Buch lesen: «Höllenteufel»
Andre Rober
Höllenteufel
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Impressum neobooks
Kapitel 1
Als ein junges Paar nachts durch den verschneiten Schwarzwald von einem Familientreffen nach Hause fährt, haben sie ein schockierendes Erlebnis: Plötzlich steht ein in Weiß gekleidetes junges Mädchen auf der Fahrbahn. In der Hand hält es einen blutigen Dolch und auch das Gewand ist blutdurchtränkt! Den Ermittlern Sarah Hansen und Thomas Bierman mangelt es zunächst an Ansatzpunkten, denn das geheimnisvolle Mädchen spricht kein Wort! Auch der Fund des Ortes der gruseligen Geschehnisse bringt die Polizei nicht weiter. Schließlich ist es eine missglückte Entführung, die eine Verbindung zu dem seltsamen Fall aufweist und die Ermittlungen in eine andere Richtung lenkt.
Andre Rober, geboren 1970 in Freiburg im Breisgau, studierte Volkswirtschaftslehre und arbeitete nach dem Abschluss mehrere Jahre für Banken im In- und Ausland. Mit der Absicht, sich beruflich zu verändern, machte er eine Ausbildung zum Business Coach und arbeitete parallel an seinem Erstlingswerk „Sturmernte“.
Mit „Höllenteufel“ erscheint der vierte Band rund um die Ermittlerin Sarah Hansen, ihren Partner Thomas Bierman und deren Team bei der Kriminalpolizei Freiburg.
Andre Rober
Höllenteufel
Thriller
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
1 Auflage Dezember 2021
© Andre Rober, Merzhausen
Korrektorat: Christiane Portele, Martina Woppman, Bettina Lieke-Rober, Nicole Rober-Kleber
Umschlaggestaltung: Andrea Budig, Merzhausen
Umschlagfoto: © Andre Rober
Satz: Andre Rober
Gesetzt aus der Palatino
„Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier“
(William Shakespeare, Der Sturm)
Kapitel II
комната вскрытия - Obduktionsraum - stand auf der wuchtig anmutenden, doppelflügeligen Tür. Der einstige Glanz des Edelstahls war im Laufe der Jahrzehnte zu einer matten, mit Kratzern übersäten, unansehnlichen Oberfläche verkommen. Der Einsatz scharfer Scheuermittel hatte aber nicht nur auf dem Metall seine Spuren hinterlassen: Auch das Glas der beiden bullaugenähnlichen Fenster, die in je einem der Flügel in genieteten Rahmen für einen Ein- oder Ausblick sorgen sollten, war stumpf geworden. Nicht blind, aber man konnte dahinter nur noch schemenhaft Strukturen erkennen.
Vor dieser Barriere, der Grenze zwischen den Lebenden und den Toten, stand der junge Uniformierte und starrte vor sich auf den Boden. Betroffen zum einen und ängstlich, verlegen zum anderen. Sein erstes Mal. Nicht dass er im Laufe der Ausbildung schon den obligatorischen Gang in die Gerichtsmedizin hinter sich gebracht hatte. Heute war es etwas anderes. Scheu blickte er auf und als er merkte, dass seine Begleiterin in den Anblick einer Fotografie vertieft war, erlaubte er seinen Augen, einige Momente auf der jungen Frau zu verweilen. Zusammengesunken, fast kauernd, saß sie auf einem der Plastikstühle und hielt das Bild mit beiden Händen geradezu andächtig vor ihr Gesicht. Ihre Lippen formten stumme Laute, fast, als würde sie allein in einer Kirche sitzen und innig beten. Sie war schlank, zierlich, aber nicht dünn. Ihr ebenmäßiges Gesicht wurde eingerahmt von einigen lockigen Strähnen, die nicht wie der Rest ihrer blonden Haare in dem wilden Dutt an ihrem Hinterkopf gezähmt waren. Das Blau ihrer Augen konnte er auch aus dem gebotenen Abstand noch leuchten sehen, die Stupsnase, gerötet vom Gebrauch zu vieler Taschentücher, stand gerade über dem kleinen, aber volllippigen Mund. Zerbrechlich wirkte das Mädchen, und erschöpft. Er kannte ihre Geschichte und wusste, dass ihr das Leben in ihren jungen Jahren schon zu viel zugemutet hatte. Umstände, die ihr schon früh Verantwortung abgerungen hatten, die Entscheidungen und Taten erforderten, denen Menschen in ihrem Alter eigentlich noch nicht ausgesetzt werden sollten. Und wenn sich gleich hinter dieser Tür, die so abweisend kalt den Raum dahinter verschloss, die Vermutung bestätigen würde… ein weiterer Schicksalsschlag für seinen Schützling, als den er sie zumindest für den Moment ansah. Da sie immer noch das Foto betrachtete, von dem er nur vermuten konnte, was darauf zu sehen war, studierte er die zarten Finger, die schlanken Beine. Ihm fiel auf, dass sie die Füße, die in weinroten Stiefeletten steckten, ein wenig nach innen gedreht hatte, was ihre Verletzlichkeit in dieser Situation noch unterstrich.
Da waren sie nun: Er, wahrscheinlich kaum fünf Jahre älter als sie, und die blonde Frau, zwei Fremde, die sich erst kurz zuvor getroffen hatten, um an diesem unwirtlichen Ort zusammen zu warten. Zu warten, dass entweder eine schreckliche Ahnung zur nicht minder schrecklichen Gewissheit würde oder aber, dass die Erleichterung einen Atemzug lang durch den Körper strömte, um dann der zernagenden Ungewissheit wieder jenen Raum zu geben, der von allen anderen Gedanken Besitz ergriff.
Jetzt blickte sie auf, jedoch richtete sie ihre traurigen Augen nicht auf ihn, sondern auf die Uhr, die ihr gegenüber neben der Stahltür an der Wand hing. Was sie sah, löste keine erkennbare Reaktion aus: keine Langeweile, keine Ungeduld, keine Verärgerung. Wahrscheinlich schaute sie nur auf die Uhr, weil es Menschen, die auf etwas warten, einfach tun – und fragte man sie nach der Zeit, sie wüssten die Antwort nicht…
Hinter den Bullaugen veränderte sich das Licht ein wenig und kurz darauf öffnete sich ein Türflügel nach innen. In der Öffnung erschien ein Mann, vielleicht Anfang sechzig, untersetzt. Sein langer weißer Kittel war schmuddelig, die Finger, die an der Tür zu sehen waren, ungepflegt. Um seinen Hals baumelte eine OP-Maske und die dicken Gläser seiner Weitsichtbrille vermochten nicht, seinen glasigen Blick zu verschleiern. Ebenso wie die rote Nase und das aufgedunsene Gesicht gab er davon Zeugnis, dass auch am heutigen Vormittag schon zu viel Vodka die Kehle des Rechtsmediziners benetzt hatte.
„модойдите сюда“, grunzte er kaum verständlich und ohne Begrüßung. Kommen Sie.
Er trat einen Schritt zur Seite.
Zögerlich erhob sich die junge Frau, sah unsicher zu dem Uniformierten und trat, nachdem dieser genickt und mit der Hand Richtung Tür gewiesen hatte, in den Raum. Der junge Mann blieb dicht bei ihr. Schüchtern sah sie sich um, während sie dem Arzt zu einer Wand aus Kühlfächern folgte, deren Stahltüren ebenso abgenutzt und überaltert aussahen, wie die am Eingang. Sie fröstelte augenscheinlich, schob die gestrickten Pulswärmer bis über die Handfläche, stellte den Kragen ihres Mantels auf und zog den Schal etwas enger. Wieder suchte sie Augenkontakt zu dem Beamten, der ihren Blick unbeholfen erwiderte und sich dann dem Kühlfach zuwandte, an dem sich der bekittelte Mann zu schaffen machte. Die Tür schwang auf und eine Bahre wurde sichtbar. Ein Laken, weiß und sauber, deckte den menschlichen Körper ab, der auf der metallenen Schublade lag. Der Pathologe zog sie heraus, bis etwa die Hälfte davon in den Raum ragte. Ohne Ankündigung, ohne vorbereitende Worte und ohne die Frage, ob sie denn bereit sei, schlug er das Leinentuch zurück, so dass Kopf und Schultern einer jungen Frau zum Vorschein kamen. Der Tod war gnädig mit ihr gewesen. Die an Alabaster erinnernde Haut war unversehrt, die Augen und Lippen waren geschlossen. Sie strahlte eine paradoxe Friedlichkeit aus, fast, als würde sie schlafen. Der Polizist konnte sich dem zarten Antlitz der Toten ebenso nicht entziehen wie zuvor auf dem Gang dem Anblick seines Schützlings. Trotz der schulterlangen, rotgefärbten Haare der Verstorbenen war die verwandtschaftliche Beziehung zu seiner Begleiterin leicht zu erkennen. Innerlich sank er ein wenig zusammen. Wie musste sie sich fühlen? Er sah hinüber und bemerkte, dass sie vor sich auf den Boden starrte – sie hatte es noch nicht fertiggebracht, den Leichnam anzusehen. Und wie sie dastand, noch hilfloser und angreifbarer als zuvor, hätte er ihr die Notwendigkeit am liebsten erspart, auch wenn er wusste, dass dies nicht möglich war. Doch bevor er sich mit tröstenden Worten an die Frau wenden konnte, raunte der ungeduldig wirkende Arzt ein barsches „это ее?“ – Ist sie es?
Die Frau blickte auf und sofort zeigte sich der Schmerz auf ihrem Gesicht. Es dauerte eine Zeit, bis sie schweigend nickte und sich, bevor einer der beiden Männer es hätten verhindern können, nach vorne beugte und der Toten einen Kuss auf die Stirn gab. Dann wandte sie sich dem Polizisten zu, den die feste, fast entschlossene Stimme überraschte, als sie ihn bat, ihr genau zu erzählen, was passiert sei.
Kapitel III
Heute, 14 Jahre später
„Ich habe doch gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, zu diesem Treffen zu gehen!“ Holger Wohlfahrt sah seine Frau Iris nicht an, der vorwurfsvolle Ton erübrigte eine Verstärkung durch einen scharfen Blick. Außerdem konnte er trotz des Ärgers, den er verspürte, den Anblick ihres verheulten Gesichts nicht gut ertragen, immerhin war sie es, die es in dieser Situation am schwersten hatte, das musste er ohne Abstriche eingestehen. Aber warum Iris im Vorfeld geglaubt hatte, dass es bei diesem – dem x-ten – Versuch besser laufen sollte als die Male zuvor, konnte Holger sich nicht erklären. Ein harmonisches Zusammentreffen mit ihrer Schwester und deren Mann hatte sie sich trotz der niederschmetternden Erfahrungen gewünscht. Er hatte sich gleich gefragt, warum es auf einmal anders sein könnte. Warum Patrick sie diesmal nicht von oben herab behandeln sollte, sich nicht über seine Tätigkeit als Sachbearbeiter in dem Logistikunternehmen lustig machen und nicht das halbe Deputat von Iris an der Grundschule kleinreden? Nicht über die faszinierenden Reisen prahlen würde oder ihn nicht gönnerhaft zu einer Probefahrt in seinem neuen Ferrari oder McLaren einzuladen, damit Holger auch einmal im Leben dieses Gefühl haben konnte? Er hatte Iris diese Frage gestellt, aber in ihr schien der Wunsch, von ihrer Schwester ein wenig Beachtung, Zuneigung, vielleicht gar Anerkennung zu erhalten, so bestimmend zu sein, dass sie seine Bedenken ausgeblendet und das Treffen organisiert hatte. Im Waldesruh, jenem sündhaft teuren Schlosshotel weit abseits gelegen in einem engen Schwarzwaldtal, in dem sie sich jetzt bei wildem Schneetreiben durch die immer höher werdenden Verwehungen in Richtung Freiburg kämpften.
„Wir nehmen bei diesem Wetter selbstverständlich ein Zimmer“, hatte Patrick spontan entschieden, obwohl es in Holgers Augen nichts gab, was den Mercedes G 4x42 seines Schwagers hätte aufhalten oder in Gefahr bringen können. Doch sie mussten zurück nach Freiburg: Der Gutschein, den Iris von ihren Kolleginnen zum Geburtstag bekommen hatte, deckte nicht einmal die Hälfte der Kosten für das Abendessen ab. Und so fanden sie sich, frustriert, genervt, erniedrigt und in Sorge um eine sichere Heimkehr in ihrem 2001er Renault Clio und schwiegen sich seit Holgers Feststellung gegenseitig an.
Die Bedingungen verschlechterten sich zusehends. Die Nebelscheinwerfer halfen wenig dabei, die Straße unter der Schneedecke auszumachen, und wären nicht die schwarz-roten Stangen am Fahrbahnrand gewesen, hätte man sich nicht sicher sein können, noch Asphalt unter den Rädern zu haben. Wenn es so weiterging, würden sie bald nicht mehr vorwärtskommen. Schon jetzt schob der Clio mit seiner Frontschürze Schnee auf, der dann und wann von Windböen über die Motorhaube und die Windschutzscheibe geblasen wurde. Nach und nach wurden Holgers Gedanken an den desaströsen Abend verdrängt von Plänen und Szenarien, wie Iris und er die Nacht in dem Auto verbringen könnten, sollten sie tatsächlich nicht mehr weiterkommen. Er sinnierte über die Risiken und Chancen, die Temperatur im Wageninneren bei laufendem Motor aufrechterhalten zu können und versuchte einzuschätzen, wie lange der Tankinhalt im Leerlauf die lebenserhaltende Wärme wohl bereitstellen konnte.
„Vorsicht!“
Erschrocken trat Holger auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Gestalt auszuweichen, die wie ein Geist aus dem Dunkel vor dem Renault aufgetaucht war! Im Augenwinkel erkannte er in Sekundenbruchteilen ein zierliches Mädchen mit langen, roten Haaren, die in ihrem weißen Nachthemd über der Straße zu schweben schien, dann schleuderte der Wagen um die eigene Achse und das Bild verlor sich Schneegestöber. Doch als das Auto nach zwei kompletten Drehungen mit dem Heck in einen Schneeberg prallte und entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung wieder zum Stehen kam, erfassten die Scheinwerfer die groteske Erscheinung wieder! Etwa zehn Meter vor ihnen stand das Mädchen, fast noch ein Kind. Erst jetzt nahm Holger Details der Szenerie war: Das weiße Nachthemd schien an Bauch und Brust blutdurchtränkt zu sein! Die Arme und Beine, die nackt aus dem dünnen Stoff ragten, waren blau vor Kälte und das furchteinflößende Messer, das das Mädchen in der Hand hielt, war ebenfalls blutverschmiert! Doch das bei weitem Schlimmste war der ausdruckslose, irre anmutende Blick, mit dem die Unbekannte ins Wageninnere starrte. Erst als die Gestalt mit zombieähnlichen Bewegungen auf sie zuwankte, hörte Holger die verzweifelten Schreie seiner Frau auf dem Beifahrersitz.
Als das Klingeln ihres Mobiltelefons Sarah Hansen aus der ersten Tiefschlafphase riss, musste sie sich zuerst orientieren. Die vier Wochen zuvor hatte sie sich, den Resturlaub nutzend, um ihre Mutter gekümmert, die nach einem Beinbruch aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen worden war. Sarah hatte selbstverständlich in ihrem Elternhaus übernachtet und war erst gestern Abend aus Kiel zurückgekehrt. Und da sie die Wohnung in ihrer Wahlheimat Freiburg erst vor einem guten halben Jahr bezogen hatte, war die Zeit im Norden lang genug gewesen, um jetzt im schlaftrunkenen Zustand erst einmal stirnrunzelnd umherblicken zu müssen. Doch nach wenigen Sekunden hatte sie die Gedanken sortiert, stand auf und steuerte zielsicher die Tür zur Wohnküche an, wo sie das Handy offensichtlich drei Stunden zuvor vergessen hatte. Im Display sah die Polizistin die Nummer ihres Partners Thomas Bierman, mit dem sie, seit sie sich zur Kriminalpolizei in der Breisgaumetropole hatte versetzen lassen, zusammenarbeitete. Dass ihr wortkarger Kollege um diese Uhrzeit bei ihr anrief, konnte nichts anderes bedeuten, als dass es einen Fall gab, bei dem ihrer beider Anwesenheit zwingend erforderlich war.
„Hallo Thomas, was gibt es?“, meldete sie sich.
„In einem Nebental zwischen Furtwangen und Titisee hat ein Ehepaar fast ein Mädchen überfahren. Sie konnten ausweichen, ohne den Teenager zu verletzen, stehen aber selbst unter Schock. Ich bin schon auf dem Weg zu dir.“
„Und was haben wir damit zu tun?“, fragte Sarah, steuerte jedoch bereits wieder das Schlafzimmer an, um sich der eisigen Nachtkälte angepasste Kleidung zusammenzusuchen. Denn eins war sicher: Wenn Thomas anrief, um sie abzuholen, war die Frage der Zuständigkeit eigentlich belanglos. Es würde triftige Gründe geben und er würde recht bald bei ihr vor der Tür stehen.
„Es sind äußerst merkwürdige Umstände: Die Kleidung des Mädchens war mit Blut geradezu durchtränkt. Außerdem trug sie nichts außer einem weißen, ja, sagen wir Gewand und hatte obendrein ein merkwürdiges Messer bei sich.“
Sarah hatte bereits die Merinounterwäsche hervorgeholt, stellte das Telefon auf Lautsprecher und streifte sich die warme Unterkleidung über. Jetzt nahm sie die Skisocken und die etwas dickere Jeans aus dem Schrank und langte auch nach ihrem wärmsten Winterpullover.
„Hat das Mädchen irgendetwas gesagt? Ist sie ansprechbar?“
Sie begann, in die Sachen zu schlüpfen.
„Es war hochgradig unterkühlt, wurde von den Rettungssanitätern stabilisiert und ist auf dem Weg in die Kinderuniklinik. Wann bist du soweit?“
„Ich brauche noch drei bis vier Minuten. Wo bist du?“
„Ich biege gerade in deine Straße ein, stehe also gleich vor der Haustür.“
Das hatte Sarah in etwa erwartet. Sie beeilte sich, ihr Outfit zu komplettieren, stieg in die kanadischen Winterboots und steckte sich auf die Schnelle einen Apfel in die Tasche. Auch wenn es ihr überflüssig erschien, holte sie noch ihre Dienstwaffe aus dem Möbeltresor hervor, steckte sie in den Gürtelholster, angelte den Schlüsselbund vom Küchentisch und verließ die Wohnung. Durch die Fenster im Treppenhaus konnte sie sehen, dass es wieder heftig schneite und sich bereits eine mehrere Zentimeter dicke Schneeschicht auf den parkenden Autos gebildet hatte. Auf der ebenfalls verschneiten Straße fuhr gerade im Moment Thomas in dem brandneuen Mercedes ML vor und hielt direkt vor der Haustür. Sarah trat hinaus in die Kälte und beeilte sich, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.
„Hallo“, sagte sie, schlug die Tür zu und schnallte sich an.
„Grüß dich“, entgegnete ihr Partner und fuhr sofort los.
„Ich habe dich“, erläuterte er, „so kurzfristig informiert, weil ich erst noch Schwarz gebeten habe, das Kind in der Klinik in Empfang zu nehmen und Spuren zu sichern, bevor sie vernichtet werden. Außerdem habe ich die Hundestaffel organisiert. Die werden wir bei diesen Bedingungen dringend brauchen, denn Spuren sind innerhalb einer halben Stunde zugeschneit. Zudem musste ich die Rettungssanitäter dazu bewegen, ein Stück Kleidung zu entfernen, welches wir als Probe für die Hunde verwenden können. Sie haben sich ziemlich geziert, aber sie haben den Streifenpolizisten ein Stückchen dagelassen.“
Sarah war wie schon mehrfach zuvor von der Übersicht und der tadellosen Organisation Biermans beeindruckt. Den Rechtsmediziner Dr. Schwarz in die Klinik zu beordern und dafür zu sorgen, dass vor Ort die Spuren verfolgt werden konnten, war angesichts der unklaren Sachlage sehr vorausschauend.
„Okay“, antwortete Sarah. „Da du nur von Unterkühlung gesprochen hast, gehe ich davon aus, dass das erwähnte Blut nicht von dem Mädchen stammt?“
„So ist es“, bestätigte Thomas. „Auf dem Messer, das die Polizisten vor Ort als merkwürdig bezeichnet haben, soll auch jede Menge Blut gewesen sein. Aber ganz offensichtlich stammt es nicht von dem Mädchen.“
„Konnte schon festgestellt werden, ob es sich um menschliches Blut handelt?“
„Nein. Aber die Skurrilität der Szenerie hat ausgereicht, dass die Streifenpolizisten es für angesagt hielten, die Kripo zu informieren. Und du kennst ja Gröber, wenn ein Fall das Potential hat, spektakulär zu werden, reißt er ihn sich unter den Nagel.“
Sarah musste lächeln, kannte sie doch die Profilneurose des Chefs nur allzu gut.
„Ist das Paar noch vor Ort?“, fragte sie, während Thomas in Richtung der Schnellstraße Richtung Höllental fuhr.
„Ja, auch wenn den beiden sicherlich recht kalt sein dürfte, habe ich darauf bestanden, dass sie dortbleiben. Im Umfeld der Vorkommnisse ist das Erinnerungsvermögen besser und wer weiß, welches Detail uns später weiterhilft.“
Trotz der fortgeschrittenen Zeit näherten sie sich einem Schneepflug, der vor ihnen die Straße freiräumte und am Heck Salz auf der Straße verteilte. Thomas schien die Geschwindigkeit des Räumfahrzeugs aber nicht auszureichen. Kurzum scherte er auf die noch schneebedeckte linke Spur und gab ordentlich Gas. Sarahs fragenden Blick von der Seite bemerkte er offensichtlich, denn er lächelte und murmelte nur etwas von Allradantrieb und Winterreifen.
„Wo ist das Ganze denn eigentlich passiert?“, fragte Sarah, als sie am Ende der Schnellstraße auf die rechte Spur wechselten.
„Gegen Ende des Höllentals müssen wir erst Richtung Furtwangen abbiegen und dann in ein Seitental, dessen Namen ich nicht kenne. Es führt wohl zu einem Schlossrestaurant irgendwo in den Tiefen des Schwarzwalds.“
Sorge darüber, dass auch irgendwann für das SUV der Schnee zu hoch liegen konnte, hatte er offensichtlich nicht.
Als sie die Gemeinde Kirchzarten hinter sich gelassen hatten und schon ins Höllental einfuhren, läutete Thomas` Mobiltelefon und der Anruf sprang auf die Freisprecheinrichtung des ML. Die Nummer war beiden Polizisten bekannt.
„Schwarz, was haben Sie für uns?“, fragte Thomas den Rechtsmediziner ohne jegliche Begrüßung.
„Ich wollte Sie beide nur informieren: Die Kleine ist gerade angekommen“, informierte der Anrufer. „Sie scheint stabil, wird aber erst untersucht, ob nicht doch Verletzungen vorliegen, die lebenserhaltende Maßnahmen erfordern. Danach kann ich mit der behandelnden Ärztin zusammen die Untersuchungen vornehmen und Beweismaterial sichern. Sie ist sehr kooperativ.“
„Sehr gut!“, ließ Thomas zufrieden verlauten. „Stellen Sie bitte so schnell wie möglich fest, ob das Blut an der Kleidung des Mädchens menschliches Blut ist. Davon hängt unsere weitere Vorgehensweise ab.“
„Das werde ich“, versprach Schwarz. „Haben Sie sonst noch etwas, auf das ich im Besonderen achten soll?“
Thomas wandte Sarah den Kopf zu und sah sie fragend an.
„Fesselungsspuren werden Ihnen ja sicherlich ohnehin auffallen“, meinte er, fügte aber einer Intuition folgend noch eine Bitte hinzu.
„Ist ein Tox-Screening Standardprocedere? Ich würde gerne überprüft haben, ob Sedativa oder andere Betäubungsmittel nachzuweisen sind“, fragte Sarah.
„Werde ich an das Labor weitergeben. Und die Fingerabdrücke sowie physiologische Daten werde ich Ihnen zukommen lassen, dass Sie so schnell wie möglich bei den Vermisstenmeldungen und in der Datenbank forschen können.“
Schwarz hatte aus den Nachfragen geschlossen, dass die Polizistin einen Zusammenhang mit einem Vermisstenfall oder gar einer Entführung für möglich hielt.
„Sehr gut, danke“, quittierte Thomas den Vorschlag.
„Die Ärztin kommt gerade aus dem Untersuchungsraum, ich lege jetzt auf“, unterbrach Schwarz das Telefonat und es klickte in der Leitung.
Während der nächsten zwanzig Minuten, die die Polizisten schweigend nebeneinandersaßen, wurden die Straßen immer schmaler, der Wald immer dichter und die Schneehöhe erreichte geschätzte vierzig Zentimeter. Trotzdem kamen sie in der weißen Winterlandschaft zügig voran. Sarah, für die es der erste Winter im Schwarzwald war, beobachtete interessiert das Spiel von Licht und Schatten, das die Scheinwerfer auf Straße und Bäume vor ihnen zauberte. Die Szenerie löste ambivalente Gefühle in ihr aus. Zum einen spürte sie einen tiefen Frieden, strahlten die unberührte Schneedecke und die dicken, niedersinkenden Flocken doch etwas Beruhigendes, fast Weihnachtliches aus. Ein Gefühl von Geborgenheit, einer warmen Stube mit einem knisternden Kaminfeuer. Zum anderen aber erschienen ihr die bewegten Schatten zuweilen wie flüchtige Geister oder bösartige Kreaturen, die vor dem Licht des SUV zu fliehen suchten. Sie stellte sich vor, was für ein Schock es für das Ehepaar gewesen sein musste, als plötzlich die blutverschmierte Gestalt auf der Straße aufgetaucht war, und sie fröstelte unwillkürlich. Ja, der Wald hatte auch eine sehr bedrohliche Ausstrahlung!
Nach einer Kurve, die Thomas Bierman mit leicht ausbrechendem Heck etwas zu schnell durchfuhr, war in gut einhundert Metern Entfernung ein Blaulicht zu erkennen. Aus der Entfernung sah es aus, als wäre die Stelle, an der auch zwei Fahrzeuge zu erkennen waren, aus einer Märchenerzählung entnommen, in der ein Zauberer mit blauen Blitzen die schneebedeckten Bäume mystisch zum Leuchten brachte. Ob ihr Partner ebenfalls von dem fast magischen Schauspiel gefesselt war, oder er einfach gerade nichts mitzuteilen hatte, vermochte Sarah nicht zu entscheiden. Aber er starrte auch durch die von den Wischblättern vom Schnee freigehaltene Windschutzscheibe und sprach kein Wort, bis der ML hinter dem Einsatzfahrzeug der Polizei zum Stehen kam.
„Da wären wir“, sagte er kurz, zog sich den Kragen seines Parka fester zu und stülpte sich die Kapuze über. Dann öffnete er die Tür und stieg aus. Sarah folgte seinem Beispiel und optimierte den Sitz ihrer Kleidung, verließ das Fahrzeug und stapfte neben ihrem Partner auf den Polizeiwagen zu, der mit laufendem Motor sowohl den zwei Polizisten als auch offensichtlich dem unbekannten Ehepaar Wärme und Schutz bot. Thomas klopfte an die Scheibe. Als das Glas heruntergefahren war und einen mehrere Zentimeter hohen Schneerand im Rahmen stehen ließ, bat Thomas zunächst das Paar auszusteigen und zu schildern, was ihnen widerfahren war. Erstaunlich gelassen berichteten die beiden von dem Vorfall und zeigten auch, wo das Mädchen zum ersten Mal aufgetaucht war, wie ihr Fahrzeug ins Schlittern geriet und an die Stelle rutschte, an der es immer noch stand.
„Wie haben Sie danach mit dem Kind interagiert?“, fragte Sarah.
Der Mann blickte kurz zu seiner Frau und antwortete, nachdem diese ihm zugenickt hatte.
„Zunächst haben wir nur dagesessen, im Schock sozusagen, denn es sah unheimlich gruselig aus, wie diese Gestalt mit dem Messer in der Hand auf uns zugetorkelt ist.“
Er schüttelte sich ein wenig
„Aber wir haben recht schnell bemerkt, dass das Mädchen orientierungslos war und sich in einer Notlage befand. Ich bin ausgestiegen und habe es angesprochen.“
„Hat es irgendwie reagiert?“, hakte Thomas nach.
„Es hat aufgeschaut, aber eher durch mich durch. Ich bin ganz langsam zu ihm gegangen und habe leise und beschwichtigend auf es eingeredet.“
„Sie haben sich ihr trotz des Messers genähert? Das ist mutig!“ stellte Sarah fest.
„Ja, aber es war doch ganz offensichtlich noch fast ein Kind. Aber vorsichtig war ich trotzdem, das können Sie mir glauben. Meine Frau hat auch gerufen, ich solle von ihm fernbleiben.“
Er warf einen Blick auf seine Partnerin, die sofort anfing, sich zu verteidigen.
„Ich hatte so eine Angst um ihn! Diese groteske Situation, wir zwei allein hier im verschneiten Wald…man hat schon so viele entsetzliche Geschichten gehört.“
„Und 99,99 Prozent davon sind Urban Legends“, ließ Thomas verlauten, doch Sarah beschwichtigte die Frau.
„Ich hätte auch große Sorge gehabt, werfen Sie sich nichts vor.“ Dann wandte sie sich wieder dem Mann zu, der gerade den frischen Schnee von der Mütze schüttelte.
„Wie haben Sie das Mädchen entwaffnet?“
„Es hat das Messer in den Schnee fallen lassen und ist schnurstracks auf mich zu gelaufen, da habe ich es in den Arm genommen und festgehalten. Daraufhin stieg meine Frau aus, wir haben es ins warme Auto gebracht und die Heizung weiter aufgedreht.“
„Ich habe“, warf die Frau ein, „es mit auf den Rücksitz genommen und die ganze Zeit im Arm gehalten, während Holger den Notruf gewählt hat. Gott sei Dank hat man hier einigermaßen Empfang.“
Sarah und Thomas nickten wissend, gab es in den dünn besiedelten Ecken des Schwarzwalds noch so einige Funklöcher.
„Hat das Mädchen irgendetwas gesagt, während Sie mit ihm zusammen waren?“, wollte Thomas wissen.
Beide schüttelten den Kopf.
„Nicht ein einziges Wort. Es hat auch keine Emotionen wie Weinen oder Schreien gezeigt, ließ sich einfach von mir festhalten.“ Der Frau standen Tränen der Rührung in den Augen.
„Als dann die Sanitäter kamen, ließ es sich widerstandslos aus den Armen meiner Frau nehmen und in den Rettungswagen bringen“, beendete der Mann den Bericht.
„In Ordnung.“ Thomas schien mit der Befragung zufrieden. „Machen Sie sich auf den Heimweg, wir brauchen Sie im Moment nicht mehr. Ihre Personalien haben wir?“
Der Mann nickte, Thomas deutete die Straße hinunter.
„Glauben Sie, die Spur, die wir mit dem SUV gezogen haben, reicht aus, um sicher zu den Hauptstraßen zu kommen?“
Der Angesprochene sah sich den Weg hinter dem Mercedes an, wo die Schneise, die die beiden Kriminalbeamten zuvor gebahnt hatten, bereits wieder weichere Konturen annahm.
„Ja, das schaffen wir“, entgegnete er, den skeptischen Blicken seiner Frau zum Trotz, und stieg in den Wagen. Als auch seine Begleitung eingestiegen war, gelang es ihm nach einigen Anläufen und mit durchdrehenden Reifen, an den beiden Polizeifahrzeugen vorbeizumanövrieren und schließlich auf dem festgefahrenen Schnee ohne sichtbare Beeinträchtigung weiterzufahren.
Als die Rücklichter in der Dunkelheit verschwunden waren, stiegen Sarah und Thomas kurzerhand in den Streifenwagen.
„So, Kollegen. Zeigen Sie uns doch als erstes das Messer, welches das Kind bei sich gehabt hat.“
Der Uniformierte auf dem Beifahrersitz langte in den Fußraum und reichte eine transparente Beweismitteltüte nach hinten. Sarah nahm die Stichwaffe entgegen. Sie und ihr Partner betrachteten das blutverschmierte Corpus Delikti eine Weile. Dann ergriff Sarah das Wort.
„Das ist eher ein Dolch als ein Messer.“
Sie hielt die einschneidige, spitze Waffe näher an die Fondbeleuchtung des Autos.