wir haben nichts gemacht“, stieß er schließlich hervor.

Rylee hatte Mitleid mit den beiden traurigen Gestalten. „Sagt zuerst einmal, wie ihr heißt.“

„Ich bin Manuel“, sagte der Kleine und wies auf das Mädchen „Das ist meine große Schwester Milla.“ Sie funkelte ihn wütend an.

Rylee ignorierte sie und wandte sich an Manuel. „Wo wohnt ihr? Im Dorf?“

Der Junge drehte sich um und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. „Wir kommen aus Sprikewoog.“

Stephan fragte erstaunt. „Aber das liegt mindestens fünfzehn Kilometer in östlicher Richtung.“

„Na und?“, antwortete das Mädchen schnippisch. „Wir sind mit dem Fahrrad bis zum Wald gefahren. Da wohnt unsere Oma. Man läuft von dort aus nur etwa eine halbe Stunde bis hierher. Könnten Sie uns jetzt bitte endlich loslassen?“

„Versprecht ihr, nicht wegzulaufen?“

Während der Junge heftig den Kopf hob und senkte, nickte sie widerwillig. Stephan löste seinen Griff, ließ sie aber nicht aus den Augen. „Also, was ist an der Lichtung so interessant, dass ihr den weiten Weg auf euch genommen habt?“

„Sie ist verzaubert!“, stieß der Junge mit großen Augen hervor.

Rylee sah Stephan überrascht an.

„Was meinst du mit verzaubert?“, wandte er sich an den Jungen.

„Unsere Oma sagt, die Waldgeister leben hier. Und wenn man ihnen Opfer darbringt, helfen sie einem und machen einen außerdem reich. Ich habe Kastanienmännlein für sie gebaut und auf den Stein gelegt.“

Das Mädchen schnaubte höhnisch.

Stephan warf ihr einen scharfen Blick zu. „Wenn du ihm nicht glaubst, warum bist du dann hier?“

„Hier gibt es doch keine Waldgeister“, sagte sie abfällig. Dann senkte sie die Stimme und sah sich nach allen Seiten um. „Die Lichtung gehört dem Teufel“, flüsterte sie.

Rylee betrachtete sie. Natürlich hatte sie schon von Teenagern gehört, die den Teufel anbeteten. Sie glaubte nicht, dass ein ernsthafter Wunsch nach Kontakt mit dem Satan dahinterstand. Vermutlich war es eher der Reiz des Verbotenen, der Grusel, der ihnen einen Kick verschaffte. Doch die Kids hier wirkten anders. Sie waren nicht angezogen wie Gruftis, in Schwarz und mit Totenkopfohrringen, nicht mit hellrosa Jeans und Sneakers.

„Ich glaube, wir sollten uns mit eurer Oma unterhalten“, stellte Stephan fest und sah Rylee fragend an. „Kommst du mit oder musst du zurück zum Haus?“

„Maj kommt gut zurecht“, antwortete Rylee, von Neugier getrieben. „Mich interessiert sehr, was hinter der Geschichte steckt.“

Stephan wandte sich den Kindern zu. „Wenn ihr mir sagt, wo genau eure Großmutter wohnt, könnt ihr von mir aus eures Weges gehen.“

Unter wütenden Blicken des Mädchens sagte der Junge gehorsam die Adresse auf. Nachdem Stephan sie losgelassen hatte, verschwanden die beiden wie der Blitz im Wald. Stephan und Rylee untersuchten akribisch die Lichtung, fanden jedoch außer dem Steinkreis nichts Außergewöhnliches. Es sah nicht aus, als würden viele Menschen hierher kommen. Das Gras war nur an wenigen Stellen niedergedrückt und obwohl die Erde an manchen Stellen feucht und lehmig war, hatten sich keine Fußspuren dauerhaft eingegraben.

„Ich frage mich, wieso die Lichtung nicht zuwächst“, sagte Rylee nachdenklich. „Sie sieht weitgehend unberührt aus, und müsste eigentlich im Laufe der Zeit zuwuchern. Aber die Büsche scheinen nicht über den Rand der Lichtung zu wachsen. Sie ist fast kreisrund, wie abgeschnitten. Als hätte sie jemand bewusst so angelegt.“

Stephan war einige Schritte am Übergang von der Lichtung zum Wald entlang gelaufen. „Ich spüre Magie, aber von einer Art, die ich nicht kenne. Sie fühlt sich für mich weder gut noch böse an. Ich glaube nicht, dass wir hier noch mehr herausfinden werden. Lass uns zu der Großmutter der beiden Kinder fahren.“

Schweigend liefen Rylee und Stephan zurück zum Haus und stiegen in seinen Wagen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie ins Dorf gefahren und dort auf die Straße nach Osten abgebogen waren. Kurz vor Sprikewoog zweigte ein schmaler Weg ab, der bald in einen unbefestigten Feldweg überging. Vor einem winzigen windschiefen Häuschen hielten sie an und stiegen aus. Auf der wackeligen Veranda saß eine weißhaarige kleine Frau in einem Schaukelstuhl und rauchte Pfeife. Sie hob die freie Hand zum Gruß, nahm noch einen Zug und begrüßte sie dann mit kratziger Stimme. „Ich wusste, dass ihr mich eines Tages besuchen würdet.“

Rylee und Stephan sahen sich an. Dann traten sie näher an die wackelig wirkende Veranda. „Ihr wisst, wer wir sind?“, fragte Rylee.

Die Alte wies mit der Pfeife auf Stephan. „Den kenne ich nicht, aber Ihr seid das Mädchen, das das verwunschene Haus bewohnt.“

Rylee sah noch einmal unsicher zu Stephan. Dann blickte sie wieder zu der Frau. „Was meint Ihr mit verwunschen?“

Ein Kichern war die Antwort. „Stell dich nicht dumm, Mädchen! Einer alten Frau wie mir kannst du nichts vormachen. Ich kenne das Haus seit Langem. Ja, ich weiß, dass es für andere normal aussieht, wenn sie es überhaupt sehen.“ Sie machte eine Pause und zog an der Pfeife. Rylee bemerkte, dass ihr keinerlei Rauch entströmte. Als hätte die Alte ihre Gedanken erraten, sagte sie: „Ich habe es mir abgewöhnt. Aber es passt einfach zum Image, findest du nicht?“ Bevor Rylee etwas sagen konnte, sprach sie weiter. „Im Dorf halten mich alle für eine Hexe!“ Sie kicherte wieder. „Was ich sagen wollte: Ich wusste nie, was es mit dem Haus auf sich hatte, aber ich wusste immer, dass es verzaubert ist. Als ich viel jünger war …“ Sie sah in die Ferne. „Das muss so Anfang des vorigen Jahrhunderts gewesen sein. Ich habe einmal versucht, es zu betreten.“ Sie rieb sich abwesend den Arm. „Es hat mich nicht hereingelassen.“

Dann sah sie Rylee direkt an. Ihr Blick schien unmittelbar in ihr Innerstes vorzudringen. „Was wollt ihr von der alten Theklia?“

Rylee hatte vor nicht allzu langer Zeit einen ganzen Hexenalkoven zu Gast gehabt. In dieser Zeit war die Freundschaft zu Evanora entstanden. War diese Hexe hier echt oder nur eine alte Frau, der es Spaß machte, sich mysteriös zu geben?

„Seid Ihr denn eine echte Hexe?“, fragte Rylee direkt und erntete abermals ein Kichern.

„Du weiß, wovon du sprichst, Kind. Aber sagt mir zuerst, was ihr hier wollt.“

Stephan übernahm die Antwort. „Wir sind im Wald auf Eure Enkel gestoßen und auf eine merkwürdige Lichtung. Sie waren wohl dort, um etwas zu beschwören, sind sich allerdings uneins, was. Manuel geht es um hilfreiche Waldgeister, während Milla mehr am Teufel interessiert ist.“

Die Alte wurde schlagartig ernst und fluchte. „Ich habe ihnen verboten, die Lichtung zu besuchen. Niemand weiß, was dort alles hervorkommt.“

„Nun“, sagte Stephan, „das mit dem Verbieten hat offensichtlich nicht geklappt. Sie haben Opfergaben im Steinkreis deponiert. Kurz darauf ist ein Mann in der Nähe von Rylees Haus erschienen, der nichts außer seinem Namen wusste. Er kam ganz offensichtlich von der Lichtung. Was wisst Ihr darüber?“

„Wovon sprecht Ihr?“, fragte sie und gab sich erstaunt. „Ich war seit Jahrzehnten nicht an diesem Ort. Früher erzählte man, dort sei die Grenze zwischen unserer Realität und anderen Welten äußerst dünn und könnte durchbrochen werden. Aber das Wissen darum ist lange vergessen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte nicht mit meinen Urenkeln darüber sprechen sollen. Ich hätte mir denken können, dass meine Warnung sie erst recht dazu bewegt, dorthin zu gehen.“

 

„Kann es sein“, sagte Rylee langsam, „dass ihre Opfergaben etwas oder jemanden herbei gerufen haben?“

Die Alte sah einen Moment nachdenklich in den Wald. „Ich halte es für extrem unwahrscheinlich. Allerdings … wenn sie zufällig die richtigen Kräuter verwendet haben …“ Sie zögerte, bevor sie weitersprach. „Und auf der anderen Seite jemand oder etwas gewartet hat … sich zurückgesehnt hat … dann …“ Sie sah Rylee in die Augen. „Dann könnte etwas herübergekommen sein. Lasst uns hoffen, dass es etwas Gutes ist und nichts Dunkles.“

Mehr war aus der Alten nicht herauszubekommen. Obwohl sowohl Stephan als auch Rylee sie mit weiteren Fragen bombardierten, um Hilfe baten und an ihr Gewissen appellierten, blieb sie stumm, schüttelte nur den Kopf und schaukelte, an ihrer Pfeife kauend, vor sich hin.

Erst als sie sich zum Gehen gewandt hatten und schon im Begriff waren, ins Auto zu steigen, hörte Rylee hinter sich eine Stimme, die völlig anders klang, als die der alten Frau. „Hüte dich vor dem Bösen im Wald!“, sagte sie und der merkwürdige Hall ließ Rylee erschaudern. Sie schoss herum und sah, dass die Alte kerzengerade in ihrem Stuhl saß, die Augen verdreht und schneeweiß. „Hüte dich!“, sagte sie noch einmal, dann sackte sie in sich zusammen. Rylee wollte zu ihr eilen, hörte jedoch im nächsten Moment ein sanftes Schnarchen. Sie zögerte, drehte sich dann zum Wagen um und stieg ein.

Stephan saß am Steuer und sah sie fragend an. „Was war?“, erkundigte er sich.

Rylee antwortete erstaunt. „Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?“

Er runzelte die Stirn. „Gesagt? Sie hat gar nichts gesagt.“

Rylee öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und ließ sich im Sitz zurücksinken. Ihr war eiskalt.

Beide schwiegen die Fahrt über. Als sie sich Securus Refugium näherten, beugte Rylee sich ruckartig vor. „Das gibt es doch nicht“, rief sie wütend.

„Der Blutsauger“, stellte Stephan fest und wirkte überrascht.

„Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen?“, sagte sie und öffnete die Autotür, bevor Stephan den Wagen richtig zum Stehen gebracht hatte.

Vlad stieg gerade aus der Beifahrertür seines Mercedes. In der Hand hielt er eine Reisetasche. Rylee schoss auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. Sie versuchte, den Eindruck, den seine hochgewachsene Gestalt auf sie machte, zu verdrängen.

„Was willst du hier?“, schrie sie ihn an. All ihr aufgestauter Schmerz entlud sich auf einmal. „Habe ich dir nicht klar gemacht, dass ich dich nicht mehr sehen will? Und deinen Brief kannst du dir sonst wohin stecken. Ich soll Vertrauen haben? Dass ich nicht lache.“

Er neigte den Kopf und sah mit unbewegtem Gesicht auf sie herab. Trotz ihres Zorns machte ihr Herz einen kleinen Satz, als sie in seine Augen sah.

Dann verzog er spöttisch den Mund. „Geht deine offensichtliche Abneigung so weit, dass du mir nicht einmal gestattest, das Portal zu benutzen?“

Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und setzte erneut zum Sprechen an. „Das Portal?“, sagte sie und schluckte. „Du willst durch das Portal reisen?“

„Was hast du denn gedacht?“, fragte er kühl. „Du hast sehr deutlich gemacht, dass du keinen Besuch aus anderen Beweggründen wünschst.“

Sie trat einen Schritt zurück und spürte Stephan neben sich. Vlad maß ihn mit einem langen Blick. „Ich sehe, dass der Baumstreichler die Gelegenheit genutzt hat …“, sagte er gefährlich leise.

Stephan richtete sich auf. „Wenn ich Rylee richtig verstanden habe, geht es dich nichts mehr an“, sagte er ebenso ruhig.

Vlad musterte ihn eine Weile und nickte dann.

„Du magst recht haben.“ Dann wandte er sich an Rylee. „Was ist jetzt? Lässt du mich das Portal benutzen?“

Rylee hätte ihm am liebsten erklärt, er möge sich zum Teufel scheren, hielt sich jedoch zurück. Sie würde ihm nicht aus gekränktem Stolz den Zugang verwehren. „Natürlich“, sagte sie deshalb knapp und wandte sich zum Tor.

Securus Refugium reagierte irritiert und fragend. Noch vor kurzer Zeit hatte sie es angewiesen, Vlad keinesfalls Zutritt zu gewähren. Sie beruhigte es und erklärte ihm in Gedanken die Situation. Das Haus entspannte sich und gestattete es Vlad, ihr voran das Gartentor zu durchqueren. Schweigend gingen sie gemeinsam in den Keller zum Portalraum. „Wohin?“, fragte sie knapp.

Wortlos drückte er ihr einen Zettel in die Hand. „Diese Koordinaten. Die unterste Zeile ist der Code, den du eingeben musst.“

Schweigend tippte sie die Daten ein und wartete auf Antwort. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Bestätigung kam. Rasch trat sie an den Rahmen und drückte die entsprechenden Symbole. Ein gleißendes Licht erleuchtete den Raum bis in die hintersten Ecken.

Vlad trat darauf zu, blieb aber stehen, bevor er ins Licht trat. „Rylee“, sagte er und etwas Undefinierbares schwang in seiner Stimme mit.

„Gute Reise“, sagte sie knapp und vermied es, ihn anzusehen.

Er seufzte und stieg in den Rahmen. Einen Sekundenbruchteil später hatte das Portal ihn verschluckt.

Rylee atmete tief aus und wandte sich zum Gehen. Stephan lehnte am Türrahmen und beobachtete sie. „Sag nichts“, beschied sie ihn und lief an ihm vorbei. „Lass uns nach oben gehen und überlegen, was wir Kairos sagen.“

Er folgte ihr in die leere Küche und ließ sich am Tisch nieder. „Glaubst du, er sei wirklich durch die Opfergaben beschworen worden? Aber woher? Aus einer anderen Dimension?“

Sie stellte eine Flasche Wasser auf den Tisch, setzte sich neben den Schamanen und rieb sich die Augen. „Ich habe keine Ahnung. Auf jeden Fall weiß er offensichtlich nicht, woher er kommt und was er ist und vermutlich noch weniger, wo er hinwill. Ich würde ihm gerne irgendwie helfen.“ Sie seufzte. „Als ob ich im Moment keine anderen Sorgen hätte.“

„Vlad?“, fragte er und verbarg nur ungenügend seine Neugier.

Zu ihrem Ärger spürte Rylee, wie sie rot wurde. „Das ist vorbei“, sagte sie abweisend. „Nein, ich meinte mehr diesen Jemand oder dieses Etwas, das mich im Wald angegriffen hat. Die alte Frau hat mich eben noch einmal eindringlich davor gewarnt.“

Sie sah seinen verständnislosen Blick und erzählte ihm von der Prophezeiung.

Stephan rieb sich nachdenklich das wie immer makellos glatt rasierte Kinn. „Vielleicht sollten wir den Wald durchsuchen und nachts Wachen aufstellen.“

Rylee winkte ab. „Sowohl das Haus als auch die Katzen wachen ausgezeichnet über mich. Ein direkter Angriff ist nur erfolgt, als ich mich einmal spätabends ein gutes Stück vom Haus entfernt aufgehalten habe. Ich habe allerdings keine Lust, das Haus nicht mehr alleine verlassen zu können. Aber wer sollte mir Böses wollen?“

Er schwieg einen Moment und wirkte grüblerisch. „Du bist sicher, dass Percival dir nicht dein Haus und das Portal neidet?“

Überrascht sah sie ihn an. „Wie bitte? Das glaube ich nicht! Ich halte ihn für einen ehrlichen, integren Hüter. Selbst wenn er es mir neiden würde, was ich nicht glaube, bin ich sicher, dass er mich nicht hinterhältig angreifen würde. Außerdem war er zur Zeit des Angriffs im Haus, und er kennt hier niemanden.“

Stephan nickte. „Du hast sicher recht. Und was du über den Sirenengesang und das grüne Blut erzählst …“

„Passt nur zu fünf außerirdischen Völkern, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, und von denen mir, zumindest soviel ich weiß, noch nie einer begegnet ist!“, vervollständigte sie seinen Satz. Sie zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und schob ihn über den Tisch.

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