Heil mich, wenn du kannst

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Aus der Reihe: Heil mich - Reihe #2
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Heil mich, wenn du kannst
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Alisha Mc Shaw, Melanie Weber-Tilse

Heil mich, wenn du kannst

Annabell

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhaltsverzeichnis

Bereits erschienen:

Vorwort

Prolog

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Jonathan

Annabell

Epilog

Danksagung Alisha Mc Shaw

Über Alisha Mc Shaw

Danksagung Melanie Weber-Tilse

Über Melanie Weber-Tilse

Impressum neobooks

Inhaltsverzeichnis


Über das Buch:

»Lass mich nicht gehen«, flüsterte er und sah sie flehentlich an. »Ich liebe dich, Anna.«

Vier Jahre.

Vier Jahre lag Annabell Thompson nach einem brutalen Überfall im Koma. Nach dem Aufwachen ist nichts mehr so, wie es einmal war. Durch ein Trauma all ihrer Erinnerungen beraubt, möchte sie einfach nur noch sterben. Doch nicht nur ihre Familie kämpft um sie, sondern auch der Eine, der all die Jahre nicht von ihrer Seite gewichen ist: ihr Pfleger Jonathan. Den aufkeimenden Gefühlen traut sie jedoch nicht und stößt Jon von sich.

Vier Jahre.

Vier Jahre ist Jonathan Briggs schon der Pfleger von Annabell Thompson. Als sie endlich aus ihrem langjährigen Schlaf erwacht, verändert sich alles. Von der lebensfrohen Person, von der ihr Bruder Michael ihm so oft erzählt hat, ist nichts mehr übrig. Mutig nimmt Jon den Kampf gegen die Dämonen auf, die Annabell beherrschen, denn eins steht für ihn fest: Wer liebt, gibt nicht auf.

Deutsche Originalausgabe, 1. Auflage 2016

Ihr findet uns auf

facebook.com/AlishaMcShaw

http://alishamcshaw.de/

www.weber-tilse.de

https://www.facebook.com/m.webertilse

Herausgeber:

Alisha Mc Shaw

Apostelstrasse 8, 56567 Neuwied

Melanie Weber-Tilse

Breslauer Str. 11, 35274 Kirchhain

© Oktober 2016 Alisha Mc Shaw / Melanie Weber-Tilse

Alle Rechte vorbehalten!

Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der offiziellen Erlaubnis durch die Autoren.

Covergestaltung: Alisha Mc Shaw / http://alishamcshaw.de/

Bilder: © deposit123, © feedough © nejron © SOMATUSCANI / depositphotos.com

Bilder Inlay: © neirfys, © seamartini / depositphotos.com



Bereits erschienen:

Heil mich, wenn du kannst: Michael


Eine Stunde.

Eine Stunde hat gereicht, um das Leben von Michael Thompson völlig auf den Kopf zu stellen und dafür zu sorgen, dass nichts mehr ist, wie es vorher war. Eine Stunde, die er zu spät war, um den brutalen Überfall auf seine Schwester Annabell zu verhindern, infolge dessen sie im Koma liegt.

Eine Nacht.

Eine Nacht hat gereicht, um auch das Leben von Susan Weatherbee völlig umzukrempeln. Einst von Michael auf Händen getragen, hält er es von einem Tag auf den anderen nicht mehr für nötig, sich bei ihr zu melden. Als sie ihn zur Rede stellen will, wird sie hochkant von ihm herausgeworfen.

Vier Jahre später treffen sie wieder aufeinander. Beide hüten ein Geheimnis, das erneut alles verändern könnte.

Vorwort

Vor 4 Jahren wurde Annabell Thompson bei einem brutalen Überfall von einem unbekannten Junkie ins Koma geprügelt, aus dem sie lange Zeit nicht wieder aufwacht. In Band 1 erzählen wir die Geschichte von Michael, Annabells Bruder, der sich und die Frau, die er liebt, für das verantwortlich macht, was an diesem Abend passiert ist. Aus diesem Grund stößt er Susan damals von sich.

In »Heil mich, wenn du kannst - Michael« berichten wir vom langen Weg, den Susan und Michael vor sich haben, um wieder zueinanderzufinden. Annabells Geschichte ist in sich abgeschlossen, wodurch wir aber trotzdem nicht ganz verhindern können, dass sich dir als Leser manche Dinge besser erschließen, wenn du das erste Buch kennst :)

Prolog


Geräusche waren zu hören. Weit weg und dumpf. Stimmenfetzen … und dann spürte sie es. Spürte Hände an sich, an ihren Beinen.

Ihre Nervenenden schickten keine stimmigen Informationen. Wer oder was fasste sie an? Vor allen Dingen, warum wurde sie angefasst?

Die Stimme wurde klarer, immer deutlicher wurde die Bewegung, die mit ihrem Bein ausgeführt wurde.

»Ach Annabell, ich hoffe, dass die beiden sich endlich zusammenraufen.«

Wer war Annabell? Wer sprach mit ihr? Und wer sollte sich zusammenraufen? Und vor allem, wo zum Teufel war sie?

Mühsam öffnete sie ihre Augen. Die Umgebung stellte sich verschwommen dar und sie konnte kaum Umrisse ausmachen. Nach mehrmaligem Blinzeln erkannte sie langsam Formen und Farben.

»Michael liebt sie und doch begeht er eine Dummheit nach der anderen. Dieser Hauskauf war eine Schnapsidee. Ich hoffe, dass er wenigstens bei seinem Gespräch mit ihr die Kurve bekommt.«

Die Sicht wurde schärfer und auch alles andere, was sie nicht hatte einordnen können, kam als ganze Information bei ihr an.

Wenn sie dem glauben konnte, lag sie in einem Bett, wo genau konnte sie noch nicht bestimmen, ein Mann erzählte ihr irgendwelche Neuigkeiten von einem Michael, und währenddessen lagen seine Hände an ihren Beinen und vollführten irgendeine gymnastische Übung.

Endlich war ihr Fokus so weit hergestellt, dass sie den Mann erkennen konnte, der mit ihr sprach. Er war groß und hatte lange, braune Haare, zu einem Zopf gebunden. Sie versuchte, auf sich aufmerksam zu machen, aber weder verließ ein Laut ihren Mund, noch konnte sie ihre Gliedmaßen bewegen.

Einzig ihre Augen hatte sie unter Kontrolle, doch der Mann schaute sie nicht an. Seine Hände massierten ihre Unterschenkel und hoben immer wieder die Beine an.

»Ich würde es mir für Susan und ihre Tochter wünschen. Michael ist kein schlechter Kerl. Aber das muss ich dir ja nicht erzählen. Du bist seine Schwester und weißt, was er für ein Sturkopf sein kann. Wobei ich mir sicher bin, dass du ihm in nichts nachstehst. Oder, Annabell?« Er sah ihr ins Gesicht und ein warmes Lächeln umspielte seinen Mund.

Dann hielt er in der Bewegung inne, wurde bleich und zog lautstark die Luft ein. Er legte ihr Beine auf das Bett, zog fahrig die Decke darüber und kam endlich an die Kopfseite.

 

»Annabell? Verstehst du mich?« Er beobachtete sie genau.

Sie war somit Annabell, das hatte sie jetzt begriffen. Aber sie konnte ihm kein Zeichen geben, dass sie ihn verstand. Oder doch … sie schloss langsam die Augenlider und öffnete sie wieder.

Er riss die Augen auf und wurde noch eine Nuance blasser. »Kannst du das noch mal machen? Deine Augen schließen und wieder öffnen?«, flüsterte er.

Sie wiederholte es, und als sie ihn erneut ansah, schlug er sich die Hand vor den Mund.

»Oh mein Gott. Du bist wieder bei uns. Das muss ich Michael sofort erzählen!«

Dann sprang der Mann auf und eilte aus dem Zimmer. Sie dagegen stellte sich jetzt nur noch eine einzige Frage: Wo war sie wieder?

Jonathan

Das kalte Wasser kühlte sein erhitztes Gemüt ab, die Aufregung in seinem Inneren jedoch konnte es nicht beseitigen. Jonathan richtete sich wieder auf und betrachtete sich im Spiegel der Herrentoilette.

Sechs Wochen waren seit dem Aufwachen Annabells aus dem Koma vergangen, und heute waren ihr Bruder Michael und er ins 250 km entfernte Therapiezentrum gefahren, um sie nach Hause zu holen. Draußen vor der Tür stand ein GMC Vandura, der speziell für den Umgang mit einem Rollstuhl, wie ihn Annabell noch lange Zeit brauchen würde, umgebaut worden war.

Jonathan verstand selbst nicht genau, warum er so nervös war. Schließlich hatte er in den letzten Wochen fast mehr Zeit hier im Zentrum verbracht, als in seinem Zimmer auf dem Anwesen der Thompsons, wo er seit nunmehr vier Jahren wohnte. Während man Annabell auf Folgeschäden hin untersucht und einen Therapieplan für die nächsten Monate zusammengestellt hatte, wurde er von den Fachärzten vorbereitet, weiter geschult und mit ihrem Plan vertraut gemacht. Da Susan, die Annabell gemeinsam mit ihm gepflegt hatte, schwanger war, würde sie ihm Zuhause nicht mehr helfen dürfen. Susans Chef von der Health Help International hatte sich aber sofort bereit erklärt, für die Körperpflege Annas jeden Tag eine andere Pflegerin vorbeizuschicken.

Außer der immer noch andauernden Amnesie hatten sich bis jetzt keine Folgeschäden gezeigt, jedoch wollten die Ärzte keine Garantie dafür geben, das solche nicht noch folgen konnten. An ihrem durch das lange Liegen verursachten Muskelschwund würden sie in den folgenden Wochen intensiv arbeiten. Es war der Gedächtnisverlust, der ihm viel mehr Sorgen bereitete. Annabell konnte sich noch immer nicht daran erinnern, wer sie war und was sich ereignet hatte. Die Ärzte hatten erklärt, das sei keine ungewöhnliche Sache, da sich das Gehirn so vor dem schützen wolle, was ihr bei dem Überfall zugestoßen war. Wie lange diese Sache jedoch dauern würde, darauf wollte sich keiner von ihnen festlegen.

Unermüdlich hatte Michael seiner Schwester seither Bilder aus ihrer Kindheit und Jugend mitgebracht und vorgelegt, aber auch solche von vor dem Koma. Immer wieder erzählte er ihr neue Geschichten aus der Vergangenheit. Lediglich vom Abend des Überfalls erwähnte er nichts, da er auch heute noch Schuldgefühle hatte. Seine größte Angst war, dass Anna ihm nicht verzeihen konnte, dass er am Abend des Überfalls zu spät gewesen war, um sie von einer Party abzuholen und so eine Mitschuld an den Ereignissen trug.

Auch ein Tagebuch aus Teenagerzeit hatte Michael gefunden, und manchmal - an guten Tagen – blätterte sie sogar darin. Leider gab es nicht viele gute Tage, sie verweigerte sich fast allem. Trotzdem glaubte ihr Bruder daran, dass Annabell sich wieder erinnern würde, wünschte es sich sogar – selbst wenn sie ihm dann auf ewig böse wäre.

Jonathan bewunderte das. Michael war gut darin, an Dinge zu glauben. Schon damals vor 4 Jahren war er fest davon überzeugt, dass sie wieder aufwachen würde. Die Zeit hatte ihn zermürbend langsam eines Besseren belehren wollen, und er, Jonathan, konnte dabei zusehen, wie die Hoffnung immer weniger wurde. Als dann Susan Weatherbee, eine neue Pflegerin für Annabell im Hause Thompson auftauchte, begann Michael erneut zu glauben. Daran, diese Frau erobern zu können, Fehler aus der Vergangenheit wiedergutzumachen.

Denn Susan war die Frau, die Michael seit Jahren insgeheim für das verantwortlich machte, was Annabell zugestoßen war. Doch auch Susan hütete ein Geheimnis, das die Welt aller kurzzeitig auf den Kopf gestellt hatte. Susan hatte ein Kind. Michaels Kind. Doch die beiden hatten nach einigen Anlaufschwierigkeiten ihre Probleme in den Griff bekommen und waren glücklich.

Jonathan gab sich einen Ruck und verließ die Herrentoilette. Vor der Tür wartete Michael auf ihn, sah ihm lächelnd entgegen. Man konnte förmlich spüren, wie froh er darüber war, dass es für seine Schwester heute nach Hause ging. Dass er dieses Glück gleich zerstören würde, machte es ihm nicht gerade einfacher, seinem Boss unbedarft entgegenzusehen und zu lächeln.

Jon war sicher, dass Michael nicht damit rechnete, wie wenig seine Schwester noch immer selbst konnte. Annabell hatte in den letzten Wochen fast jede Therapiemaßnahme verweigert, oder bestenfalls teilnahmslos über sich ergehen lassen. Ihr Lebenswille schien erloschen zu sein. »Dann werde ich Annabell mal holen gehen, was?«, versuchte er dennoch, einen ungezwungenen Ton an den Tag zu legen. Michael nickte lediglich und klopfte ihm auf die Schulter.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen machte sich Jonathan auf den Weg in Annabells Zimmer. Er konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, wie es sich für sie anfühlen musste, ihr Schicksal in fremde Hände legen zu müssen, aber er gewann mehr und mehr den Eindruck, dass sie begann, sich ihm gegenüber etwas zu öffnen. Es waren nur minimale Fortschritte, aber enorm wichtig für ihre Genesung. Nachdem er geklopft hatte, öffnete er die Tür zu ihrem Zimmer. Er klemmte sie fest, damit sie offenblieb, und trat ein.

»Der Shuttle-Service ist da!«, lächelte er Annabell an, nachdem sie den Kopf langsam in seine Richtung gedreht hatte. Sie lag auf dem Bett, bereits vollständig angezogen. Sein Blick glitt zu dem Rollstuhl, der in der Ecke stand. Es war kein Normaler, wie man ihn fast täglich auf den Bürgersteigen New Yorks sehen konnte, sondern eine Spezialanfertigung. Bis auf ihren Kopf und beide Arme konnte Annabell zur Zeit kaum etwas bewegen, der Muskelabbau war zu gravierend gewesen.

Daher benötigte sie einen Rollstuhl, der ihren Körper besonders gut stützte. Es würden noch viele Monate ins Land gehen, und einiges an Therapie bedürfen, bevor sie auch nur daran denken konnte, sich einigermaßen selbstständig fortbewegen zu können.

»Guten Morgen, Jonathan«, entgegnete Annabell mit angestrengtem Lächeln, und ihrem Ton war anzuhören, dass ihr Morgen alles andere als gut gewesen war. Sie musste täglich Übungen machen, die ihren Muskelaufbau in die Gänge bringen sollten und diese ganzen Prozeduren waren enorm anstrengend für ihren Körper. Er wusste, dass sie oft Schmerzen litt und doch klagte sie nicht. Zwar hatte sie einen Perfusor bekommen, mit dem sie sich in kleinen Dosen selbst Schmerzmittel zuführen konnte, aber sie litt auch unter üblen Muskelkrämpfen.

Er lenkte seine Schritte zum Rollstuhl, löste die Bremse und schob ihn an ihr Bett. »Bereit für die Fahrt nach Hause?«, fragte er und biss sich im gleichen Moment auf die Lippe. Wie soll sie sich auf etwas freuen können, an das sie sich nicht erinnert, Volltrottel? Er spürte die Hitze in seine Wange steigen, murmelte ein »Sorry.« Dann machte er sich an ihrem Schrank zu schaffen, und nahm die Tasche heraus, die ihre wenigen Habseligkeiten enthielt. Sogar der Beutel mit den Thrombosespritzen, Magentabletten, Vitaminen und den Aufbaupräparaten, die sie zu sich nehmen musste, war voller.

»Ist ... mein Bruder draußen?«, fragte ihre leise Stimme in seinem Rücken. Er nickte langsam, holte noch einmal tief Luft und drehte sich dann zu Annabell um. »Ja. Er wartet im Flur. Bist du bereit, oder willst du lieber ... noch einen Moment warten?« Er sah sie fragend an. Sie zögerte, dann aber trat ein entschlossener Ausdruck auf ihr Gesicht. »Nein. Packen wir es an.« Dann entwich ihr ein kurzes, bitteres Lachen. »Oder besser ... du solltest es anpacken!«, fügte sie sarkastisch hinzu.

Er schob ihr einen Arm unter den Kniekehlen und den anderen unter ihrem Arm hindurch quer über den Rücken. Dann hob er sie hoch, setzte sie vorsichtig in den Rollstuhl hinein und verpackte sie sorgsam mit einer Decke, damit sie draußen nicht fror.

Der Stuhl besaß einen ausklappbaren Tisch, auf dem man Getränke, Zeitschriften und Ähnliches ablegen, und einen elektrischen Antrieb, den sie mittels eines kleinen Steuermoduls mit der Hand starten und steuern konnte.

Im Moment war Annabell mit dieser Art der Fortbewegung noch nicht besonders glücklich. Sie befand sich in einer Phase der Genesung, in der sie mit allem haderte. Sie ließ jede Art der Behandlung teilnahmslos über sich ergehen, starrte oft stundenlang nur aus dem Fenster und gab - wenn überhaupt - nur einsilbige Antworten. Jonathan nannte das die Leck mich am Arsch und lass mich einfach sterben - Phase. Er sah dieses Verhalten bei vielen Patienten, die nach schwerer Krankheit oder einem Unfall in eine Situation gerieten, in der sie auf ständige Hilfe von außen angewiesen waren. Aber aus eben jener Erfahrung heraus wusste er, dass bei den meisten irgendwann der Moment der Akzeptanz kam, und dann wurde es einfacher. Für alle.

»Na, dann wollen wir mal!«, murmelte er, löste die Bremse vom Rollstuhl und lenkte ihn nach draußen. Ihm war klar, dass jetzt der Augenblick kam, indem Michael zum ersten Mal das Ausmaß des Gesundheitszustand Annabells wirklich realisieren würde. Zwar wusste sein Boss, wie es um sie bestellt war, aber etwas zu wissen, und es dann zu sehen, war etwas ganz anderes. Das sollte ihm eigentlich nichts mehr ausmachen, er arbeitete in diesem Job seit fast 15 Jahren, doch Anna und ihr Bruder bildeten die Ausnahme. Er war jetzt seit über vier Jahren für die Thompsons tätig, und sein Verhältnis zu Michael war dem eines reinen Angestellten längst entwachsen.

Je näher sie ihm kamen, desto deutlicher konnte Jonathan die Erschütterung erkennen, welche Michael erfolglos versuchte zu verbergen. Er hatte seine Schwester immer nur liegend oder während den Bewegungstherapien gesehen. Und obwohl er selbst schon mehrfach probiert hatte, seinen Boss darauf vorzubereiten, schien die tatsächliche Einschränkung ihm ganz offensichtlich erst jetzt bewusst zu werden, bei ihrem Anblick im speziellen Rollstuhl.

Er schob Annabell an ihm vorbei und warf ihm einen bezeichnenden Blick zu, den dieser nach einem Moment der Verwirrung verstand und sich sichtlich zusammenriß. Gemeinsam verließen sie das Therapiezentrum und kamen nach kurzer Strecke auf dem Parkplatz an, wo das Auto bereitstand. Mit der Fernbedienung öffnete Michael den Wagen, die Seitentür verschob sich und die Rampe fuhr vollautomatisch heraus.

Jonathan schob Annabell hinein und arretierte den Rollstuhl in der dafür vorgesehenen Vorrichtung. Dann lächelte er ihr noch einmal aufmunternd zu, kletterte er wieder aus dem Auto und übernahm den Schlüssel von Michael. Er würde die Fahrt nach Hause übernehmen, damit die beiden die Zeit zusammen verbringen konnten.

»Ich möchte, dass Jonathan hinten bei mir sitzt.«

Annabell

Seit sie aufgewacht war, schwirrten Ärzte, Pfleger, Therapeuten um sie herum. Aber auch der Bruder, an den sie sich nicht erinnern konnte, saß immer wieder an ihrem Bett, sprach mit ihr, zeigte ihr Bilder.

Doch sie konnte sich einfach nicht erinnern. Alle Menschen um sie herum waren ihr fremd und doch war sie auf ihre Hilfe angewiesen. Sie verabscheute es.

Jeden Tag führten sie mit ihr Untersuchungen durch, bei denen ihr die Ärzte freudestrahlend mitteilten, dass bisher keine Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen und ein schneller Heilungsverlauf zu erwarten seien. Der Gedächtnisverlust würde ganz sicher auch noch weggehen und irgendwann könnte sie sich an die Vergangenheit und ihre Familie erinnern. Allerdings hielten sich die Ärzte mit der Prognose um die Erinnerung an den Unfallhergang sehr bedeckt.

Aber wollte sie das? Wollte sie sich wirklich erinnern? Als ihre Stimme wiederkam und sie fragte, was mit ihr passiert war, wich man ihr aus. Keiner, noch nicht einmal ihr Bruder, wollte ihr davon berichten. Man würde erst mit ihr darüber sprechen, wenn Erinnerungsfetzen zurückkamen, oder sie sich komplett erinnerte. Am Anfang hatte sie noch mit Wutausbrüchen reagiert, teilweise das Essen verweigert und doch war man der Meinung, dass eine Konfrontation mit den Geschehnissen nicht förderlich für ihre Genesung sein würde.

 

Sie alle machten ein großes Wettschweigen daraus und jeden Tag, den sie an das Bett gefesselt war und sich tiefer in ihre kleine Welt zurückzog, wollte sie weniger wissen, was ihr zugestoßen war. Mittlerweile war es ihr scheißegal. Sollten sie doch alle an dem Geheimnis ersticken.

Ärzte kamen und gingen. Und als sie nach der ersten Woche in ein Therapiezentrum für Langkomapatienten verlegt wurde, begann die Zeit, in der sie sich immer mehr wünschte, sie wäre nie aufgewacht, oder aber man möge ihr einfach ein Ende bereiten.

Mehrmals täglich wurde mit ihr trainiert um die Muskeln wiederaufzubauen, so meinten die Therapeuten, und bei diesen Sitzungen hätte sie am liebsten ihren Körper verlassen. Auch wenn sie nie jemandem zeigte, wie es in ihr aussah, so litt sie in diesen Stunden ganz besonders. Die Schmerzen, die bei jeder Bewegung durch ihren Körper jagten, waren kaum auszuhalten.

Aber sie war still, ließ es über sich ergehen und hoffte, dass der Tag kommen würde, an dem man ihr eine Spritze setzte und ihr den letzten Schuss gab.

Man verlangte von ihr, dass sie mitarbeitete - aber wofür? Wollte sie wirklich noch Monate herumliegen, nicht viel tun können und von fremden Menschen umgeben sein? Nein, keinesfalls und doch war sie nicht einmal in der Lage, all dem hier selbst ein Ende zu bereiten.

Die meisten ihrer Tage verbrachte sie damit stoisch aus dem Fenster zu schauen.

Und dann war da noch Jonathan. Wie sie von ihm erfuhr, hatte er sie die letzten vier Jahre gepflegt. Auch jetzt war er an ihrer Seite, machte Übungen und erzählte viel. Sie ließ ihn reden, antwortete nur einsilbig und ließ ansonsten seine Worte wie Regentropfen an sich abprallen. Trotzdem war er der Einzige, der es schaffte, sie wenigstens ab und zu aus dem Loch zu holen, obwohl er ihr Dinge erzählte, die ihr eigentlich nichts sagten und auch egal waren.

Ganz am Anfang, als ihre Stimme ihr wieder gehorchte, hatte sie darauf bestanden, dass er sie nicht mehr nackt sah. Es war ihr egal, ob er ihren Körper die letzten vier Jahre schon gesehen hatte, aber sie wollte jetzt, wo sie bei Bewusstsein war, nicht, dass er weiterhin Dinge tat, wo er mehr als nur die Arme oder Beine sah.

Nach fünf Wochen im Therapiezentrum, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, waren die Ärzte so zufrieden, dass sie nach Hause entlassen werden konnte. Nach Hause – welch ein Hohn. Sie wurde in die nächste fremde Umgebung gebracht, die sich aber nun ihr Zuhause nannte.

Als Jon sie vor einigen Tagen gefragt hatte, ob sie sich schon freue, hatte sie ihn, wie so oft davor, angelogen. Immer wenn er sie fragte, wie es ihr ging, log sie. So auch, ob sie sich auf ihr Zuhause freute.

Natürlich hatten ihr Michael und auch Jonathan bei den vielen Erzählungen von Thompsons Retreat erzählt. Von Emma, von Susan mit ihrer Tochter Cassandra und somit auch, dass sie Tante war. Bei dem Wort Tante stiegen kurz wie ein sanfter Flügelschlag Gefühle in ihr auf, aber dann waren sie auch schon wieder weg. Nicht greifbar für sie und nur Frustration blieb zurück.

Als Jonathan das Zimmer betrat, wand sie den Blick zu ihm.

»Der Shuttle-Service ist da!«, lächelte er sie an.

Ihr dagegen war überhaupt nicht zum Lächeln zumute und doch rang sie sich dazu durch, nicht ihre wahren Gefühle zu zeigen, und grüßte ihn, wie sie es immer tat.

Er holte den Rollstuhl, schlug die Decke zurück, um sie hochzuheben. Es war nicht das erste Mal, dass er sie auf die Arme nahm, es war aber das erste Mal, dass sie sich am liebsten ängstlich in sein Shirt gekrallt hätte. Ja, es ging nach Hause, aber für sie fühlte es sich an wie der Gang zum jüngsten Gericht.

Hilflos musste sie über sich ergehen lassen, dass ihr Körper so schwach war und ihr nicht gehorchte. Jonathan setzte sie in den ihr so verhassten Rollstuhl, achtete darauf, dass sie es auch gemütlich hatte, und schob sie dann aus dem Zimmer hinaus.

Sie erkannte sofort den geschockten Blick von Michael, der im Flur schon auf sie wartete. Sie ahnte, was sie für ein Bild abgab und der Wunsch, dem allem zu entfliehen, wurde übermächtig.

Auf dem Parkplatz wurde sie zu einem Van gebracht und Jonathan schob sie auf die Rampe, die er zuvor hatte herunterfahren lassen. Im Auto arretierte er ihren Rollstuhl und stieg dann mit einem Lächeln aus.

Panik kroch in ihr hoch, denn anscheinend sollte Michael die Fahrt über bei ihr sitzen. Doch der eigene Bruder war ihr fremder als ihr Pfleger und so fällte sie zum ersten Mal eine eigene Entscheidung: »Ich möchte, dass Jonathan hinten bei mir sitzt.«

Sie mied den Blick von Michael und sah stattdessen in das überraschte Gesicht von Jon, der sich aber schnell wieder fing. Auch er spielte ihr gegenüber eine Rolle, die er einnahm, um sie nicht noch weiter herunterzuziehen. Das hatte sie ganz schnell herausgefunden. Immer wenn er dachte, sie würde es nicht bemerken, enthielt sein Blick eine tiefe Traurigkeit, die ihr Herz berührte. Aber sie konnte ihm einfach nicht sagen, dass es nicht seine aufgesetzte Fröhlichkeit war, die zu ihr durchdrang, sondern sein wahres Gesicht, wenn er zeigte, wie es um sie stand.

Jonathan setzte sich neben sie und beide Männer erzählten ihr während der langen Fahrt etwas über das Anwesen, wer alles auf sie wartete. Doch sie schaute aus dem Fenster und blendete die Worte aus, denn die Angst kroch ihr schon wieder den Rücken hinauf.

***

Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weggedöst war, erst als sie sanft an der Hand berührt wurde, schreckte sie hoch.

»Wir sind jetzt gleich da, Annabell. Wir fahren soeben die Auffahrt zu Thompsons Retreat hoch«, klärte Jonathan sie mit ruhiger Stimme auf.

Als das Haus in Sichtweite kam, riss dessen Anblick sie aus ihrer Lethargie. Es war wirklich wunderschön und ein leicht vertrautes Gefühl stieg in ihr auf. Auch wenn sie es nicht benennen konnte, fühlte es sich tatsächlich an, als ob sie nach Hause kam.

Michael parkte direkt vorm Eingang, wo sie beim Herausfahren aus dem Auto einen Lift erkannte, den man für sie angebracht hatte. Denn Treppenstufen führten hinauf zur Eingangstür, die sich just in dem Moment öffnete.

Eine junge Frau mit einem Kind trat heraus und dahinter folgte eine ältere Frau, die mit einem Taschentuch ihre Augen betupfte.

Ihre Blicke trafen sich und obwohl Annabell die Frau nicht kannte, verließ ein einziges Wort ihren Mund: »Emma.«