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AMANDA LEDUC

, geboren 1982 in British Columbia, studierte Kreatives Schreiben und Philosophie in Victoria (Kanada) und St. Andrews (Schottland). Sie schreibt Essays, Erzählungen und Romane. 2021 erscheint ihr Roman

The Centaur’s Wife

. Sie hat eine Zerebralparese und lebt in Hamilton, Ontario, wo sie für das Festival of Literary Diversity (FOLD) arbeitet, Kanadas erstes Literaturfestival für diverse Autor*innen und Geschichten.



JOSEFINE HAUBOLD

 studierte Anglistik und Germanistik in Dresden und Berlin. Seit 2011 arbeitet sie als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Englischen, unter anderem übersetzte sie Bücher von Nellie Bly, Tennessee Williams und Hayley Long.







AMANDA LEDUC









ENTSTELLT ÜBER MÄRCHEN BEHINDERUNG UND TEILHABE







AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT







VON JOSEFINE HAUBOLD












Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel

Disfigured: on fairy tales, disability, and making space

 bei Coach House Books, Toronto.



© 2020 by Amanda Leduc








Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts für seine Unterstützung.



Verlag und Übersetzerin bedanken sich

bei Tanja Kollodzieyski für die Beratung.



Edition Nautilus GmbH



Schützenstraße 49 a



D - 22761 Hamburg





www.edition-nautilus.de





Alle Rechte vorbehalten



© Edition Nautilus 2020



Deutsche Erstausgabe März 2021



Umschlaggestaltung:



Maja Bechert, Hamburg





www.majabechert.de





Porträt der Autorin auf Seite 2:



© Trevor Cole



1. Auflage



E-Book-ISBN 978-3-96054-252-0






Für Dorothy, die mir den Weg in die Wälder zeigte;







Für Jael, die mir gezeigt hat, dass ich mutig genug war, ihm zu folgen;





Und für alle meine behinderten Brüder und Schwestern, die mich an die Hand nahmen, damit ich den Weg nicht alleine gehen musste

.




Niemand sieht Sophokles’ Stück als Tragödie über einen Krüppel und einen Blinden, die um die Zukunft von Theben ringen.



– Tobin Siebers



Deine einstmals sanfte Stimme



wird dich verlassen, deine Beine



machen jeden Schritt an Land zur Folter.



Irgendwann vermisst du



den Tang und die Robben, dein altes Sein,



deinen alten Körper. Du passt nicht ans Land



noch ins Meer, dein Opfer liegt lange zurück.



Kämme dein Haar, das weiter wächst,



obwohl du den Prinzen verlorst.



Und du weißt, es kommt der Tag



da zahlst du den Preis



Für deine kurze Zeit an der Sonne.



– Jeannine Hall Gailey






Inhalt







Einleitung







1 Das Kind, dessen Kopf in Dunkelheit getaucht war







2 Behinderung: Ein Märchen







3 In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat: Das Märchen in Frankreich und Deutschland







4 Eines Tages wird mein Prinz kommen: Disney und die Welt ohne Schatten







5 Der kleine stumme Findling: Hans Christian Andersens Hässliches Entlein







6 »Ein nichtmenschliches Wesen«: Das Schöne und das Bestialische







7 Die Wüstenei







8 Monster, Marvel und Wunderwesen







9 Der große Zusammenbruch







Nachwort







Anmerkungen







Bibliografie







Filmografie







Danksagungen









Einleitung





Die Idee zu diesem Buch kam mir passenderweise in einem Wald. Im Sommer 2018 hatte ich das außerordentliche Glück, für ein dreiwöchiges Aufenthaltsstipendium in Hedgebrook auf Whidbey Island vor der Küste von Seattle ausgewählt worden zu sein. Ich arbeitete gerade an einem Roman, und nach einem besonders anstrengenden Tag beschloss ich, auf der Suche nach etwas Aufmunterung in den Wald zu gehen. Neben der Eingangstür meiner Hütte lehnte ein Spazierstock, den ich ohne groß nachzudenken mitnahm, bevor ich mich zum hinteren Teil des Anwesens aufmachte. Irgendwo an seinem nördlichen Ende stand ein Brombeerstrauch, und ich konnte es kaum erwarten, dort ganze Hände voller Beeren zu sammeln.



Während ich so ging, dachte ich darüber nach, wie viel einfacher das Gehen mit dem Stock doch war: ein unbelebter Begleiter, der mir durch die Höhen und Senken des Waldes half. Selbst auf dem gepflasterten Boden in der Nähe meiner Unterkunft war er nützlich. Mit dem Stock in der Hand fühlte ich mich sicher. Er half mir, mein Gewicht beim Wechsel vom einen auf den anderen Fuß auszubalancieren, auf eine Weise, die ich aufregend und überraschend fand.



Heißt das, ich sollte im normalen Leben auch einen Stock benutzen?

, fragte ich mich auf dem Weg zu den Brombeeren.

Ob das wohl hilfreich wäre? Wie würde sich dadurch die Art verändern, wie ich mich durch die Welt bewege?



In meinem Alltag nutze ich keinen Gehstock. Ich habe eine leichte Zerebralparese und spastische Hemiplegie, und obwohl ich sichtbar hinke, war mein Gleichgewichtssinn in den ersten dreieinhalb Jahrzehnten meines Lebens gut genug, dass ich ohne Hilfsmittel gehen konnte.



Doch mein Blick ist beim Gehen auf den Boden gerichtet – eine Tatsache, die mir überhaupt erst bewusst wurde, als eine Podologin mich vor einigen Jahren darauf aufmerksam machte. Es brauchte noch einige weitere Jahre, bis mir klarwurde, dass ich deshalb auf den Boden sehe, weil er voller Gefahren ist, unberechenbar und launisch: Lücken zwischen Betonplatten, unebenes Pflaster, Risse im Bürgersteig. Wenn ich nicht ständig aufpasse, wohin ich meine Füße setze, ist es so gut wie sicher, dass ich irgendwann stürze.



Ein Stock

, überlegte ich,

wäre wahrscheinlich hilfreich

.



Für viele von uns mit körperlichen Behinderungen kann der Wald ein gefährlicher Ort sein. Es ist aussichtslos, mit einem Rollstuhl zwischen die Bäume fahren zu wollen, wo es keinen deutlich markierten und planierten Weg gibt; selbst mit einem Blindenhund an der Seite ist die Navigation mitunter schwierig. Ich würde wetten, dass der Wald sogar denen Probleme bereitet, deren Behinderung oft als unsichtbar erachtet wird; ein finsterer Ort, voller Gerüche und sensorischer Angriffe, an dem sogar nichtbehinderte Menschen sich verlieren können.



Eine Prinzessin im Rollstuhl hätte wohl ihre Schwierigkeiten, die Brombeeren zu finden

, dachte ich, während ich mich durchs Gebüsch schlug. Kurz hielt ich inne und musste lächeln. Eine Prinzessin im Rollstuhl?

Wo gibt’s denn so was?



Doch als ich zum Brombeerstrauch durchgedrungen war, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an die unbekannte Prinzessin in ihrem Rollstuhl. An die Prinzessin, an die sieben Zwerge, die Schneewittchen geholfen haben, und an Rumpelstilzchen. An die Hässlichkeit des Biests in ›Die Schöne und das Biest‹, an die böse Königin in ›Schneewittchen‹, die sich in eine bucklige Alte verwandelt, an den Prinzen, der erblindet, nachdem die Zauberin Rapunzel aus ihrem Turm entführt hat, an die Prinzessin, die in einen langen, verwunschenen Schlaf fällt. An die Hexe mit der Krücke in ›Hänsel und Gretel‹, an Aschenputtels Stiefschwestern, denen die Tauben die Augen auspicken, und an all die hässlichen Prinzen und Prinzessinnen, die dank ihrer List den Thron erobern und deren Schönheit sich schließlich offenbart oder ihnen geschenkt wird.



Und plötzlich war ich nicht mehr alleine im Wald; plötzlich eröffneten sich all diese Zusammenhänge: Behinderung und Märchen,

wie offensichtlich

, warum war ich bloß vorher noch nie darauf gekommen?



Daraus musste ein Essay werden, dachte ich mir. Aber zweifellos gab es das bereits, zweifellos war über den Zusammenhang von Märchen und Behinderung schon millionenfach geschrieben worden. Es gab

so viel

 daran, worüber man schreiben konnte. Klügere Leute als ich hatten das sicher schon getan, und zwar gut. Ich labte mich an den Brombeeren, ging zurück zu meiner Hütte und machte mich wieder an meinen Roman.

 



Doch zwischendurch kreisten meine Gedanken immer wieder um die Momente im Wald. Behinderung und Märchen. Behinderung

im

 Märchen.



Als ich wieder zu Hause war, recherchierte ich ein bisschen und fand erstaunlich wenig zu dem Thema. Überzeugt davon, dass ich etwas übersehen hatte, grub ich etwas tiefer. Bei meinen Grabungen stieß ich auf Ann Schmiesing und ihr wunderbares Buch

Disability, Deformity, and Disease in the Grimms’ Fairy Tales

. Ich stieß auf Sharon Snyder und David T. Mitchell und ihre Arbeiten über narrative Prothesen, auf den Disability-Forscher Tobin Siebers und auf die fantastische Bandbreite der Forschungen von Jack Zipes.



Und ich kam auch wieder zu den Märchen. So viele düsterere Versionen der Disney-Geschichten, die ich als Kind gekannt hatte – und auch so viele düsterere Elemente in den Disney-Geschichten. Warum war Scar, der Bösewicht aus dem

König der Löwen

, nur unter der Narbe bekannt, die sein Gesicht zeichnete? Warum jagte mir die Darstellung des »buckligen« Quasimodo Schauer über den Rücken? Warum hatte ich beim Anblick der kleinen Meerjungfrau Arielle, nachdem ihr Beine wachsen und sie an Land kommt, nie mich selbst in ihrer unsicheren Haltung und ihrem Stolpern wiedererkannt?



Warum war es in all den Geschichten über jemanden, der oder die jemand oder etwas anderes sein möchte, immer das Individuum, das sich ändern musste, und nie die Welt?



Entstellt

 ist mein Versuch, einige der bekannteren westlichen Märchen-Archetypen aus der Perspektive der Behindertenrechtsbewegung zu beleuchten. Wenn wir die Schäden, die diese Archetypen anrichten, überwinden wollen, müssen wir zunächst verstehen, wie sie entstanden sind – warum der entstellte Körper historisch als weniger vollkommen angesehen wurde; warum Märchen, die häufig mit scheinbarem Empowerment assoziiert werden, einen Nährboden für behindertenfeindliche Narrative geschaffen haben; und wie die Anziehungskraft und Wirkmacht dieser Geschichten die Wahrnehmung von Behinderung bis heute beeinflussen.



Um uns das Narrativ von Behinderung zurückzuerobern, müssen wir verstehen,

warum

 Erzählungen wie Märchen von Anfang an so davon fasziniert waren, und

warum

 sie Differenz – und Behinderung – verleumdet haben, um der Welt einen Sinn zu geben.



Einige Anmerkungen. Als jemand, die mit westlichen Märchen und deren Bearbeitungen aufgewachsen ist, beabsichtige ich, sozusagen in meinem Metier zu bleiben und mich in diesem Buch überwiegend auf Märchen und popkulturelle Held*innen zu konzentrieren, die einem westlichen Publikum bekannt sind. Auch wenn ich gelegentlich Märchen aus anderen Kulturen erwähnen werde, um die Verbreitung bestimmter Archetypen zu zeigen, handelt der Großteil dieses Buchs von westlichen Märchen und den zahlreichen modernen Bearbeitungen, die in überwiegend europäischem Kontext aus ihnen hervorgegangen sind. Ich hoffe sehr, dass dieses Buch auch etwas zum Gespräch über Behinderung in Märchen aus anderen Kulturen beitragen kann, und freue mich darauf, mehr darüber zu erfahren.



Es ist mir außerdem wichtig zu betonen, dass es sich bei diesem Buch nicht um ein Werk der Märchenforschung handelt. Meine Absicht ist es, Märchen aus der Perspektive von jemandem zu betrachten, die Märchen immer geliebt, die jedoch den Großteil ihres Lebens in laienhafter Kenntnis damit hantiert hat. Da mich insbesondere die Schnittstellen von Märchen-Narrativen und ihren Archetypen mit der Darstellung von Behinderung interessieren, mag es gelegentlich so scheinen, als würde ich bei meinen Interpretationen Märchen miteinander gruppieren, die traditionell als unterschiedlich gelten (etwa in den Abschnitten über die Brüder Grimm und Hans Christian Andersens ›Kleine Meerjungfrau‹).



Dieses Buch soll auch kein Werk der Behindertenforschung sein. Ich bin eine körperlich behinderte Frau, die zudem mit einer schweren depressiven Störung zu tun hat. Auch wenn ich meine eigenen Erfahrungen nutze, um Märchen und ihren kulturellen Einfluss in der Welt zu untersuchen, ist es weder meine Absicht, für das Feld der Behindertenforschung zu sprechen, noch für alle behinderten Menschen oder für all jene, die sich regelmäßig den Herausforderungen ihrer eigenen psychischen Gesundheit stellen müssen. Behinderung ist keine monolithische Erfahrung – jede behinderte Person hat ihre eigene Geschichte, und wie wir uns in der Welt bewegen, ist ebenso vielfältig und komplex.



Es ist mir außerdem wichtig, anzumerken, dass ich aufgrund meiner Erfahrungen als weiße behinderte Frau über Mehrfachmarginalisierungen innerhalb der Behinderten-Community zwangsläufig nur eingeschränkt Aussagen machen kann. Wir müssen den Geschichten behinderter Menschen aus BIPoC-Communitys (Black, Indigenous and People of Colour) Raum geben, sie anhören und fördern. Die Frage, wie westliche Märchen zu den kolonialistischen und kapitalistischen Strukturen beigetragen haben, die behinderte BIPoC bis heute marginalisieren, sollten alle weißen behinderten Menschen stellen, unabhängig von den Intersektionen innerhalb unserer eigenen Communitys. Ich wünsche mir, dass die in diesem Buch thematisierten Fragen zu Gesprächen darüber beitragen können, wie insbesondere behinderte Menschen aus BIPoC-Communitys durch Märchen beeinflusst und verletzt wurden. Ich hoffe, dass dieses Buch zu den Menschen auf jeweils die Weise spricht, die sie brauchen. Indem ich meine eigene Geschichte erzähle und untersuche, wie Behinderung in einigen der bekanntesten westlichen Märchen funktioniert, hoffe ich außerdem, den Diskurs über die Repräsentation von Behinderung in unseren heutigen Erzählungen voranbringen zu können.



Im Buch verstreut finden sich Konsultationsberichte des ersten Neurochirurgen, der mich operierte, als ich vier Jahre alt war. Ich habe Auszüge aus diesen Berichten eingefügt, weil für mich das Verständnis dessen, was meinen Eltern über meine Behinderung gesagt wurde – und auch dessen, was meine Ärzt*innen sich selbst darüber sagten –, entscheidend ist für mein eigenes Verständnis davon, wie meine Behinderung sich auf mein heutiges Leben auswirkt. Indem ich die Aussagen meines Arztes hier veröffentliche, versuche ich, mir mein eigenes Narrativ zurückzuerobern. Ich möchte dennoch betonen, dass niemand von behinderten Menschen erwarten darf, dass sie ihre Krankenakten mit der Öffentlichkeit teilen. Bei meinen Erfahrungen mit der medizinischen Welt hatte ich großes Glück – und Privilegien –, und mir ist bewusst, dass dies für viele nicht gilt.



Ich habe, während ich

Entstellt

 schrieb, mit vielen behinderten Menschen gesprochen. Sofern es von den Betreffenden nicht anders gewünscht war, nutze ich im Text durchgehend

identity-first language. Identity-first language

 (»behinderter Mensch«) drückt aus, dass die behinderte Identität ein wichtiger Teil dessen ist, was eine Person ausmacht, dass sie untrennbar damit verbunden ist, wie sie sich in der Welt bewegt. Im Gegensatz dazu argumentiert die

person-first language

 (»Mensch mit Behinderung«), dass jemand in erster Linie ein Mensch ist und erst danach jemand mit einer Behinderung. Der allgemeine Konsens unter Behindertenaktivist*innen ist, dass die

person-first language

, wenngleich sie gut gemeint sein mag, Behinderung und Identität trennt und so die Abwertung von Behinderung, die Vorstellung von Behinderung als etwas Negativem fortschreibt.



Die Behinderungen und Pronomen jeder Person in diesem Buch wurden entsprechend den jeweiligen Wünschen der Betreffenden verwendet.



Ich bin allen dankbar, die ihre Zeit und Expertise mit mir geteilt haben, und hoffe sehr, dass die Untersuchungen in diesem Buch ihnen allen gerecht werden.







1 Das Kind, dessen Kopf in Dunkelheit getaucht war





Es fängt, wie alle Märchen, mit einem Problem an. Es waren einmal ein Holzfäller und seine Frau, die waren kinderlos. Es war einmal ein wohlhabender Mann, dessen Frau starb, und weil er einsam war, heiratete er eine neue Frau, die grausam zu seinem Kind war. Es war einmal eine Meerjungfrau, die über das Meer hinaussah und sich danach sehnte, auf dem Land zu gehen.



In diesem Fall waren es eine Mutter und ein Vater mit einer siebzehn Monate alten Tochter, die noch nicht laufen gelernt hat. Das muss nicht immer ein Problem sein – manche Kinder lernen es früher, andere lassen sich Zeit –, aber diese Eltern sind beunruhigt. Sie lesen die Literatur zu den üblichen Stufen frühkindlicher Entwicklung und befragen Ärzt*innen, die ihnen sagen, sie sollen sich keine Sorgen machen. Nachts wiederholen sie flüsternd diese Worte:

Keine Sorge. Es wird alles gut

.



Sie haben schon einmal ein Kind verloren – eine Tochter, dunkelhaarig und stumm, die schon tot auf die Welt kam. Das war anderthalb Jahre vor der Geburt ihrer zweiten Tochter. Ihre Asche ruht in einer kleinen grauen Kiste im Regal ihres Schlafzimmers. Sie haben Angst, sind aber auch voller Hoffnung.



Manchmal dauert es eben ein bisschen länger

, beruhigen sie sich.

Jedes Kind ist anders

. Mit den anderen Entwicklungsstufen ihrer zweiten Tochter ist alles in Ordnung. Sie lacht, sie weint, sie krabbelt mühelos. Sie isst alles, was man ihr vorsetzt. (

So eine gute Esserin

, sagt ihr Großvater. Der Spruch sollte zu ihrem ältesten Familienwitz werden.)



Als sie kurz vor ihrem zweiten Geburtstag ihre ersten Schritte macht, sind die Eltern überglücklich, wenngleich noch immer besorgt. Der rechte Fuß ihrer Tochter dreht sich nach innen, so dass das rechte Bein zum linken hin einknickt. Sie zieht es nicht nach, nicht so richtig zumindest, aber irgendetwas an ihrem Gang sieht nicht ganz richtig aus. So etwas wird in ihren Babybüchern nicht erwähnt, es sind dort keine Beine abgebildet, die sich

genau so

 neigen. Sie gehen mit ihr zu einer Ärztin, die bestätigt: Irgendetwas ist nicht so, wie es sein sollte.



Mehr noch: Die Ärztin vertraut ihnen, glaubt ihnen, sie versteht den dunklen Fluss von Verunsicherung, der tief im Inneren aller Eltern fließt.



»Ich höre den Müttern zu«, sagt sie. »Sie wissen immer, wenn etwas nicht stimmt.«



Die Ärztin überweist sie zu einem Neurologen, der sie in eine andere Stadt schickt, wo man das Mädchen in eine Maschine stecken und ihr Gehirn betrachten kann.



Märchen, wie wir in der modernen westlichen Welt sie verstehen, haben eine reiche und vielfältige Geschichte. Der

Oxford Companion to Fairy Tales

 definiert sie als »Narrative von Zauberei und Fantasie, die als fiktional verstanden werden«. Der englische Ausdruck

fairy tale

 geht zurück auf eine Veröffentlichung der französischen Adligen Marie-Catherine d’Aulnoy aus dem Jahr 1697,

Les contes des fées

. Doch Märchen gab es – in schriftlicher wie mündlicher Form – schon viel früher. Vor ihrer Verschriftlichung wurden sie lange mündlich überliefert. Die Form, die sich über Tausende von Jahren erhalten konnte, ist stärker als die der meisten anderen Geschichten – und da sie den Launen der mündlichen Nacherzählung unterworfen ist, zugleich um vieles empfindlicher.



Einige Märchen fallen in die Unterkategorie der

Volkssage

, ein Begriff, der mittlerweile recht weitgreifend die Gesamtheit der Erzählungen, Sagen, Mythen und Legenden einer bestimmten Kultur umfasst. (Auch wenn die Grenzen manchmal fließend sind, bemerkte der Ethnologe William Bascom, dass die Ethnologie oft zwischen Mythen und Legenden einerseits und Märchen andererseits anhand der Haltung unterscheidet, die die Menschen zu ihnen einnehmen. Dem Anthropologen Elliott Oring zufolge werden Mythen »als zugleich heilig und wahr« angesehen, während Legenden sich auf einen einzelnen, wundersamen Aspekt einer Geschichte konzentrieren. Im Gegensatz dazu gelten Märchen von Anfang bis Ende als fiktiv.)



Es finden sich Märchenelemente in ›Der goldene Esel‹, dem einzigen überlieferten Roman der griechischen Antike; sie finden sich in ›Bel und der Drache‹ im Buch Daniel des Alten Testaments, das auf das fünfte oder sechste vorchristliche Jahrhundert datiert wird. Kunstmärchen wiederum stammen nicht aus mündlichen Überlieferungen, sondern sind Schöpfungen bekannter Urheber*innen. Hans Christian Andersen schuf eigene Märchen, ebenso wie Lewis Carroll und Edith Nesbit. J. M. Barrie verwendete Märchenelemente in

Peter Pan

, das von Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen geschätzt wird, ebenso wie L. Frank Baum im

Zauberer von Oz

.



Während der Begriff

Märchen

, wie wir ihn in der westlichen Kultur verstehen, sich grundsätzlich auf europäische Erzählungen bezieht, umfasst der Oberbegriff

Volksmärchen

 Geschichten aus der ganzen Welt. In vielen Fällen haben klassische europäische Märchen ähnliche Entsprechungen in anderen Ländern, von denen einige um Jahrhunderte oder sogar noch weiter zurückreichen als ihre europäischen Pendants. Die Ursprünge von Erzählungen wie ›Hans und die Bohnenranke‹, ›Die Schöne und das Biest‹ oder ›Rumpelstilzchen‹ lassen sich in ihren weltweiten Varianten über viertausend Jahre zurückverfolgen.

 



Im Grunde erzählen wir einander Geschichten, seit wir sprechen können. Das Genre Märchen mag eine relativ junge Entwicklung sein, doch es ist eine Art von Erzählung, die es in unterschiedlichen Formen von Anbeginn der Zeit gegeben hat.



Genauer gesagt haben wir diese Erzählweise benutzt, um das zu beschreiben, was anders ist. Ob diese Andersartigkeit in einer Entstellung begründet ist oder in sozialer Ausgrenzung: Märchen drehen sich oft in irgendeiner Weise um Protagonist*innen, die sich vom Rest der Welt unterscheiden.



»Der Zweck von Geschichten«, stellt der Amerikanist und Disability-Forscher David T. Mitchell fest, »ist, das zu erklären, was aus der Reihe fällt. Das Begreifen von Unterschieden zwischen Menschen ist eines der ersten Dinge, die den Akt des Geschichtenerzählens ins Leben rufen.«



Durch Geschichten verleihen wir der Welt Gestalt, um sie zu verstehen – und historisch gesehen haben wir durch Geschichten den Unterschieden überhaupt erst Gestalt verliehen. Ohne die Hilfe der Wissenschaft beim Verstehen dessen, was nicht in die Reihe passt, ist es nachvollziehbar, dass zuerst Geschichten diese Funktion erfüllten. Ich bin drei Jahre alt, als meine Eltern mich in ein Krankenhaus in London, Ontario, zum CT-Scan bringen. Ich habe kaum Erinnerungen daran – vielleicht erinnere ich mich an das Gefühl des Eingeschlossenseins in der riesigen, surrenden Maschine, doch da in den darauffolgenden Jahren noch weitere CT-Scans von mir gemacht werden sollten, erinnere ich mich wahrscheinlich eher an diese. Es sind meine Eltern, die die Erinnerungen bewahren: die fast zwei Stunden dauernde Fahrt in die andere Stadt, wie sie die Angst beschleicht, als sie im Auto sitzen, wie sie immer wieder versuchen, ein Gespräch anzufangen. Vielleicht bin ich unterwegs eingeschlafen – es ist sogar wahrscheinlich. Ich schlafe immer noch in Autos ein, so viele Jahre später.



Ich bin drei Jahre alt und spiele auf dem Fußboden, als die Neurologin meine Mutter aufruft, um ihr die Befunde mitzuteilen. Dort, wo Teile meines Gehirns sein sollten, ist ein leerer Raum, erklärt sie ihr. Die Scans zeigen einen dunklen Fleck im Zentrum meines Großhirns, eingebettet zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte.



»Dort sollte eigentlich Gehirnmasse sein«, sagt die Neurologin, »aber da ist nichts.«



Meine Mutter fängt an zu weinen. Ich greife nach ihr, bin verwirrt.



Aber sie weiß doch, wer ich bin

, denkt meine Mutter.

Sie sieht gar nicht aus, als hätte sie kein Gehirn. Was soll das alles bedeuten?



Die Neurologin empfiehlt eine Operation und verweist uns an einen anderen Arzt. Wir gehen zum Beratungsgespräch. Meine Eltern mögen ihn nicht.



»Er war ein junger Arzt«, erzählt mir meine Mutter heute. »Man merkte, dass er überhaupt nicht wusste, was zu tun war, dass er nur Vermutungen anstellte.« In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an ihre Cousine, die als Krankenschwester in der Kardiologie arbeitet. Die Cousine hört sich um und liefert meinen Eltern einen Namen: Dr. Humphreys vom Kinderkrankenhaus in Toronto. Dieses Krankenhaus liegt wieder eine Stunde von meiner Heimatstadt entfernt, in der entgegengesetzten Richtung.



Wenn der Arzt es von ihnen verlangt hätte, wären meine Eltern in den Wald gegangen und hätten einen Haselzweig gesucht, sie hätten ihn vor unserer Haustür eingepflanzt und auf Regen gewartet. Sie hätten ein gemästetes Kalb geschlachtet und sein Blut um die Tür versprengt, oder mich zu einer Waldhexe gebracht und sie um einen Zaubertrank gebeten, den sie in mein Essen gemischt hätten. Sie hätten einen alten Mann vor ihrer Haustür angetroffen, von dem sie instinktiv wüssten, dass er der (verkleidete) Teufel ist, und hätten ihm die Reichtümer ihres Hauses und ihrer Ländereien als Gegenleistung für meine Gesundung versprochen. Sie hätten alles getan, sie würden alles tun für die Sicherheit und Unversehrtheit ihrer kleinen Tochter. Sie können sich nicht vorstellen, wie das Leben sonst sein soll.



Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben

, sagt Joan Didion.



Sie fahren mit mir ins Krankenhaus, sie falten die Hände und beten.



Anders als Legenden und Mythen gelten Märchen im Allgemeinen nicht als auf irgendeiner historischen Wahrheit beruhend. Ihr oberster Zweck ist meist moralischer Natur: Märchen sollen uns etwas lehren, uns etwas über einen Teil der Welt erzählen, der in irgendeiner Weise missverstanden wurde. In den deutschen Märchen (Diminutiv von mittelhochdeutsch

mære

, aus dem Althochdeutschen

māren

: verkünden, rühmen), dem Äquivalent des englischen

fairy tale

 (»Feenerzählung«) spielen Feen nur selten eine Rolle, jedoch enthalten sie allesamt Elemente des Wundersamen: Gänsemägde, die zu Prinzessinnen werden, drachentötende Helden, Königinnen, die zur Magie greifen, um ein Kind zu bekommen.



In Europa nahm das Genre als literarische Form während der Renaissance Gestalt an. Autoren wie Giovanni Francesco Straparola (

Le piacevoli notti

;

Ergötzliche Nächte

) und Giambattista Basile (

Il Pentamerone

;

Pentameron

) die darin enthaltene Erzählung ›Sonne, Mond und Thalia‹ ist die erste schriftliche Version von ›Dornröschen‹) bereiteten den Boden für die nachfolgenden Erzählungen von Charles Perrault (Frankreich) und die Sammlungen der Brüder Grimm.



Im siebzehnten Jahrhundert, als Madame d’Aulnoy in Frankreich ihre Märchen zu schreiben begann, wurde das Kunstmärchen zum beliebten Zeitvertreib adeliger Damen, die diese in ihren verschiedenen Salons erzählten und verbreiteten. Hier lässt sich die Auswirkung sozialer und kultureller Veränderungen auf die Geschichten beobachten: Ihr Schwerpunkt verlagerte sich hin zur Betonung bestimmter Vorstellungen von Moral und Etikette, wobei die Märchen stets mit großem rednerischen Elan erzählt wurden, der wiederum Form und Struktur der literarischen Sprache und des literarischen Stils zu beeinflussen begann.



Die gesammelten Märchen der Brüder Grimm, die in Deutschland als

Kinder- und Hausmärchen

 veröffentlicht wurden und wahrscheinlich das bekannteste Beispiel europäischer mündlich tradierter und in schriftlicher Form zusammengetragener Märchen darstellen, waren zunächst ein Versuch, diesem hochgestimmten »literarischen« Stil entgegenzuwirken. Die Brüder Grimm wollten die den deutschen Volkssagen und -erzählungen innewohnende – wie sie es nannten – »Naturpoesie« erhalten, die sie in ihrer ursprünglichen Form bei den bäuerlichen Schichten bewahrt glaubten und die zu verschwinden drohte, indem die Welt sich allmählich literarischen Formen in Büchern und anderen Veröffentlichungen zuwandte. In den Einleitungen der ersten Ausgaben der Märchen priesen die Grimms den »robusten« und »gesunden« Charakter derjenigen, deren Märchen sie gesammelt hatten – Eigenschaften, die sie als maßgeblich für das Geschichtenerzählen betrachteten. So wie Industrialisierung und Verstädterung bäuerliche Lebensformen in Deutschland zunehmend verdrängten, sahen die Brüder Grimm im Aufkommen einer literarischen Kultur eine Bedrohung für die Traditionen des Erzählens, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatten.



»Es besteht also eine Parallele«, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Ann Schmiesing, »zwischen der Prekarität des menschlichen Seins und der Prekarität des mündlich überlieferten Märchens . Das Märchen kann nicht überleben, wenn es nicht weitererzählt und gehört bzw. aufgeschrieben und gelesen wird.«



Eine große Ironie hierbei ist jedoch, dass Wilhelm und Jacob Grimm eine beträchtliche Anzahl ihrer Märchen in Wirklichkeit von adeligen Damen und nicht von Angehörigen der bäuerlichen Schicht gesammelt haben. Im Nachwort zur Erstausgabe der

Kinder- und Hausmärchen

 (im Folgenden abgekürzt als

KHM

) lobt Jacob Grimm insbesondere die Erzählkunst einer gewissen Dorothea Viehmann, die »noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahre alt, hell und scharf aus den Augen . Sie bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtnis, welche Gabe, wie sie sagt, nicht jedem verliehen sei.« Tatsächlich gehörte Viehmann jedoch zur Mittelschicht – sie war die Tochter eines Gasthofbesitzers, die ihre zahlreichen Kinder alleine großziehen musste. Sie verstarb nach dem Erschei