Buch lesen: «Die Urgroßmutter»
Die Urgroßmutter
Hinter den Nebeln der Dezembertage nähern sich die Herzen des Weihnachtsfestes und die Lichter eines neuen Jahres.
Trotzdem oder vielleicht gerade darum nimmt vor allem in dieser Zeit Längstvergangenes wieder Gestalt an und Leben. Mehr als das, können Stunden lebendig werden, die wir niemals miterlebten. In dem flimmernden Heiligenschein dieses großen Geburtsfestes schwingt sich der ewige Kranz der Mütter, wie eine immergrüne Krone über der Eifrigkeit kleingroßer Tagespflicht.
Wie sonst wäre es möglich, daß gestern, zwischen den Flackerlämpchen des Wiener Weihnachtsmarktes um den Stephansdom, mir plötzlich meine Berliner Urgroßmutter, heiter-bedächtig und verschmitzt, zulächelte? Daß ich plötzlich die Knarren, Teufel, Trommeln und Trompeten des Berliner Weihnachtsmarktes knarren, schnarren, rasseln und blasen hörte, die einst auf dem Berliner Schloßplatz Fanfaren kindlicher Weihnachtsfreude gewesen?
Diese bunten Buden hier vor dem schönheitssingenden Gotteshaus der Musikstadt sind immer noch die gleichen, die immer beweglichen Bretter der Wanderschaft, der wohlseilen Sehnsucht, die von Markt zu Markt zieht, deren ewigschlagendes Herz aus Pfefferkuchen oder Schokolade, sich immer wieder süß erneut wie die Liebe selbst.
Gleiches Rot und Gold, beschneit mit Wattetupfen, gleißte hinter den weißen Wollschäfchen, den schwarzen Pelzteufelchen, den von Wachskerzen erleuchteten Pfefferkuchenhäusern, den Wundern aus Marzipan, als man in dem geheimnisvoll schönen Lärm vor dem Berliner Schloß tieferregt Weihnachtsvorfreude spürte an der Hand der Großmutter.
Jetzt aber erst begreift man, daß wiederum der Großmutter damals die eigene Kindheit wach wurde, wenn sie mit uns durch die Buntheit wanderte. Denn sie erzählte in jenem Geflimmer, Geschrei, Geknarr, Gelärm, der Anpreisung, des Gejubels Wünschender, Gefeilsche Kaufender stets lang und ausführlich von ihrer Mutter, unserer von uns nicht mehr gekannten Urgroßmutter Marianne.