Buch lesen: «Im Austausch mit der Welt»

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Zum 150-Jahre-Jubiläum von Economiesuisse, Verband der Schweizer Unternehmen, 1870–2020


Impressum

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Umschlagbild: Die «Palme», das Handelsschiff der Basler Missions-Handlungs-Gesellschaft, vor der westafrikanischen Küste, um 1867, nach einem Ölgemälde von Oltmann Jaburg.

Lektorat: Stephanie Mohler,

Hier und Jetzt

Gestaltung und Satz: Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich

Bildbearbeitung: Benjamin Roffler, Hier und Jetzt

Das Buch erscheint gleichzeitig in französischer Sprache: En dialogue avec le monde. Les entreprises suisses au XIXe et XXe siècles ISBN Druckausgabe 978-3-03919-517-6 ISBN E-Book 978-3-03919-969-3

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-516-9

ISBN E-Book 978-3-03919-968-6

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

© 2021 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz

www.hierundjetzt.ch

Inhalt

Vorwort

Schweizer Unternehmen in der Weltwirtschaft: Pioniere der Globalisierung

Das «Freihandelsabkommen» von Marignano: Aussenwirtschaft, Unternehmertum und Bürgerkorporationen

Subsidiarität, Souveränität, Selbstbestimmung

Das kaufmännische Directorium St. Gallen-Appenzell

Die napoleonische Kontinentalsperre (1803–1813): die Schweiz im globalen Wirtschaftskrieg

Die Groupe de Coppet und die liberale Geisteshaltung

Der Triumph des Liberalismus (1830–1869): die Grundlagen des Wohlstands

Der Bowring-Report von 1836

Peter Jenny (1824–1879)

Vom christlichen Unternehmer zur Corporate Social Responsibility and Sustainability

Die Berufslehre

Der Schweizer Franken

Die Gründung des Schweizerischen Handels- und Industrievereins

Vom Vorort zur Geschäftsführung

Die Special Interest Groups im Staat

Der Verband als staatsbildende Institution im 19. Jahrhundert

Die erste Globalisierung nach der Eröffnung des Suezkanals 1869: die vernetzte Schweiz

Wie Kaufleute zu Investoren wurden

Vom Tourismusland der Belle Époque zum Land der internationalen Organisationen

Kaufleute des Friedens: die Gründung einer internationalen Handelskammer

Von der Zentrale für Handelsförderung zu Switzerland Global Enterprise

Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre: Bankgeheimnis und Frankenabwertung

Courant normal im Zweiten Weltkrieg: die Ursprünge des Neoliberalismus

Hans Sulzer (1876–1959)

Die Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft

Die internationale Schweiz der Nachkriegszeit: GATT, OECD und EFTA

Heinrich Homberger (1896–1985)

Die rechtlichen Grundlagen für die politische Rolle des Verbands

Der Vorort, die Wirtschaftsförderung und der Neoliberalismus

Der Vorort und der Sozialstaat

Heimliches Imperium? Das Unbehagen im reichsten Kleinstaat der Welt

Der Mord an Hanns Martin Schleyer

Der Vorort unter Druck von rechts und links: Polarisierung der Innenpolitik

Richard Reich (1927–1991)

Gerhard Winterberger (1922–1993)

Die Schweizer Uhrenindustrie: Zugpferd und Sorgenkind

Wirtschaftsverbände der Schweiz

«Small is beautiful»: Der Vorort nimmt sich der KMU an

Der Verband und die internationale Wirtschaftspolitik der 1990er-Jahre

Sonderfall Schweiz: der Vertrag von Maastricht und ein diplomatisches Marignano

Martine Brunschwig Graf (*1950)

Die Ständige Wirtschaftsdelegation

Economiesuisse im 21. Jahrhundert: Rückbesinnung auf liberale Grundwerte

Monika Rühl (*1963)

Johann Schneider-Ammann (*1952)

Vereinsmitglieder von Economiesuisse

Businesseurope und Business at OECD

Die Aufgaben von Economiesuisse in der Zukunft: im Austausch mit der Welt

Negativzinsen und die natürliche Zinsrate

Young Enterprise Switzerland und Junior Chamber International Switzerland

Das Swiss Economic Forum und das World Economic Forum

Links und rechts

Thinktanks

Abkürzungsverzeichnis

Quellen und Literatur

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Zeittafel

Autorin

In most of the manufacturing cantons of Switzerland the power of legislation is not only indirectly, but directly, in the hands of the whole body of the people. Were their commercial economy opposed to the common interest, it could not exist for a day. Sir John Bowring, 1836

Vorwort

Im Jahr 2020 hätte Economiesuisse, der weltweit älteste nationale Unternehmerverband, sein 150-Jahre-Jubiläum gefeiert. Doch aufgrund der Corona-Krise mussten alle geplanten Jubiläumsaktivitäten auf das nachfolgende Jahr verschoben werden. Entweder war das Risiko von weiteren Ansteckungen mit dem Virus zu hoch oder grössere Veranstaltungen waren zeitweise gar nicht mehr erlaubt. Trotzdem lohnt es sich, kurz innezuhalten und uns zu besinnen, wie die Schweizer Unternehmen bisher auf Krisen reagiert und diese mit freiheitlichem Unternehmertum gemeistert haben.

Die Gründung unseres Verbands erfolgte am 12. März 1870 im Hinblick auf die Totalrevision der Verfassung des noch jungen Schweizerischen Bundesstaates. Exponenten der kantonalen Handelskammern gründeten einen nationalen Verein, um die Anliegen der Unternehmen vertreten zu können. Als ein europaweites Novum schrieb sich die Schweiz die freie Marktwirtschaft in die Verfassung von 1874. Die «Handels- und Gewerbefreiheit», so der etwas sperrige Ausdruck, sollte auf dem gesamten Gebiet der Eidgenossenschaft gelten. Allerdings legte unsere damalige Verfassung auch fest, dass die freie Marktwirtschaft in Notzeiten, zum Beispiel bei «Epidemien und Viehseuchen» (Art. 31b), eingeschränkt werden darf. Genau das haben wir in den vergangenen zwölf Monaten erlebt.

Während wir in «unserem» Jubiläumsjahr also einer Pandemie gegenüberstanden, fiel das 75-Jahre-Jubiläum auf den 12. März 1945, als der Zweite Weltkrieg noch in vollem Gange war. Als der Verband nach Kriegsende im September 1945 dem Jubiläum gedachte, lag Europa in Trümmern. Zum 100-jährigen Bestehen 1970 durfte der Verband hingegen auf ein bisher nie gesehenes Wirtschaftswachstum, das «Wirtschaftswunder», in ganz Europa zurückblicken.

Zum 150-Jahre-Jubiläum im Jahr 2020 dürfen wir aufgrund der aktuellen Pandemie mit Dankbarkeit feststellen: Die Schweiz funktioniert. Die oft als schwerfällig belächelte Vereins- und Verbandskultur des Landes hat sich in der Corona-Krise als konstruktive Kraft erwiesen. Allein im Bereich Wirtschafts- und Berufsverbände gibt es heute – arbeitgeber- und arbeitnehmerseitig – mehr als 1700 Organisationen, die für ihre Mitglieder praxistaugliche Lösungen ausarbeiten. Als Wirtschaftsdachverband repräsentiert Economiesuisse auf nationaler Ebene 20 kantonale Handelskammern, rund 100 Branchenverbände und rund 100 000 Unternehmen mit rund zwei Millionen Arbeitsplätzen in der Schweiz und nochmals über 2,1 Millionen Arbeitsplätzen im Ausland, viele davon im globalen Süden.

Die Schweiz ist nicht nur in Europa, sondern global stark vernetzt. Langfristige Investitionen, Know-how-Transfer und die Zusammenarbeit mit Menschen aus allen Kulturen der Welt sind für die Schweizer Unternehmen seit dem 19. Jahrhundert gelebter Alltag. Unsere offene Volkswirtschaft stand seit jeher im Austausch mit der Welt. Schweizer Kaufleute zogen nach Asien, Lateinamerika und Afrika, während Menschen aus aller Welt in der Schweiz eine neue Heimat fanden.

Doch Jubiläen sind verführerisch, sie verleiten zu Mythen und Legendenbildung. Das wollten wir nie, wenn wir 150 Jahre Economiesuisse feiern. Eine von Selbstbeweihräucherung durchströmte Nabelschau unseres Verbands hätte uns zutiefst widerstrebt. Nicht Eitelkeit hat uns angetrieben, sondern Neugier: Was offenbart uns ein kritischer, wissenschaftlich geschärfter Blick in die Archive? Was lehrt uns die Geschichte der Wirtschaftspolitik unseres Landes? Und vor allem: Welche Erfahrungen in der Vergangenheit können uns Orientierung geben in einer unsicheren Gegenwart?

Es freut uns, dass die Basler Wirtschaftshistorikerin Andrea Franc die Entwicklung der Schweizer Wirtschaftspolitik von der napoleonischen Kontinentalsperre bis zu Trumps America-First-Politik und die Rolle von Economiesuisse in dieser Entwicklung aufgearbeitet hat. In minutiöser Kleinarbeit hat sie die Archive des Verbands durchforstet und ihre Erkenntnisse zusammenfassend in den Kontext politischer und wirtschaftlicher Ereignisse in der Schweiz der vergangenen 200 Jahren gestellt.

Wir wünschen uns mit diesem Buch, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, durch den Unternehmermut unserer Vorfahren inspiriert werden und mit Tatkraft die anstehenden Herausforderungen meistern.

Zürich, im Februar 2021

Christoph Mäder, Präsident Economiesuisse

Monika Rühl, Vorsitzende der Geschäftsleitung Economiesuisse

Schweizer Unternehmen in der Weltwirtschaft
Pioniere der Globalisierung

Warum ist die Schweiz das wohlhabendste und politisch stabilste Land der Welt? Weil sie lange – Polemiker mögen sagen, sogar heute noch – gar kein eigentliches «Land» war. Es fehlte ein König, eine dominierende Partei oder Ethnie, ein mit Vetorecht ausgestatteter Präsident, sprich: ein planender Zentralstaat mit einer Agenda. Noch heute haben viele Schweizerinnen und Schweizer Mühe, die Namen der sieben Bundesräte auf Anhieb korrekt aufzuzählen. Die Menschen haben stets selbst die Politik bestimmt, die ihnen zugutekam. Seit Jahrhunderten tragen auf dem Gebiet der Schweiz die kleinstmöglichen Gemeinschaften die Verantwortung für ihr eigenes Wohlergehen und haben stabile und gleichzeitig dynamische Institutionen geschaffen, die Frieden, Sicherheit und Wohlstand garantieren. Unternehmer wurden von keiner ausgabefreudigen und besserwisserischen Obrigkeit durch Steuern und Vorgaben behindert, aber sie mussten sich dafür selbst um aussenpolitische Belange kümmern. Schon im Spätmittelalter handelte die Eidgenossenschaft Abkommen mit europäischen Herrschern aus. Im 19. Jahrhundert, mit der zunehmenden Industrialisierung und Globalisierung, kümmerten sich Unternehmer der Schweizer Kantone um zahlreiche staatliche Belange, angefangen beim Postwesen über den Abschluss von Handelsverträgen mit den Königshäusern Europas bis zu diplomatischen Missionen im damaligen Konstantinopel oder in Schanghai. So erstaunt es nicht, dass der Schweizerische Unternehmerverband Economiesuisse mit dem Gründungsjahr 1870 der mit Abstand älteste (und innenpolitisch bedeutendste) Unternehmerverband der Welt ist. Zudem baut der nationale Verband auf noch länger bestehenden kantonalen Handelskammern auf, deren Geschichte teilweise bis ins Mittelalter zurückreicht. Interessanterweise ging die wirtschaftliche Innovation allerdings oft von der bürgerlichen Mittelschicht in den Städten aus, notabene Untertanen, die erst 1798 in der Helvetischen Republik Mitsprache erhielten. Auch Flüchtlinge aus ganz Europa brachten über Jahrhunderte hinweg Kapital und Know-how in die Schweiz. Innovative Unternehmerfamilien konnten jedoch über Generationen hinweg zum Teil des Patriziats werden, indem sie das Bürgerrecht einer Stadt erwarben. Die meisten eidgenössischen Orte waren patrizisch geprägt und ausgerechnet die direktdemokratischen Landsgemeindeorte in der Innerschweiz waren ökonomisch strukturschwach und haben kaum Innovation hervorgebracht.

Das Primat der unternehmerischen Freiheit vor der politischen Agenda eines Zentralstaates entstand eigentlich aus der Not. Man besinne sich: Die Urschweiz ist eine unwegsame Felsengegend, die zu Zeiten des Rütlischwurs von den Habsburgern teilweise gar nicht erst besteuert wurde, weil sich der mühselige Ritt in eine solch arme Gegend für die Steuereintreiber schlicht nicht lohnte. Es fehlte das politische Glanz und Gloria einer geschichtsträchtigen Monarchie, das die grossen Feldherren militärisch provoziert hätte. Die Provokation, die Rolle der Schweiz als kleines Land mitten in Europa, das sich der politischen europäischen Institution nicht unterordnet, ist neu und entstand erst langsam im Rahmen der Verhandlungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) als eines «freien» Zusammenschlusses 1960, wobei die Schweiz mit Grossbritannien federführend war. Wiederum entstand diese Rolle der Schweiz aus der Not: Nichts verabscheuen Unternehmer – klein, mittel oder gross – mehr, als politische Aufmerksamkeit zu erregen. Vor dem Hintergrund der langjährigen Zusammenarbeit der Schweiz mit Grossbritannien ausserhalb der EWG und des am 1. Februar 2020 vollzogenen Austritts der Briten aus der Europäischen Union (EU) erstaunt es nicht, dass es liberale britische Denker waren, die sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die freihändlerische Tradition der Schweiz interessierten. In den 1830er-Jahren bereiste der britische Unterhausabgeordnete Sir John Bowring mehrere Kantone der Schweiz, besuchte Rathäuser, Manufakturen, Schulen und Gefängnisse und unterhielt sich eingehend mit den Präsidenten der kantonalen Handelskammern. Dies tat Bowring notabene zu einer Zeit, als die Schweiz ein armes Auswanderungsland war, gleichzeitig aber die liberalen Grundlagen für den späteren Wohlstand gelegt wurden. Der Bowring-Report von 1836 zeigt auch noch im 21. Jahrhundert eindrücklich, was den «Wesenskern des Liberalismus» und damit die Schweiz ausmacht: Der Wohlstand der Nation basiert auf den Myriaden von Entscheidungen einzelner Menschen, die im Kleinen Verantwortung übernehmen. Nicht ein absolutistischer Herrscher bestimmte die Geschicke des Landes, sondern unzählige Ratsherren, Bürgerkorporationsvorsitzende, Tagsatzungsabgeordnete, Kommissionsmitglieder, Gemeinderäte, Kantons- und Bundespolitiker, Verbandsdirektoren, aber auch Arbeiter, Bauern und Hausfrauen. Das letzte Wort hatte in manchen Kantonen die Landsgemeinde, im Bundesstaat das Volk. Kantonale Handelskammern gründeten 1870 einen nationalen Verein, den Schweizerischen Handels- und Industrieverein (SHIV), heute Economiesuisse, doch bis ins 20. Jahrhundert bedeutete dies einzig, dass jeweils eine kantonale Handelskammer im Rotationsprinzip wie in der Alten Eidgenossenschaft den Vorort übernahm, sprich, die anderen Kammern erst konsultierte und danach die Geschäfte führte.

Was sind die von Vorortspräsidenten stets beschworenen liberalen Grundwerte? Das Wort «liberal» lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen und bezeichnet in einem allgemeinen Sinn ein respektvolles und tolerantes Verhalten gegenüber anderen. Der Denktradition des Liberalismus liegt das in der Aufklärung entwickelte Verständnis der Freiheit des Einzelnen zugrunde. Der Liberalismus ist das Gegenstück zum Autoritätsprinzip und verlangt kritische Prüfung anstatt Gehorsam gegenüber dem Dogma. Auf staatlicher Ebene bedeutet Liberalismus, dass eine Regierung ihre Macht erst durch Zustimmung erhält und alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Die Freiheit des Individuums im Liberalismus ist untrennbar mit der Übernahme von Verantwortung und dem Streben nach Glück verbunden. Schweizer Unternehmen stehen für diese Werte. Sie sind nicht verhandelbar. Allerdings wurde die konkrete Umsetzung dieser liberalen Werte im Verband zuweilen neu kalibriert. Ein Beispiel dafür sind die unterschiedlichen Haltungen des Vorortspräsidenten Hans Sulzer und des Vorortsdirektors Heinrich Homberger während der Blockadepolitik der Alliierten gegenüber der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.

Der moderne Nationalstaat Schweiz entstand zur gleichen Zeit wie der SHIV. Der Verband wirkte staatsbildend. In den ersten Jahrzehnten des Bundestaates forderte der Vorort den Ausbau des Handelssekretariats und scheiterte. Ein Grund für dieses Scheitern war, dass der Vorort anfänglich lediglich einen Zusammenschluss von Grossindustriellen und Bankiers vertrat. Dass der Vorort im jungen Bundesstaat mit manchen modernen aussenwirtschaftlichen Anliegen auf Ablehnung stiess, ist Ausdruck des schweizerischen Föderalismus. Dieser ist eben nicht nur geografisch zu verstehen, sondern auch in Bezug auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Die Nation an sich, und damit der Wohlstand der Nationen, ist ein modernes Konzept, das untrennbar mit der Industrialisierung, dem internationalen Handel und dem bürgerlichen Unternehmer verbunden ist. Die Nation entstand, indem sich der bürgerliche Unternehmer Rechte erstritt und Marktordnung verlangte, um in Rechtssicherheit handeln zu können. Die Schweiz, eine «small open economy», musste in zahlreichen Handelskriegen – von Napoleons Kontinentalsperre zu Beginn des 19.Jahrhunderts bis zu Donald Trumps America-First-Politik im 21. Jahrhundert – ihre globale Vernetzung verteidigen. Die Geschichte der Handelskammern der eidgenössischen Orte, des Vororts, der Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft (Wirtschaftsförderung bzw. wf) und schliesslich von Economiesuisse ist ein Schlüssel zur Frage, wie aus der Schweiz eine erfolgreiche Nation wurde.

Für Forscherinnen und Forscher sind die Economiesuisse-Akten im Archiv für Zeitgeschichte in Zürich eine weltweit rare Fundgrube: ein ununterbrochener, über eineinhalb Jahrhunderte spannender, nicht staatlicher Datensatz zur Wirtschaftsgeschichte der «erfolgreichsten» Nation der Welt. Die daraus gewonnenen Forschungsresultate wurden hier in die neuste, internationale Fachliteratur eingebettet. Die Literaturtitel sind am Ende des Buches aufgeführt, die Zitate aus den Archivakten in Endnoten verzeichnet. Danke an Anna E. Guhl, Biografin des Vorortsdirektors Heinrich Homberger. Herzlichen Dank auch an das Team des Archivs für Zeitgeschichte in Zürich sowie an das Team des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs in Basel. Meinen früheren Arbeitskollegen vom Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) gebührt ebenso ein grosses Dankeschön, auf zahlreiche HLS-Artikel und Bilder habe ich hier zurückgegriffen. Ebenfalls danken möchte ich Bruno Meier vom Verlag Hier und Jetzt, Stephanie Mohler, Andrea Schüpbach, Daniel Nerlich, Pierre Eichenberger, Sabine Pitteloud sowie dem Economiesuisse-Team, namentlich Michael Wiesner, Marc Engelhard, Philippe Oggier, Pascal Wüthrich, Jan Atteslander, Thomas Pletscher, Monika Rühl, Oliver Steinmann und last, but not least Tatja Vojnovic.

Basel, im Februar 2021

Andrea Franc

Das «Freihandels­abkommen» von Marignano
Aussen­wirtschaft, Unternehmer­tum und Bürger­korporationen

Als die Genfer Wirtschaftsprofessorin und Präsidentin der neoliberalen Mont Pèlerin Society, Victoria Curzon-Price, zu Beginn des 21. Jahrhunderts gefragt wurde, was denn die Vorteile der Schweiz in der Globalisierung seien, holte sie weit aus: bis zur Reichsunmittelbarkeit der Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden. Die Schweiz sei wohlhabend geworden aufgrund ihrer traditionellen Offenheit gegenüber der Welt und der Wahrung der Handelsfreiheit, so Curzon-Price. Genau diese Freiheit hätten sich die drei Schweizer Urkantone bereits im 13. Jahrhundert erstritten, als sie vom Heiligen Römischen Reich die Reichsunmittelbarkeit erhielten: das Recht, vor keinem fremden Vogt, sondern direkt vor dem Kaiser vor Gericht zu stehen. Wie kommt eine Ökonomin im 21. Jahrhundert dazu, mit der Reichsunmittelbarkeit im Mittelalter die Rolle der Schweiz in der Globalisierung zu erklären? Nun, Ökonomen wissen, dass ein Land «gute» Institutionen braucht, um wohlhabend zu werden und diesen Wohlstand zu bewahren. Im Bestseller «Why Nations Fail» (2012) zeigen Daron Acemoğlu und James A. Robinson anhand zahlreicher Beispiele aus der ganzen Welt und über verschiedene Jahrhunderte hinweg, wie «gute» Institutionen Ländern Frieden und Wohlstand brachten und «schlechte» Institutionen Länder in den Ruin führten. Gemäss Curzon-Price verfügt die Schweiz über vortreffliche Institutionen, um in der Globalisierung zu bestehen, und diese Institutionen hätten sich seit dem Mittelalter herausgebildet. Die traditionell gewachsenen Schweizer Institutionen basierten auf dem ursprünglichen Verständnis von Freiheit als Selbstverwaltung auf möglichst lokaler, tiefster Ebene.

Es ist kein Zufall, dass der Mythos Rütli – so sehr sich Schweizer Historiker schon früh bemühten, Mythos und historische Mittelalterforschung auseinanderzuhalten – in Schriften des Liberalismus und Neoliberalismus zur Referenz wurde. Dies weniger vonseiten liberaler Schweizer Denker, als insbesondere durch Intellektuelle im Exil, die sich in der Schweiz nicht nur mit Reisen und Ferienaufenthalten eine neue Heimat schufen, sondern sich mit der Schweizer Geschichte auch eine neue Vergangenheit aneigneten. Bekannt sind etwa die Treffen der neoliberalen Mont Pèlerin Society in der Nachkriegszeit in Seelisberg, von wo aus die aus den USA angereisten Exilökonomen einen Spaziergang zur Rütliwiese unternahmen. Dieser mythische Ort und die Legende des Rütlischwurs eignen sich einfach zu gut zur Symbolisierung der Freiheitsidee: Kein Königspalast oder Regierungsgebäude symbolisiert das liberale Staatsverständnis, sondern die leere Rütliwiese. Sie darf von allen Menschen jederzeit betreten werden und erwacht auch erst so zum Leben. Die liberalen Kritiker der Zentralstaatsidee stilisierten das Rütli zum Gegenstück des Palastes von Versailles, des Reichstags, des Kremls oder der Verbotenen Stadt in Peking. Zudem war die Rütliwiese nur ein gelegentlicher Ort der Versammlung – und symbolisierte für Liberale nicht nur das Konzept der direkten Demokratie, sondern auch des Föderalismus.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entdeckten europäische Denker die Schweizer Geschichte mit ihren Mythen und stilisierten die Schweiz zur Wiege der Freiheit. Spannenderweise stimmte auch der Kommunist Karl Marx in die Lobgesänge über die Schweizer ein: «seit fast sechs Jahrhunderten Wächter der Freiheit» seien sie. Die Rütliwiese wurde – in einer eigentlich nicht haltbaren Verknüpfung – zum mythischen Ort des Liberalismus und im 20. Jahrhundert des Neoliberalismus. Dichterinnen und Denker reisten zum Vierwaldstättersee, darunter Germaine de Staël oder Lord Byron. In Deutschland schrieb derweil Friedrich Schiller das Theaterstück «Wilhelm Tell» (1804) und lieferte damit sozusagen das Drehbuch für die republikanischen Revolutionen im Europa des 19. Jahrhunderts. Schillers «Tell» wurde während des Zweiten Weltkriegs am Zürcher Schauspielhaus ununterbrochen aufgeführt. In Deutschland verbot hingegen Hitler das Stück im Jahr 1941. Schiller hat den Eidgenossen auf dem Rütli denn auch die viel zitierten Worte in den Mund gelegt:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,

in keiner Not uns trennen und Gefahr.

Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,

eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.

Was bei Schiller unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege dramatisch als ein Kampf der Eidgenossen gegen die Knechtschaft der Habsburger beschrieben wurde, war jedoch eine für die Verhältnisse der Zeit friedliche und langsame Herausbildung von Institutionen. Vom 13. bis ins 19. Jahrhundert entwickelten sich in den einzelnen eidgenössischen Orten und Städten eine Vielzahl von Selbstverwaltungsformen. Insbesondere in den Urkantonen verwalteten Korporationen Wälder, Weiden, Gewässer oder Wege gemeinsam, daher auch der Begriff «Allmend» für öffentlichen Boden, der allen gemeinsam gehört. Aus diesen Korporationen entstanden politisch autonome Gemeinden, deren alteingesessene Familien die Nutzungsrechte besassen. Zuzüger, Hintersassen genannt, hatten oft keine Bürgerrechte. Erst nach der Gründung des Bundestaates 1848 erhielten alle Einwohner der Schweiz nach mehreren Anläufen das Bürgerrecht einer Gemeinde. In vielen Schweizer Gemeinden bestehen jedoch bis heute Bürgerkorporationen mit ansehnlichem Wald- oder Feldbesitz, der an sogenannten Banntagen abgeschritten wird. Manche Bürgergemeinden betreiben soziale Einrichtungen wie etwa Pflege- und Altersheime. Gleichzeitig ist in der Schweiz aufgrund der korporativen Tradition die politische Gemeinde als kleinste Selbstverwaltungseinheit nicht nur für Land und Infrastruktur, sondern auch für ihre Einwohnerinnen und Einwohner und damit für das Sozialwesen zuständig.

Die Rütliwiese. Fotografie von Werner Friedli, 1948.

Diese Selbstverwaltung auf kleinstmöglicher Ebene entdeckten liberale Denker erst spät, im 20. Jahrhundert, als einen weiteren zentralen Aspekt der «guten» Schweizer Institutionen. Ökonomen im 20. Jahrhundert sprachen von Föderalismus, Dezentralismus oder auch von «small is beautiful». Anstatt gegen die Knechtschaft durch eine Obrigkeit zu kämpfen, wurden in den Schweizer Kantonen Institutionen gegründet, welche die Entscheidungsmacht an der tiefstmöglichen Stelle hielten. Das Beispiel der Gemeindeautonomie hob SHIV-Direktor Gerhard Winterberger in der Nachkriegszeit gerne als Paradebeispiel des Schweizer Staatswesens hervor: Solange eine kleine Gemeinde selbst über ihr Schicksal entschied, konnte keine Obrigkeit Macht über die Gemeinde missbrauchen und umgekehrt konnten selbstverwaltete Gemeinden für ihre Missstände keine Obrigkeit verantwortlich machen. Damit entstand eine spontane Ordnung, in der die jeweils kleinstmögliche Institution oder sogar eine Einzelperson Verantwortung übernehmen musste, was nicht nur zu Frieden, sondern auch zu Wohlstand führte.

In den ersten Jahrhunderten der Eidgenossenschaft bildeten die einzelnen Orte, das heisst Uri, Schwyz und Unterwalden sowie danach Luzern, Zürich, Glarus, Zug und Bern, Bündnisse. Bis 1513 kamen Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen und Appenzell dazu. Gesandte dieser souveränen Orte trafen sich bei Bedarf, um Geschäfte zu erledigen. Ab dem 17. Jahrhundert wurde die Versammlung der Gesandten der eidgenössischen Orte «Tag» genannt, woraus sich der Begriff «Tagsatzung» ableitete. Bis zur Gründung des Bundesstaates 1848 war die Schweiz – abgesehen vom Unterbruch durch Helvetik und Mediation zwischen 1798 und 1813 – ein Staatenbund und die eidgenössische Tagsatzung die Versammlung der Staaten, damals Orte genannt. Einer der eidgenössischen Orte hielt jeweils den Vorsitz und lud zur Tagsatzung ein («setzte den Tag»), dieser Ort wurde der «Vorort» genannt. Die Tagsatzung beschäftigte sich unter anderem mit der Absicherung der Handelsrechte der eidgenössischen Orte. Dies vor allem gegenüber Frankreich, der wirtschaftlichen Grossmacht Europas im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Die Willkür Frankreichs konnte die spätmittelalterlichen Orte auf dem Gebiet der heutigen Schweiz teuer zu stehen kommen. Genf, das sich im 15. Jahrhundert Ludwig XI. nicht unterordnen wollte, musste erleben, dass der König den französischen Kaufleuten den Besuch der internationalen Messe in Genf verbot und stattdessen Lyon offiziell als Messestadt einsetzte. Damit verlor unter anderem die freiburgische Tuchmanufaktur ihren Umschlagplatz an der Genfer Messe, was das Ende dieses Industriezweigs in der Saanestadt bedeutete – dies auch, weil England hohe Zölle auf die Wollausfuhr einführte und die englische Wolle zu teuer für den Import nach Freiburg wurde. Der europaweite Freihandel war somit für gewisse Schweizer Regionen bereits im Spätmittelalter bedeutsam. Freihandelsabkommen wurden dann auch zu einem Kerngeschäft der Tagsatzung, die nach der Niederlage von Marignano die Handelsfreiheit der Eidgenossenschaft in der Frühen Neuzeit sicherte.

Marignano ist bekannt für die Schlacht im Jahr 1515, welche die Eidgenossen gegen den König von Frankreich verloren und in deren Nachgang sie auf Expansionskriege verzichteten. Die Niederlage führte zu einem bedeutenden «Freihandelsabkommen». In diesem Ewigen Frieden von 1516 sicherte Franz I. von Frankreich der Eidgenossenschaft freien Zugang zum französischen Absatzmarkt zu. Im Gegenzug durfte Frankreich in den eidgenössischen Orten Söldner ausheben. Die Schlacht von Marignano bildete den Auftakt zu einer mehrere Jahrhunderte dauernden Phase des Freihandels zwischen der Eidgenossenschaft und der damaligen Grossmacht in Europa: Frankreich. Dies war umso wichtiger, als auf den Ewigen Frieden folgend die Reformation nicht nur religiöse, soziale und politische Umwälzungen brachte, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz bedeutende Folgen hatte. Wirtschaftliche Anliegen, insbesondere die Freiheit der eidgenössischen Kaufleute, waren sozusagen die Triebfeder der Anerkennung der Souveränität der eidgenössischen Orte durch die europäischen Grossmächte und letztlich der Bildung des Schweizer Staates. Die Tagsatzung schickte ad hoc Gesandte etwa an den französischen Königshof, die für die Schweizer Kaufleute intervenierten. Auch zum Westfälischen Frieden von 1648 war der Bürgermeister von Basel, Johann Rudolf Wettstein, ursprünglich nur angereist, um zu erreichen, dass die Basler Kaufleute nicht mehr vor das Gericht des Heiligen Römischen Reichs zitiert würden, sondern einzig der Basler Gerichtsbarkeit unterstünden. Erst ein französischer Gesandter brachte Wettstein auf die Idee, über die Souveränität der Schweiz zu verhandeln. Somit nahm mit dem Westfälischen Frieden von 1648 die Reichsunmittelbarkeit ein Ende und die Souveränität der Eidgenossenschaft, damals noch ein loser Verbund kleiner Orte, ihren Anfang. Nebenbei hob der Westfälische Frieden für die reformierten Gebiete das Zinsverbot der katholischen Kirche auf und legte damit einen frühen Grundstein für den Finanzplatz Schweiz. Die im Westfälischen Frieden garantierte Souveränität war politisch, die Eidgenossenschaft wurde somit erst recht zum Exilland Europas, doch gerade dadurch begann ein wirtschaftlicher Boom sondergleichen. Hugenottische Flüchtlinge aus ganz Europa brachten wirtschaftliche Innovation und Netzwerke in die Schweiz, sodass die Schweiz im 18. Jahrhundert und damit am Vorabend der Französischen Revolution das am stärksten industrialisierte Land Europas war. Aus einem Land der Kaufleute und Söldner war kurz vor der napoleonischen Ära ein Industrieland geworden.

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