Zauberer und Höllentore: Acht Fantasy Krimis

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Kapitel 12: Jarmila

Langsam erholten sich Brenda und Robert.

„Wir haben es wirklich geschafft“, sagte er. „Der Namenlose Magier ist besiegt!“ Er trat zu Brenda und half ihr auf. Ein mattes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie hatte zu viel Kraft eingebüßt, um sich richtig freuen zu können.

Die geflügelten Affen wirkten etwas desorientiert und verzogen sich auf die Wehrgänge. Misstrauisch beobachteten sie, was nun geschah.

Das zugemauerte Tor veränderte sich. Die Mauer barst und eine Öffnung von etwa einem Meter mal einem Meter entstand.

Dahinter war der Blick frei auf…

„Sieh nur!“, rief Brenda und streckte den Arm aus. „Die Couch, das Poster… Hey, das ist dein Zimmer!“ Sie fasste ihn bei der Hand und wollte ihn mit sich ziehen. „Robert, das ist die Escape-Funktion!“ Aber Roberts Gesicht wurde starr.

Er blieb stehen. „Etwas ist noch zu tun“, sagte er.

„Du wirst jetzt nicht hier bleiben, um dieser Hexe gegenüber ein Versprechen einzulösen, das ja wohl alles andere als freiwillig gegeben wurde!“

Doch Robert hörte sie gar nicht.

Er ging mit stieren Augen auf die Tür des Turms zu. Seine Schritte wirkten entschlossen. Brenda nahm alle ihre Kräfte zusammen und stellte sich ihm in den Weg.

„Nein, Robert!“

Aber sie spürte, dass er einer fremden Macht gehorchte und sie ihn nicht erreichen konnte.

Er packte sie grob und warf sie zu Boden. Funken sprühten dabei. Die magischen Kräfte, die Robert erfüllten, waren den ihren haushoch überlegen. Sich ihm in den Weg stellen zu wollen war sinnlos. Sie kauerte kraftlos am Boden und war ähnlich benommen wie nach der Attacke durch den Magier.

Robert streckte die Hand mit dem Zauberstab aus. Blitze fuhren in die Tür zum Turm. Sie wurde aus den Halterungen gerissen und über die Brustwehr in Richtung Meer geschleudert. Man hörte noch, wie sie an den Klippen zerschellte.

Dann betrat Robert das Innere des Turms.

Jarmila! Er war nicht fähig, irgendetwas anderes zu denken. Seltsamerweise wusste er, wo er hinzugehen und nach der Gefangen zu suchen hatte.

Schließlich hatte er die letzte Tür zu ihrem Gefängnis geöffnet. Sie war an die Wand gekettet – so wie er es im Hexenfeuer gesehen hatte.

Er streckte die Hand mit dem Zauberstab aus.

Instinktiv schien er zu wissen, was getan werden musste.

Es war so, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als mit magischen Energien zu jonglieren.

Ein Blitz zuckte aus dem Zauberstab heraus, teilte sich und traf jeweils die Eisenmanschetten, mit denen Jarmilas Handgelenke fixiert waren.

Die Ketten sprangen auf.

Robert senkte den Stab.

„Jarmila!“, stieß er hervor. „Du bist frei! Der Namenlose Magier existiert nicht mehr und es gib keinen Grund mehr, sich zu fürchten.“

Jarmila rieb sich einen Moment lang die Handgelenke. Sie war schön. Aber in ihren Augen glitzerte es kalt. Robert bemerkte davon jedoch nichts. Er starrte sie an, wie ein Weltwunder. Dass draußen die vielleicht einmalige Chance wartete, diese Welt verlassen zu können, hatte er fast vergessen.

„Du Narr!“, sagte Jarmila und ihre Stimme klirrte dabei wie Eis.

Sie trat an ihn heran. Er war völlig verzaubert von ihrer Gegenwart. Sie berührte ihn leicht an der Schläfe und Robert spürte, wie die Kraft, mit der ihn die Hexe ausgestattet hatte, verließ.

Jarmila lachte schallend.

Ihr Körper veränderte sich.

Für einen Moment nahm sie die Gestalt der Hexe an.

„Erkennst du mich nicht?“, fragte sie. „Wir sind uns begegnet – im Wald einer anderen Ebene!“ Ein irres Kichern kam aus ihrem lippenlosen Mund. Dann verwandelte sie sich abermals. Sie wurde zu jenem riesigen Schlangenwesen, das ihre wahre Gestalt sein musste.

„Deine Seele gehört jetzt mir. Und da du mir außerdem den Gefallen getan hast, den Namenlosen Magier zu töten, werde ich jetzt seine Stelle einnehmen. Lange habe ich auf diesen Moment gewartet.“

Das Schlangenmaul mit dem einen, Säure triefenden Giftzahn öffnete sich.

Robert stand unbeweglich da. Er war wie hypnotisiert und unfähig, sich zu bewegen.

In diesem Moment ertönte ein Knall.

Brenda stand an der Tür. Sie hatte sich mit letzter Kraft her geschleppt und die Pistole mit der geweihten Kugel abgefeuert.

Der Schuss traf den Kopf der Riesenschlange. Den Schutzschirm aus blitzender magischer Energie hatte dieses Projektil offenbar ohne Schwierigkeiten durchdringen können.

Noch ehe der Schlangenkörper zu Boden fiel, wurde er transparent und löste sich in nichts auf.

*

Ein Ruck ging durch Robert. „Was tue ich eigentlich hier?“, murmelte er.

„Ist das jetzt noch wichtig?“, fragte Brenda. Sie wirkte erleichtert und nahm in bei der Hand. „Komm. Ich weiß nicht, ob das Tor, durch das wir zurück können, überhaupt noch offen ist. Jedenfalls glaube ich nicht, dass wir diese Chance sehr lange haben werden.“ Robert nickte.

„Du hattest recht!“, sagte er. „Ich meine, was Jarmila und die Hexe betrifft.“

„Sie waren ein und dieselbe Person!“

„Ja.“

Sie verließen den Turm.

Draußen hatte sich die Witterung verändert. Über dem Meer waren düstere Wolkengebirge aufgezogen und die ersten Blitze schossen daraus hervor – untermalt von einem dunklen Donnergrollen.

Robert und Brenda erreichten das Loch im Tor.

Bevor sie hindurch gingen, zögerte Robert.

„Was ist noch?“

Er zog den Dolch und Rapier aus dem Gürtel und warf sie von sich. „Wir sollten zurücklassen, was hier her gehört.“ Die Pistole folgte.

Brenda nickte und tat es ihm gleich.

Dann stiegen sie durch das Loch. Es wurde ihnen beiden schwarz vor Augen. Ein Strudel aus Farben und Formen zog sie beide in sich hinein.

*

Wenig später fanden sie sich in Roberts Zimmer wieder.

GAME OVER stand auf dem Bildschirm. Und darunter die Frage: MÖCHTEST DU EINE ZWEITE RUNDE SPIELEN?

„Bestimmt nicht!“, gab Robert die Antwort, nachdem er einigermaßen begriffen hatte, dass er sich tatsächlich wieder in der Realität befand.

Brenda strahlte ihn an. Sie betastete sich selbst, ihre Arme, Beine und den Stuhl, auf dem sie saß, so als könnte sie es kaum fassen.

„Wir sind zurück!“ rief sie.

„Ja.“

Sie sprang auf. Robert war bereits aufgestanden und hatte den Datenträger aus dem Rechner genommen und in die Verpackung gelegt.

Im Überschwang umarmte sie ihn.

„Ich kann es noch gar nicht fassen!“

„Ich auch nicht“, gab er zu. „Es erscheint mir alles wie ein böser Alptraum.“ Er strich ihr sanft über das Haar.

„Aber etwas Gutes hatte die Sache schon.“

„So?“

„Wir haben gesehen, dass wir uns aufeinander verlassen können, Brenda.“

Sie nickte. „Ja, das stimmt.“

Er lächelte. „Eigentlich wollen wir ja lernen…“ Sie löste sich von ihm und sah auf die Uhr. Dann lächelte auch sie. „Das können wir auch immer noch! Sieh nur! Es ist eine Minute nach halb sechs!“

Robert stutzte, sah erst auf seine Armbanduhr, dann auf den Wecker, der ihn jeden Morgen aus dem Schlaf klingelte.

„Während unseres Aufenthaltes in der Hölle ist hier die Zeit stehen geblieben!“, stellte er fest.

Brenda lächelte. „Das erspart uns erstens ein paar lästige Fragen unserer Eltern danach, wo wir in den letzten Tagen waren und zweitens…“

Robert seufzte.

„Ich ahne es!“

„… haben wir tatsächlich noch eine realistische Chance deinen ganz persönlichen Endgegner zu bezwingen – und der heißt in diesem Fall Mathematik!“ Sie lachte. „Da sollst du mal sehen, dass du dich in der Realität auf mich verlassen kannst! Lass uns gleich anfangen!“

„Einen Moment!“, widersprach Robert. Er nahm das Spiel samt Verpackung in die Hand. „Was machen wir damit?“

„Vernichten würde ich sagen.“

Robert nickte. „Es ist allerdings fraglich, ob das was nützt… Es gibt so viele, denen der Gothic-Opa Kopien verkauft hat!“

„Aber du hast ihn besiegt!“, erinnerte sie ihn. „Und vielleicht stimmt es ja, dass alle Kopien dieses Spiels dieselbe magische Welt teilen.“

„Ich werde trotzdem die Augen offen halten, ob mir dieser Typ irgendwann noch einmal über den Weg läuft!“, versprach Robert. Er nahm die DVD aus der Packung und zerbrach sie.

ENDE

Seelenhunger
von Alfred Bekker

© by author

© der Digitalausgabe 2014 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich (Westf.)

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1

Der Kegel des Scheinwerfers erfasste Carlo Carisi, als er die Bühne der Metropolitan Opera in New York City betrat. Sein Gesicht war bleich wie bei einem Toten, der Mund wirkte wie ein dünner Strich. Die Augen waren blutunterlaufen und vermittelten den Eindruck tödlicher Erschöpfung.

An ein Skelett erinnernde Finger umklammerten den Hals der Violine und den Bogen. Sie zitterten so sehr, dass man kaum glauben konnte, dass dieser Mann im Stande war, auch nur einen einzigen sauberen Ton auf seinem Instrument hervorzubringen.

Das Publikum hielt den Atem an.

In diesem Augenblick hätte man in der Met buchstäblich eine fallende Stecknadel hören können.

 

Carlo Carisi, der vielleicht größte Violin-Virtuose aller Zeiten, war auf die Bühne zurückgekehrt. Jahre der Abstinenz lagen zwischen seinem letzten Auftritt und dem heutigen Tag. Dutzende von Kritikern saßen mit gespitzten Bleistiften im Publikum, um das Spiel Carisis zu verreißen. Die meisten von ihnen glaubten, dass der große Maestro seine besten Zeiten lange hinter sich hatte.

Einer lebenden Leiche gleich, zitternd und unsicher, schritt Carisi in die Mitte der Bühne, während sich der begleitende Pianist nun ebenfalls an seinen Platz setzte.

Der erste Ton drang klagend in die Kuppel des großen Saals hinein.

Carisis Gesicht verzog sich zu einer Maske.

Die blutunterlaufenen Augen flackerten und um die dünnen Lippen herum spielte ein Lächeln so kalt wie der Tod.

Mit einem Mal schien der dürre, mumienhaft wirkende, alte Mann auf der Bühne von neuem Leben erfüllt zu sein. Vielleicht war es nur ein Lichteffekt, der durch die Scheinwerfer hervorgerufen wurde, aber fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass die pergamentartig wirkende Haut seiner Wangen wieder etwas an Farbe und Geschmeidigkeit gewonnen hatte.

In seinen Augen blitzte es.

Neue Lebenskraft durchflutete ihn offenbar - eine Kraft, die er auf geheimnisvolle Weise direkt aus seinem Spiel zog. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit schnellten seine dürren Finger jetzt über die Seiten, griffen mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit zu und sorgten für eine perlende Tonkaskade nach der anderen.

Die Klavierbegleitung hielt sich im Hintergrund, spielte nur verhaltene, dumpf klingende Akkorde, die wie eine klanggewordene Drohung wirkten.

Minuten lang lauschte das Publikum in andächtiger Stille diesem Virtuosen, dessen Kunst nun wohl über jeden Zweifel erhaben war. Die im Vorhinein formulierten Verrisse würden sich in Lobeshymnen verwandeln.

Eine geradezu hypnotische Faszination ging von dem Spiel Carisis aus. Und er genoss diesen Auftritt sichtlich. Aber es war nicht allein sein Spiel, das die Zuschauer fesselte. Ein Blick in seine kalten grauen Augen wirkte geradezu verstörend. So viel Hass, so viel blanke Wut und so viel zynische Verachtung lagen in Carisis Blick... Fast konnte man glauben, ein heiseres, schauderhaftes Gelächter aus dem Hintergrund zu hören, dass sich mit den halsbrecherischen Tonkaskaden mischte. Tänzelnd und ohne jede Unsicherheit brachte der Bogen die Seiten zum Klingen.

Immer neue und ungewöhnlichere Tonfiguren reihten sich aneinander.

Der Virtuose spielte sich geradezu in einen rauschhaften Zustand hinein.

Er schloss die Augen.

Das teuflische Grinsen blieb, wurde breiter.

Das totenbleiche Weiß seines Gesichts verwandelte sich zusehends in einen rosigeren Farbton.

Als ob seine welke Haut von neuem Leben erfüllt wurde, je intensiver er sich seinem Spiel widmete.

Carisi wirkte wie in Trance.

Dann drang plötzlich ein krächzender Laut aus der ersten Reihe des Publikums.

Ein Mann in Abendgarderobe rutschte von seinem Stuhl.

Ein Raunen ging durch die Menge. Jemand eilte zu Hilfe, eine Frau rief: "Einen Arzt!"

"Ich bin Arzt“, antwortete ein breitschultriger, grauhaariger Mann mit dunklem Teint, der ein paar Reihen weiter hinten seinen Platz hatte.

"Kommen Sie!"

Unbeirrt fuhr der Virtuose mit seinem Spiel fort.

Seine Augen blieben geschlossen. Was beim Publikum geschah schien er nicht zu bemerken, so sehr hatte er sich in einen vollkommen entrückten Zustand hineingespielt.

"Mein Gott! Richard!“, rief eine Frauenstimme. "Er war doch noch nicht einmal vierzig und jetzt sieht er aus wie..."

"Er ist tot, Ma'am“, stellte der Arzt fest, der sich über den am Boden Liegenden gebeugt hatte.

Inzwischen war im Publikum ein derartiger Tumult ausgebrochen, dass die Töne des Virtuosen kaum noch durchdrangen.

"Meine Haare!“, schrie eine Männerstimme. "Sie sind ganz grau geworden!"

Eine Frau begann laut und durchdringend zu kreischen.

Aufgeregte Stimmen redeten durcheinander.

Die Menge geriet in Bewegung.

"Ich muss hier raus!“, schrie jemand in heller Panik. Ordner bemühten sich verzweifelt darum, die aufkommende Unruhe unter Kontrolle zu halten.

Ein Mann im Smoking ging auf die Bühne, trat ans Mikrofon und redete beschwörend auf die Menge ein.

"Bewahren Sie bitte Ruhe!“, rief er heiser.

Niemand hörte auf ihn.

Der Virtuose nahm indessen die Geige vom Hals. Sein Lächeln war breit, fast so als würde er sich spöttisch über das Geschehene amüsieren und leise in sich hineinkichern. Carisi atmete tief durch.

Ja, dachte er. Die Kraft, die alles Lebendige durchströmt und so verflucht kostbar ist... Sie ist wieder da!

2

Es gibt Tage, an denen nichts klappt - und dieser Abend in der Met gehörte ganz bestimmt dazu. Das allgemeine Chaos, das im Inneren des Operngebäudes ausgebrochen war, hatte mich mit hinaus ins Freie gespült und ich war froh, mit einigermaßen heiler Haut davongekommen zu sein. Nur mein Smoking war etwas ramponiert, weil irgend jemand unbedingt gemeint hatte, sich daran festhalten zu müssen.

Mein Wagen stand in einer Nebenstraße. Es war kalt und feiner Nieselregen ging nieder. Mein Mantel war noch in der Garderobe, aber ich hatte keine Lust, mir jetzt die halbe Nacht damit um die Ohren zu schlagen, mich dort in eine endlose Schlange einzureihen. Es reichte, wenn ich ihn mir in den nächsten Tagen wiederholte.

Ich schlug den ramponierten Kragen des Smokings hoch und vergrub die Hände in den Taschen.

Mein Wagen stand am Straßenrand

Ich hatte ihn noch nicht erreicht, da ließ ein Geräusch mich herumfahren.

Schnelle Schritte.

Eine junge Frau rannte in Panik auf mich zu. Ihrer Kleidung nach hatte sie ebenfalls zu jenem Publikum gehört, das Zeuge von Carlo Carisis Comeback hatte werden wollen, bevor eine Art Massenhysterie die Fortsetzung des Konzerts verhinderte.

Die junge Frau lief barfuß.

Die hochhackigen Schuhe hielt sie in den Händen. Das nussbraune Haar fiel ihr bis weit über die Schultern. Sie drehte sich immer wieder keuchend um, blickte zurück zu ihren Verfolgern, die jetzt um die Ecke kamen.

Es waren vier Personen.

Sie schienen sich ihrer Sache ganz sicher zu sein, jedenfalls legten sie nicht die geringste Eile an den Tag. Als die Verfolger in das flackernde Licht traten, das von der Neonreklame einer Boutique verbreitet wurde, sah ich ihre Gesichter.

Unwillkürlich erfasste mich kalter Schauder.

Wie Totenschädel, durchfuhr es mich.

Die Gesichter der Verfolger hatten etwas Mumienhaftes an sich. Die Haut wirkte wie Pergament. Bleich und faltig spannte sie sich über die Knochen. Die Augen waren starr und...

...tot!, dachte ich sofort, obwohl das natürlich absurd war. Erst jetzt sah ich, dass auch eine Frau unter den Verfolgern war. Ihrer Kleidung nach bestand die Verfolgergruppe ebenfalls aus Personen, die gerade einen Opernbesuch hinter sich hatten. Die Frau trug ein Abendkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, die Männer trugen Smoking.

Wie gebannt starrte ich ihnen entgegen.

Die junge Frau hatte mich inzwischen erreicht. Sie blieb stehen, rang nach Luft. Das lange Abendkleid behinderte sie ziemlich beim Laufen.

Sie wandte sich noch einmal kurz zurück, sah den Verfolgern entgegen, die ihr mit seltsam mechanischen Bewegungen folgten.

Wie Marionetten, dachte ich.

Oder wie Zombies...

Du hast zu viele miese Filme gesehen!, schalt ich mich gleich darauf einen Narren.

"Sie sind in Schwierigkeiten, Ma'am?“, fragte ich.

Sie antwortete nicht.

Panik leuchtete in den Augen der jungen Frau auf. Sie starrte an mir vorbei die Straße entlang. Auch von dort näherten sich jetzt einige schattenhafte Gestalten. Nur als dunkle Umrisse waren sie erkennbar, aber die marionettenartige Art und Weise ihrer Bewegungen sprach für sich.

Die junge Frau deutete auf meinen Wagen.

"Ist das Ihrer?"

"Ja."

"Nehmen Sie mich mit! Bitte!"

"Von mir aus..."

"Schnell! Sonst ist es zu spät!"

Ihre Stimme vibrierte. Sie zitterte halb vor Kälte, halb vor Furcht. Ich schloss ihr die Beifahrertür des Chryslers auf, sie stieg ein. Ich umrundete die Motorhaube, blieb kurz stehen und warf noch einen Blick auf die Verfolger, die sich von allen Seiten näherten.

Dann stieg ich ebenfalls ein und setzte mich ans Steuer.

"Was haben Sie für einen Ärger mit denen?“, fragte ich.

"Nun machen Sie schon!“, schrie sie mich an.

"Sicher - ich weiß nur ganz gerne, worauf ich mich einlasse!"

Ich startete den Wagen, lenkte ihn nach links auf die Fahrbahn.

Die bleichen Schattengestalten postierten sich mitten auf der Straße.

Ich fuhr hupend auf sie zu. Das beeindruckte sie allerdings nicht im mindesten.

"Fahren Sie einfach! So fahren Sie doch!“, rief die Frau, außer sich vor Furcht.

"Sind Sie wahnsinnig?"

Ich bremste. Mochte die junge Frau neben mir auch noch sehr in Not sein - ich hatte nicht die Absicht, einen kaltblütigen Mord für sie zu begehen. Schon gar nicht, so lange ich nicht wusste, worum es überhaupt ging und wer im Recht war.

Die Reifen quietschten.

Der Chrysler rutschte ein Stück über den feuchten Asphalt und blieb nur wenige Meter von den Schattengestalten entfernt stehen.

"Es wäre wirklich nett, wenn Sie mir ein blasse Ahnung davon geben würden, was hier eigentlich gespielt wird", raunte ich meiner Beifahrerin zu. "Wer weiß, vielleicht sind die da draußen im Recht und suchen Sie, um Sie dem Gesetz zuzuführen!"

"Sehen die vielleicht wie Cops aus?“, rief sie. "Die werden Sie und mich umbringen!"

"Das werden wir sehen", sagte ich und griff unter mein Jackett, wo eine großkalibrige Automatik im Holster steckte.

Die junge Frau sah mich mit großen Augen an.

"Ich bin Privatdetektiv", erklärte ich ihr.

"Stecken Sie das Ding weg! Sie werden damit nichts ausrichten!"

"Ach - aber ich hätte diese Leute einfach überfahren sollen, ja?"

Ich öffnete die Tür, die Waffe im Anschlag.

"Gehen Sie aus dem Weg!“, rief ich.

Kehlige, beinahe tierische Laute drangen mir entgegen. Die bleichen Schattengestalten näherten sich weiter. Sie waren völlig unbeeindruckt!

"Stehen bleiben!", rief ich noch einmal. Aber ich dachte nicht im Ernst daran zu schießen. Nicht auf Unbewaffnete - und das waren diese Männer und Frauen offenbar.

"Mit Ihrer Waffe können Sie nichts ausrichten!“, rief die junge Frau vom Beifahrersitz. "Kommen Sie in den Wagen zurück..."

Da hatte die erste dieser zombiehaften Gestalten mich erreicht. Ich blickte in ein aschgraues, faltiges Gesicht, eine mumienhafte Fratze des Todes... Eisige Schauder überkamen mich und ich begann zu ahnen, dass meine Gegenüber kaum noch etwas Menschliches an sich hatten...

Dürre Finger - kaum mehr als von pergamentartiger Haut überspannte Knochen - packten mich mit einer Kraft, die ich ihnen niemals zugetraut hatte. Ein heftiger Stoß erfasste mich, schleuderte mich einige Meter weiter. Hart kam ich auf den Asphalt, rollte mich ab und versuchte so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen.

Eine geradezu unmenschliche Kraft hatte in den dürren Armen meines Gegenübers gesteckt.

Die junge Frau schrie.

Glas klirrte.

Einer der Zombies hatte mit einem einfachen Faustschlag die Scheibe der Beifahrertür zerschlagen. Die junge Frau wehrte sich verzweifelt, während sich Knochenhände würgend um ihren Hals legten. Ich hob die Automatik und feuerte. Mein Schuss fegte dicht über das Dach des Chryslers hinüber und traf den Würger an der Schulter. Die Wucht, mit der das Projektil durch seinen Smoking hindurchfetzte, riss ihn zurück.

Sein totenbleiches Gesicht wirkte irritiert. Die leeren Augen suchten nach mir. Ihre Farbe veränderte sich. Sie wurden glühend rot. Ein grunzender Laut kam über die aufgesprungenen, blutleeren Lippen. Ein wütendes Brüllen, kein Schmerzenslaut.

 

Mit den Händen betastete er die Stelle, an der er getroffen worden war. Die Wunde blutete nicht. Und sie schien den Mann auch nicht weiter zu beeinträchtigen.

Das geisterhafte Leuchten in seinen Augen begann zu pulsieren. Die junge Frau öffnete die Tür, knallte sie mit voller Wucht gegen den Leib des Würgers, der erneut nach ihr greifen wollte. Ehe er das tun konnte, verpasste ich ihm einen weiteren Schuss in den Oberkörper, der ihn etwa einen Meter zurücktaumeln ließ. Schwankend stand er da, während die junge Frau um ihr Leben rannte.

Auch wenn ihre Verfolger über eine geradezu unheimliche Kraft verfügten, so waren ihre Bewegungsabläufe doch verhältnismäßig langsam.

Die Frau wich einem der Zombies geschickt aus, dann erreichte sie mich.

"Hatte ich es Ihnen nicht gesagt?“, keuchte sie.

Mir fiel der in Silber gefasste dunkelrote Stein auf, den sie um den Hals trug. Für einen Moment glaubte ich, darin ein Schimmern erkennen zu können. Ein Schimmern, das mich an das gespenstische Leuchten in den Augen jenes mumienhaften Würgers erinnerte, den ich angeschossen hatte.

Aber das war vielleicht auch Einbildung...

"Vorsicht!“, rief sie.

Ich wirbelte herum, sah gerade noch eine bleiche Hand auf mich zukommen. Vor mir erhob sich eine massige Gestalt, mindestens anderthalb Köpfe größer als ich. Der Mann, der sich jetzt auf mich stürzte, wirkte ebenso mumienhaft wie die anderen Verfolger. Auch in seinen Augen blitzte es kurz dunkelrot auf.

Ich wich zurück, während mein Gegenüber einen wütenden Laut ausstieß.

Ich feuerte zweimal hintereinander.

Die Gestalt wankte zurück.

Das totenbleiche Gesicht verzog sich ungläubig.

"Dort hin!“, rief unterdessen die junge Frau. Wir rannten zwischen den Reihen der sich marionettenhaft und fast wie in Zeitlupe bewegenden Verfolger hindurch.

Sie drehten sich zu uns um, änderten ihre Bewegungsrichtung, waren aber nicht schnell genug. Wütende, brüllende Laute drangen durch die Nacht. Wir rannten auf eine Nische zwischen zwei Häusern zu.

Ein schmaler Weg führte dort her. Hier herrschte beinahe völlige Dunkelheit. Sekundenlang konnte ich kaum etwas sehen. Dann erreichten wir einen Innenhof. Der Zugang zur Hauptstraße war durch eine etwa zwei Meter hohe Mauer versperrt.

Aber es war die einzige Möglichkeit, diesen Innenhof zu verlassen, wollten wir nicht unseren Verfolgern direkt in die Arme laufen.

Die junge Frau hatte offenbar denselben Gedanken. Als wir die Mauer erreichten, half ich ihr hinauf. Das Abendkleid behinderte sie.

Es riss.

Sie schaffte es, sich hinaufzuziehen und auf der anderen Seite hinunterzuspringen. Ich folgte ihr nur Augenblicke später.

Sie atmete tief durch und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Wir standen auf dem Bürgersteig einer dicht befahrenen Geschäftsstraße. Es war fast taghell hier. Die Scheinwerfer der Autos sorgten dafür genauso wie die flackernden Leuchtreklamen der Geschäfte. Nur der Himmel war grauschwarz.

Ich sah die Frau mit den nussbraunen Haaren fragend an. Sie umfasste den Stein, den sie an einer silberfarbenen Kette um den Hals trug.

Sie schluckte, musterte mich dann mit einem schwer zu deutenden Blick.

"Das war knapp", stellte ich fest.

Sie nickte nur.

Besorgt drehte sie sich zu der Mauer um, die wir gerade überwunden hatten. "Gehen wir", murmelte sie. "Hier sind wir noch nicht in Sicherheit..."

"Vielleicht erklären Sie mir mal, worum es hier eigentlich geht", sagte ich.

Ihre dunklen Augen musterten mich einige Sekunden lang prüfend.

Ein mattes Lächeln flog über ihr Gesicht. "Ich kann Sie verstehen..."

"Ach, wirklich? Ich schieße auf jemanden, ehe er Sie umbringt, treffe auch und muss feststellen, dass mein Gegner offenbar eine kugelsichere Weste trägt..."

"Nicht hier!“, unterbrach sie mich. "Kommen Sie!"

Am Straßenrand hielt ein Taxi, aus dem gerade jemand ausstieg.

"Warten Sie!“, rief meine Begleiterin dem Fahrer zu, der uns beide zunächst einmal misstrauisch musterte. Bei dem ramponierten Aufzug konnte ich ihn verstehen.

"Wir haben das nötige Geld dabei!“, versuchte ich ihn zu beruhigen.